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Reportage

Zu Besuch in Orbáns Kaderschmiede

Eine „neue, patriotische Elite“ – so lautet das Ziel des Mathias Corvinus Collegiums in Budapest. Das Bildungsinstitut verfügt über ein Milliardenvermögen, das großteils aus der ungarischen Staatskasse geflossen ist. Vergangenen Herbst expandiert die Stiftung nach Brüssel, um Orbáns rechtskonservative Agenda auf EU­-Ebene voranzutreiben

Mitten in Újbuda, dem bevölkerungs­ reichsten Bezirk Budapests, ragt ein Plattenbau der 1980er­Jahre in den Himmel. Der Block ist ein graues Re­likt des kommunistischen Regimes – einer Zeit, die in Ungarn erst 33 Jahre zurückliegt. In kras­ sem Kontrast erstreckt sich hinter der gläsernen Flügeltür ein modernes Café, an dessen Tischen Studierende sitzen. Aus den Lautsprechern säu­ selt moderne US­Chartmusik, eine junge Frau in Jeans bestelt sich einen veganen Cappuccino. „Konservatismus ist eher ein Instinkt als eine Idee“, prangt in englischer Sprache auf einer Wand. Es ist ein Zitat des britischen Philosophen Roger Scruton, einer Ikone der Konservativen. Nach ihm ist das Café benannt. Denn die meisten Menschen, die hier lehren und lernen, teilen sei­ne Werte.

Das Mathias Corvinus Collegium, kurz MCC, ist mehr als ein Wohnheim. Die „talentiertesten“ Studierenden des Landes können hier neben günstigen Zimmern auch Zusatzkurse in Wirt­ schaft, Leadership, Recht und mehr besuchen. International anerkannte Abschlüsse gibt es nicht. Dafür knüpfen die Studierenden ein ex­ klusives Netzwerk mit der rechtskonservativen Elite von Viktor Orbáns „illiberaler Demokratie“. Ein direkter Konnex zu Viktor Orbán wird de­ mentiert – die indirekten Stränge aber sind kaum übersehbar. So ist Balázs Orbán, der zwar nicht mit dem Ministerpräsidenten verwandt, aber immerhin dessen politischer Direktor ist, der Vorsitzende der MCC­Trägerstiftung. Die Stiftung hat von der Orbán­Regierung per Parla­ mentsbeschluss bisher knapp 1,7 Milliarden Euro erhalten – zur Ausbildung einer „neuen, patrio­tischen Elite“.

GEISTLICHE ALS EXPERTEN
Im Café stehen ringsherum Bücherregale. Dort stapeln sich Titel wie „Klimapanik“ des kontro­ versen Autors Björn Lomborg, „Adieu Mademoi­ selle – Die Fehler des Feminismus“ der Katholi­ kin Eugenié Bastié und „Befreien wir unsere Kinder aus dem Gender­Kult“ der US­Republika­ nerin Maria Keffler. Titel, die das MCC seit 2011 in einem eigenen Verlag auf Ungarisch heraus­ gibt. Ein junger Mann in dunklem Sakko schmö­ kert in „Die Geburt der europäischen Kultur“.
Kurz vor fünf Uhr verwandelt sich das Café in ein Diskussionspodium. „Seelsorge für Elite­ schüler – Mission impossible?“, lautet der Titel der Veranstaltung dieses Freitagnachmittags. Bis es Punkt schlägt, sammeln sich rund 30 junge Menschen vor dem Hörerpult. Geladen ist ein evangelischer Priester, der an einem christlichen „Elite“­Gymnasium in Budapest unterrichtet. Einer Schule, an der „kluge, leistungsstarke Kin­ der aus guten Familien“ zu finden seien. „In der Bibel steht die Schöpfungsgeschichte“, sagt der Moderator. „Der Biologielehrer unterrichtet die Evolutionstheorie. Gibt es Konflikte?“ Der Pfar­ rer überlegt kurz. „Nein, unsere Sichtweisen kreuzen sich nicht“, antwortet er. „Psychologen, so auch Schulpsychologen, geben an, mit der menschlichen Seele zu arbeiten“, fragt der Mo­ derator später. „Ist das eine Gefahr für die tradi­ tionelle Seelsorge?“ Der Pfarrer überlegt wieder kurz, bevor er antwortet. „Ich finde es gefährlich, dass kirchliche Seelsorger psychologische Fort­ bildungen machen – in der Hoffnung, dass ihnen dies bei ihrer seelsorgerischen Tätigkeit helfen könnte. Ich befürchte, dass dadurch die Bot­ schaft Gottes zu kurz kommt.“
Dass an einem „Bildungsinstitut“ die christ­ liche Seelsorge über psychologische Methoden gestellt wird, findet Krisztián Erdei keineswegs seltsam. Er ist der Pressesprecher des MCC. „Das Christentum ist Teil unseres Wertefundaments“, sagt er. „In Ungarn spielt Religion eine besondere Rolle, weil sie im Kommunismus verboten war.“ Dabei zeigt er auf ein Kreuz, das über den gläser­ nen Eingangstüren montiert ist.

STAATSGELDER AN PARTEINAHE STIFTUNG
Im Jahr 2020 profitiert das MCC von einer schwindelerregenden Finanzspritze. Der Staat überschreibt der privaten Stiftung per Parla­ mentsbeschluss umfangreiche Liegenschaften und Anteile an Top­Unternehmen, dazu zählen je zehn Prozent am Erdöl­ und Gaskonzern MOL und am führenden ungarischen Pharmaunter­ nehmen Gedeon Richter. Diese Vermögenswerte waren umgerechnet rund 1,4 Milliarden Euro wert. Eine Summe, die höher als das Jahresbud­ get aller 27 öffentlichen Hochschulen Ungarns zusammen ist. Laut unabhängigen ungarischen Medien kamen bis Ende 2022 rund 1,7 Milliarden Euro an Stiftungskapital für das MCC zusam­ men. Eine Menge, die rund einem Prozent des ungarischen BIP entspricht. Aus Brüssel hagelt es Kritik. Dass Staatsvermögen in einen privaten Fundus verschoben wird, bemängelt die EU­Kommision in ihrem Bericht über die Rechts­ staatlichkeit 2021 als intransparent. Im Dezem­ ber 2022 erreicht Orbáns Streit mit der EU einen neuen Höhepunkt: Brüssel sperrt erstmals Gel­ der für Ungarn. Der Vorwurf: Orbán würde EU­Fördermittel intransparent verwenden, oder sogar zweckentfremden.

UNGARNS "KULTURKAMPF" GEGEN DIE EU
„Es ist kein Geheimnis. Das MCC arbeitet eng mit der Fidesz­Partei zusammen“, sagt Gergely Budai bei einer Tasse Mokka im Café Scruton. Der 19­Jährige studiert Wirtschaft und lebt am Budapester Campus des MCC. Den Vortrag des evangelischen Priesters hat der junge Mann im karrierten Hemd interessiert mitverfolgt, ob­ wohl er sich als Atheist bezeichnet. Auch, dass konservative und rechtsorienterte Speaker die Gästelisten dominieren, könne er nicht leugnen. „Aber wir Studiernden werden in keine ideologi­ sche Richtung gedrängt“, sagt Gergely Budai. Er selbst sehe sich eher nicht als konservativ. Dass verschiedene Positionen diskutiert werden dür­ fen, finde er aber wichtig. „Wir hören ein breite­res Meinungsspektrum als der europäische Mainstream“, sagt er.
Was Budai damit meint, macht der Stiftungs­ vorsitzende Balázs Orbán auf der „National Con­ servatism Conference“ im März 2022 deutlich. Bei der Veranstaltung, als deren Sponsor das MCC auftritt, protestiert Balázs Orbán gegen Massenmigration und liberale Familienpolitik. „Wir werden unsere Kinder durch ein Referen­ dum vor der LGBTQ­Propaganda schützen“, ver­ kündet er. Bei einer neuerlichen „NatCon“ Ende September wettert Balázs Orbán gegen EU­Insti­ tutionen, die „das Überleben der europäischen Zivilisation bedrohen“ würden. Sein in Ungarn angedachter „neuer“ Mainstream ist ein Mei­ nungsspektrum, in dem Diskriminierung noch erlaubt ist. Eine öffentliche Arena, der die „linke Cancel Culture“ noch keine Fessel umgelegt hat.
„Das MCC treibt den Kulturkampf der Fi­ desz­Regierung gegen Liberalismus und Demo­ kratie voran“, sagt der ungarische Politikanalyst Bulcsú Hunyadi, der zu den Aktivitäten des Instituts forscht. Bei öffentlichen Veranstaltun­ gen seien häufig die Narrative der Regierungs­ partei zu hören. „Das Problem dabei: Diese Events werden von ehemals öffentlichen Gel­ dern finanziert. Wir haben in Ungarn keinen öf­fentlichen, demokratischen Diskurs mehr. Das MCC verzerrt die Debatte noch weiter.“

EIN SCHWERES HISTORISCHES ERBE
Neben Gergely Budai nimmt im Café Scruton eine zweite MCC­Studentin Platz, die 19­jährige Enikö Verse. „Ich bin stolz auf mein Land und auf unsere Kultur“, sagt sie. „Die Geschichte Un­ garns ist eine der Unterdrückung. Wir mussten immer für unsere Freiheit kämpfen und haben einen starken Sinn für Unabhängigkeit.“
Enikö beschreibt das nationale Grundgefühl, bei dem Orbáns Rhetorik quer durch alle Alters­ schichten anknüpfen kann: dass Ungarn einmal groß und frei war, dann aber laufend von fremden Mächten unterjocht wurde. Der Friedensvertrag von Trianon, bei dem das Königreich Ungarn im Jahr 1920 zwei Drittel seines Territoriums an Nachbarstaaten verlor, ist noch mehr als 100 Jah­ re später höchst präsent. Wer in Budapest durch Souvenirshops spaziert, entdeckt überall das Mo­ tiv „Großungarns“, dessen Karte jährlich auf Tau­ sende T­Shirts, Taschen und Kappen gedruckt wird. „Die Osmanen, die Habsburger, die Nazis wollten uns vorschreiben, mit wem wir zu leben haben und mit wem nicht“, sagte Viktor Orbán kürzlich in einem Interview. „Heute will uns die deutsche Linke über das EU­Parlament vorschrei­ ben, wie wir leben und denken sollen.“
Damit spinnt der Ministerpräsident das Op­fer­Narrativ Ungarns in eine Richtung weiter, mit der die beiden Studenten nicht ganz einver­ standen sind. „Die EU ist eine notwendige und wichtige Organisation im heutigen Europa“, sagt Gergely Budai. Überspitzte Aussagen des Minis­ terpräsidenten nimmt er nicht immer wörtlich. Aber als sich Viktor Orbán letzten Sommer bei einer Rede an Transsylvaniens Ungarischstäm­ mige gegen „rassische Vermischung“ ausspricht, ist für Budai eine rote Linie überschritten. „Ich selbst gehöre der Roma­Minderheit an“, sagt er. „Solchen Aussagen verurteile ich.“ Anlass, das MCC zu verlassen, sei das für ihn aber nie gewe­ sen. Trotz der indirekten Nahverhältnisse zur Fidesz­Partei sehe er keinen direkten Konnex, sagt er. Und: „Dafür sind die Chancen, die ich hier bekomme, einfach zu gut.“

PATRIOTISMUS VERSUS GLOBALISIERUNG
Minister, Staatssekretäre, Geschäftsleute: Die führenden Persönlichkeiten von Orbáns Ungarn gehen am MCC ein und aus. Nur die „besten Stu­ denten Ungarns“ bekommen hier einen Platz – und somit die Möglichkeit, schon früh ein Netz­ werk im rechten Milieu zu knüpfen. „Am MCC wird die zukünftige politische Elite des Landes ausgebildet“, sagt Politikanalyst Bulcsú Hunyadi. „Sie betten die talentiertesten Köpfe direkt in ein regierungsnahes Netzwerk ein.“
„Spezialkollegs“ mit einer gewissen Politisie­ rungsfunktion haben in Ungarn Tradition. In den 80er­Jahren waren sie besonders für die Anti­ kommunistische Opposition wichtig. Nicht zu­ letzt fand die Geburtsstunde der heutigen Regie­ rungspartei Fidesz in einem solchen Wohnheim, dem Budapester Bibó­Kolleg, statt. Der damalige Kommilitonenkreis rund um Viktor Orbán, einst Jurastudent mit langen Haaren, bildet den har­ ten Kern der heutigen Regierung. Das MCC wur­ de 1996 vom Fidesz­nahen Geschäftsmann Ist­ ván Tombor gegründet. Nach Ende des Realsozi­ alismus wurden in Ungarn eine Reihe „patrioti­ scher“ Kultureinrichtungen gegründet, als vermeintliches Gegengewicht zur Globalisie­ rung. Inzwischen ist das MCC in 35 europäischen Städten vertreten, viele davon in angrenzenden Ländern mit ungarischen Minderheiten.
„Neben der Elitenbildung hat das MCC eine wichtige Zusatzmission“, betont der Experte Bulcsu Hunyadi. „Die lautet: ein internationales, rechtskonservatives Netzwerk knüpfen.“

AUF KUSCHELKURS MIT TRUMPS USA
Der Plan geht auf: Orbáns selbstdeklarierte „illi­ berale Demokratie“ ist heute weltweites Vorbild für Konservative. Ein wichtiger Pfeiler in Un­ garns inernationalem Netzwerk sind Amerikas Trump­Sympathisanten. „Den Mut, im Kultur­ kampf aufzustehen und dem Irrsinn der Wokies in den Weg zu treten“ – das, so findet der US­Au­ tor Rod Dreher, könnten die Konservativen über­
all auf der Welt von Viktor Orbán lernen. Ron De Santis, Gouverneur von Florida und möglicher nächster Präsidentschaftskandidat der US­Repu­ blikaner, lässt sich von Orbáns Sexualkunde­Ge­ setzgebung aus dem Jahr 2021 zum „Don’t say gay“­Gesetz inspirieren: ein Verbot, in Grund­ schulklassen über sexuelle Orientierung oder Geschlechteridentität zu sprechen.
Im Sommer 2021 spricht der amerikanische Fox­News­Moderator und Verschwörungstheore­ tiker Tucker Carlson bei einem Open­Air­Festival des MCC. Den Stacheldrahtzaun, den Ungarn an der serbischen Grenze gegen illegale Migration errichtet hat, lobte er in seinen TV­Sendungen als vorbildlich. Auf der Bühne zitiert Carlson höh­ nisch einen Orbán­kritischen Artikel aus der US­Presse: die Regierung sei korrupt, Wahlen seien manipuliert, die Medien gleichgeschaltet. „Das kommt mir bekannt vor!“, ruft Carlson. „Ich lebe in diesem Land, es sind die USA!“ Das Publi­ kum jubelt, es wehen Ungarn­ und US­Flaggen.
„Viele der MCC­Speaker haben radikale An­ sichten“, sagt Bulcsú Hunyadi dazu. Wenn nam­ hafte ausländische Gäste dieselben Meinungen verbreiten, legitimiere das die Positionen des MCC und der ungarischen Regierung. „Promi­ nente US­Amerikaner wie Carlson und Dreher fliegen nach Hause und schwärmen. Dabei igno­ rieren sie, dass Ungarn keine funktionierende Demokratie mehr ist.“

STRÄNGE IN FÜHRENDE EU-LÄNDER
Das MCC pflegt auch innerhalb Europas ein en­ ges Beziehungsgeflecht. Einige Stockwerke über dem Café Scruton liegen die Büroräumlichkeiten von Bence Bauer, dem Direktor des Deutsch­Un­ garischen Instituts am Collegium. In seinem Ar­ beitszimmer steht ein kleiner Altar mit einem Stück Maschendrahtzaun aus dem eisernen Vor­ hang, darin eine Dornenkrone. In einer Vitrine stehen gerahmte Porträts von Helmut Kohl und Konrad Adenauer – dem Namensgeber der CDU­nahen Stiftung, bei der Bence Bauer über zehn Jahre tätig war. Dass das MCC eine „rechte Fidesz­Institution“ sei, dementiert er. „Wir ha­ ben keine parteipolitische Bindung“, sagt Bauer. „Aber wir haben ein solides bürgerliches Werte­ fundament.“
Von Einseitigkeit will der Direktor nichts hö­ ren. Dass Balázs Orbán als politischer Direktor der Fidesz­Regierung eine klare Positionierung habe, sei nicht problematisch. „Wenn in der Kon­ rad­Adenauer­Stiftung Frau Merkel eine Rede hält, spricht niemand von Propaganda“, bemerkt Bauer spitz. Für seinen Geschmack sei die Euro­ papolitik zu westlich geprägt. Von Ländern, die keinen Kommunismus, keine Diktaturerfahrung gehabt hätten. Budapest werde in der EU für sei­ nen anderen Zugang konsequent missverstan­ den – das Land lebe Werte, die im Westen verlo­ ren gegangen seien. Einen Satz betont er immer wieder: „Ungarn ist das Land der zehn Millionen Freiheitskämpfer.“

DIE FESTUNG BRÜSSEL
Seit Oktober 2022 gibt es auch in der belgischen Hauptstadt ein MCC. Eine Agora für Diskussi­ onsrunden und Netzwerke im rechtskonservati­ ven Rahmen, mitten im Herzen der liberalen EU. Das Hauptziel des Brüsseler Kollegiums ist es, „eine alternative Erzählung zur EU­Blase anzu­ bieten“, sagt der Institutsdirektor Frank Fürdedi. Denn die sei seiner Meinung nach „sehr konfor­ mistisch.“ Das MCC Brüssel gelobe, „die europä­ ische Debatte aufzurütteln“ und besteht trotz der Geldflüsse aus ehemaligen Staatsanleihen darauf, unabhängig zu sein.
„Viktor Orbáns hat sich in den letzten Jahren innerhalb der EU isoliert“, sagt Politikexperte Bulcsu Hunyadi. „Die Mission des MCC Brüssel ist es, das zu ändern.“ Seit dem Austritt Ungarns aus der europäischen Volkspartei EPP bastle Vik­ tor Orbán an einer neuen Rechtsfraktion im EU­Parlament. Von Brüssel aus exportiere das neue MCC den ungarischen Kulturkampf gegen liberale Werte in die gesamte EU. „Jetzt, vor den Europawahlen 2024, ist das besonders wichtig. Mehr Stimmen für Europas Rechtspopulisten schaffen für Ungarn ein EU­Klima, das Orbáns antidemokratischem Kurs weniger feindlich ge­ sinnt ist.“