Eine junge Afghanin flieht mit ihrer Familie vor den Taliban nach Deutschland. Ihre Eltern sind überfordert, sie wird zum Familienoberhaupt – und trägt eine schwere Last.
Manchmal reicht ein einziger Tag, um ein Leben in ein Davor und ein Danach zu teilen. Für Krishma Nazemi war es der 20. Juli 2015.
Vor diesem Tag führt sie das Leben einer jungen Afghanin der Mittelschicht: Sie wohnt in einem Haus in den Bergen um Kabul, am Wochenende geht sie mit der Mutter shoppen, mittags trifft sie Kolleginnen zum Essen. Sie hat eine Ausbildung zur Hebamme gemacht, dann aber einen gut bezahlten Job an der Rezeption der amerikanischen Behörde für Entwicklungszusammenarbeit angenommen. Denn Nazemi hat einen Traum: mit einem Visum in die USA gehen, um Medizin zu studieren.
Heute, drei Jahre später, ist dieser Traum in weite Ferne gerückt. Ihre Tage sind lang, aber für ihre eigenen Pläne ist kein Platz mehr darin: Morgens um sechs Uhr klingelt ihr Wecker, sie stellt Milch und Marmeladenbrote auf den Tisch, weckt die Familie; dann begleitet sie die Mutter zum Arzt oder den Vater zu Behörden; nachmittags kontrolliert sie die Schulaufgaben der Brüder. Krishma Nazemi* ist 22 Jahre alt und zum Oberhaupt einer Familie im Exil geworden. Weil sie als Einzige in der neuen Heimat zurechtkommt, in Deutschland.
"Unser Leben in Kabul war gut", sagt Nazemi mit ihrer hellen Stimme. "Und dann dauerte es einen Tag und alles war verloren."
Sie sagt das in Zeiten, in denen die deutsche Botschaft in Kabul schließen muss, weil es dort zu gefährlich ist – und trotzdem mehr Afghanen abgeschoben werden denn je. Zeiten auch, in denen es mitunter heißt, Afghanen könnten sich in Deutschland schwer integrieren, zu fremd sei ihre Kultur. Die Geschichte von Krishma Nazemi widerspricht dem.
Ihr Leben im Danach spielt am östlichen Rand Berlins, in einem trostlosen Betonbau, der früher ein Senioren- und heute ein Asylbewerberheim ist. Wer Nazemi besuchen will, muss den Security-Mitarbeitern seinen Ausweis zeigen und sie anrufen.
Dann kommt sie im Lift heruntergefahren: eine kleine Frau im schwarzen Kleid, mit offenem Haar, wachem Blick und einem Lächeln. Schnellen Schrittes führt sie durch trostlose graue Gänge, öffnet eine der vielen identischen Türen; ein Papierschild klebt daran: "Familie Nazemi, Personenzahl: 8".
Es ist März 2018, seit fünf Monaten lebt die Familie hier: sie, ihre Mutter, ihr Vater, fünf Brüder, der jüngste sechs, der älteste 17 Jahre alt. Sie ist das einzige Mädchen. Drei Zimmer haben sie. In einem schlafen die Eltern, im anderen die Brüder, im dritten sie. Ihr Zimmer ist Schlaf- und Wohnzimmer in einem; das beste Zimmer, wie sie sagt: das, in dem der Fernseher steht.
Viel zu gefährlich
Als die Familie hier ankam, gab es nicht viel: Betten, einen Schrank, einen Tisch mit vier Stühlen. Den Rest haben sie sich selbst besorgt, das meiste gebraucht, Kühlschrank, Gläser, später einen Teppich und den Fernseher.
Nazemi setzt sich an den großen Tisch; Mutter und Vater setzen sich auf zwei Stühle dahinter. Er: ein in sich gekehrter Mann, 61, akkurat frisiert, schwarzes Hemd und Hose. Sie: eine stämmige Frau von 42 Jahren mit blondiertem Haar. Beide lächeln kurz, reichen einen Teller mit Obst, bleiben stumm. In den nächsten zwei Stunden, in denen ihre Tochter die Familiengeschichte erzählt, sagen sie kein Wort.
In ihrer Heimat Kabul führte der Vater einen Tabakladen im Zentrum der Stadt, er stand dort morgens bis abends. Außer an jenem 20. Juli 2015, erzählt Krishma Nazemi. Es ist Eid al-Fitr, das Fest des Fastenbrechens nach dem Ramadan, eine Zeit, in der man traditionell Familienmitglieder besucht. Weil auch die Familie Nazemi Verwandte erwartet, bleibt der Vater zu Hause, sein ältester Sohn Payman arbeitet stattdessen allein im Geschäft.
Am frühen Nachmittag sind die Straßen wegen des Feiertags leer, als ein junger Mann den Laden betritt; er ist wenige Tage zuvor in die Wohnung über dem Geschäft gezogen. Ein Nachbar habe ihn an diesem Tag beobachtet und es später der Familie berichtet, sagt Nazemi. Er habe gesehen, wie der Mann eine Pistole zieht und schießt, dann flieht. Ihr Bruder stirbt auf der Fahrt ins Krankenhaus.
Beim Durchsuchen der Wohnung findet die Polizei den Pass des Mannes. Aber sie unternimmt nichts. Warum, weiß Nazemi bis heute nicht. Also ergreift sie selbst die Initiative. Macht Kopien des Passes, verteilt sie in der Stadt, hält sie in Fernsehkameras: "Wir suchen diesen Mann." Ein Fehler, wie sie bald merkt.
Dann kauern sie selbst in Schlauchbooten
Als kurz darauf das Telefon des Vaters klingelt, ist ein Mann am Apparat. "Wir haben deine Tochter im Fernsehen gesehen", habe er gesagt. "Das ist gut. Jetzt wissen wir, wie sie aussieht. Denn eigentlich wollten wir sie." Nazemis Arbeit für die Amerikaner hat die Familie zur Zielscheibe für die Taliban gemacht.
Ein paar Monate später kommt sie von der Arbeit, es ist gegen acht Uhr, die Familie wartet schon. Die Straße ist stockfinster, ein Stromausfall. Nazemi will die Tür aufschließen, da ruft sie ein Nachbar zu sich. In der Nachbarschaft schlichen Männer mit Waffen umher, sagt er, die nach ihnen suchten. Die Familie beschließt, sofort zu fliehen. Nazemi hastet in ihr Zimmer, schnappt ihr Geld, ihre Papiere. Wenige Minuten braucht die Familie zum Packen, dann stürmt sie aus dem Haus. Ab da sind sie auf der Flucht.
Wenn sie vor jenem Tag im afghanischen Fernsehen Flüchtlinge in wackligen Booten sahen, schüttelten alle Familienmitglieder den Kopf: Das würden sie nie tun, dachten sie, viel zu gefährlich. Doch jetzt kauern sie selbst in Schlauchbooten, waten durch Flüsse, zwängen sich unter die Sitzbänke von Zügen. Krishma Nazemi rückt dabei vom Rand der Familie ins Zentrum, weil sie als Einzige Englisch spricht.
"Ich wollte den Tod meines Bruders vergessen"
In Afghanistan, sagt sie, bestand ihre Welt aus ihrer Arbeit und der Familie. Dann kam die Flucht: die Polizei, die Lager, die Angst in den Augen flüchtender Menschen; das habe sie stärker gemacht. Sie sagt auch: "Ich wollte den Tod meines Bruders unbedingt vergessen." Also packt sie überall mit an.
In Griechenland, in einem Lager, richtet sie ein Zelt nur für Frauen vor der Entbindung ein.
In Serbien sieht sie, wie Security-Mitarbeiter einen alten Mann schlagen, geht dazwischen. "Macht doch", habe sie gerufen, als die Männer die Hand auch gegen sie erheben. "Ich will sehen, wie ihr eine Frau schlagt."
In Ungarn landet die Familie in einem geschlossenen Lager. Hockt zwei Monate in einer Zelle; man legt ihnen Handschellen an, wenn man sie zum Arzt führt.
Noch im Lager beschließt Nazemi, es sei besser, sich zu trennen. Acht Menschen auf der Flucht sind zu auffällig. Sie teilt die Familie in zwei Gruppen; schickt erst die Mutter mit drei Brüdern los, folgt eine Woche später mit ihrem Vater und den anderen Brüdern in einem anderen Zug. Sie ist wie die meisten Afghaninnen und Afghanen in einer patriarchalischen Familie aufgewachsen. Doch ab diesem Punkt wird sie zum Oberhaupt, das die Entscheidungen trifft.
Sie ist es bis heute geblieben. An einem Freitag Ende Mai 2018 läuft Krishma Nazemi mit ihrer Mutter durch Berlin-Wilmersdorf, vor sich schiebt sie einen Kinderwagen: Ihr jüngster Bruder schläft darin, gerade einen Monat alt. Er heißt, wie der älteste hieß: Payman.
Die Wochen nach der Geburt waren hektisch. Sie waren bei Ärzten und beim Einwohnermeldeamt. An diesem Tag müssen sie zum Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, um Payman anzumelden.
Die Meldestelle ist in einer großen Halle untergebracht: Marmorboden, holzvertäfelte Wände, Stuhlreihen wie auf einem Flughafen. Gemurmel liegt in der Luft, Kinderstimmen. Etwa hundert Menschen warten hier, viele Familien.
Krishma Nazemi tritt an einen der Schalter, zieht Dokumente aus einer Plastikfolie, schiebt sie dem Bearbeiter zu.
"Sind Sie die Mutter?", fragt der Mann.
Sie lächelt.
"Nein."
Man kann ihn verstehen: Nazemi schiebt den Kinderwagen, nimmt Payman immer mal wieder heraus, rückt sein T-Shirt zurecht. Nur wenn er quengelt, reicht sie ihn der Mutter, die dann ein Tuch ausbreitet und ihn stillt.
"Wir haben unter uns diesen Running Gag", sagt sie: "Wir sind beide Paymans Mutter. Aber nur meine Mutter gibt die Milch."
"Du bist schuld"
Dass es Payman überhaupt gibt, ist nicht selbstverständlich. Die Familie sitzt im Lager in Ungarn, als die Mutter merkt, dass sie schwanger ist. Sie fühlt sich überfordert, will abtreiben – aber der Arzt weigert sich.
Als sie Wochen später in einem deutschen Behandlungszimmer sitzt, ist sie bereits im vierten Monat. Zu spät für eine Abtreibung. Sie ist fertig mit den Nerven.
Ihre Tochter muntert sie auf. Wenn es ein Junge wird, sagt sie, können wir ihn Payman nennen. "Dann sind wir endlich wieder komplett." Es ist der Moment, in dem Krishma Nazemi auch zum emotionalen Anker der Familie wird. Sie ist jetzt diejenige, die den Trost spendet.
Der Tod des ersten Sohnes, die Flucht – sie haben ihre Eltern stumm gemacht. Beide sind in psychologischer Behandlung, schlucken Pillen, um zu schlafen. Den Vater habe es besonders schwer erwischt, erzählt sie bei einem Treffen, immer wieder fange er aus dem Nichts an zu weinen.
Einmal – noch während der Flucht – bricht es aus ihm heraus: "Du bist schuld", schreit er seine Tochter an. "Die Taliban wollten dich. Ohne dich wäre unser Sohn noch am Leben." Dann bricht er unter Tränen zusammen.
Sie wirkt seltsam gefasst, wenn sie darüber spricht. Sie könne ihre Eltern verstehen, sagt Nazemi, schließlich sei ihnen alles genommen worden. Auch deshalb versuche sie, immer stark vor ihnen zu sein. "Ohne mich wären sie verloren."
Lange hat sie ihre Sorgen für sich behalten, konnte nachts nicht schlafen. Ein Psychiater verschrieb ihr Schlaftabletten, aber die, sagt sie, hätten sie tagsüber träge gemacht. Also hat sie sie abgesetzt.
Wenn es heute zu viel wird, sie allein sein will, geht sie ins Kino oder fährt in den Treptower Park; schaut aufs Wasser, stundenlang.
An einem drückend heißen Julitag steht Nazemi vor dem Eingang ihres Heims und wippt ungeduldig mit den Füßen. Sie, die sonst so erwachsen und ernst wirkt, sieht in ihrem schwarzen Jogginganzug plötzlich aus wie ein Teenager. Auf Instagram postet sie Bilder, für die sie sich aufwendig schminkt; auf Facebook teilt sie Rezepte für Gerichte aus aller Welt. Das ist ihre Flucht aus dem Alltag. Das und das Fahrradfahren. Sie wirft einen Blick auf ihr Rad, dann auf die vier der Brüder. Schon geht es los.
Sie radeln an Wiesen vorbei, über Gleise auf eine Schotterpiste in einen Park. Nazemi prescht vorne weg, reißt den Lenker nach rechts, brettert über die Wiese.
Es ist das Erste, das sie sich in Deutschland besorgt: ein altes Klapprad, sie mietet es für 20 Euro. Als es geklaut wird, kauft sie sich ein eigenes, gebraucht, für 45 Euro. Ohne Fahrrad? Geht nicht.
"Wenn man etwas nicht darf", sagt sie, "dann will man es erst recht." Dann erzählt sie von damals, von Afghanistan. Von dem Nebenjob, den sie während ihrer Schulzeit hatte: von Apotheke zu Apotheke ziehen, um den Betreibern Medikamente zu verkaufen. Sie ist das einzige Mädchen; und während ihre Kollegen zu den Filialen radeln, stapft sie auf Kabuls brüchigen Straßen durch den Staub. Frauen, die Fahrrad fahren, kennt sie nur aus dem Fernsehen. Es wird ihr Symbol für Freiheit.
"Auch meine Zeit wird kommen"
Überhaupt, die Freiheit, sie begegnet ihr in Deutschland auf Schritt und Tritt. Und manchmal irritiert sie sie. Männer mit Nasenringen; Paare, die sich auf der Straße küssen; Frauen und Männer, die zusammen Bus fahren. In Afghanistan, sagt Nazemi, leben die Geschlechter wie getrennt. Sie passt sich an: Das Kopftuch, in Afghanistan Pflicht, hat sie schon in Ungarn abgelegt.
Ihre Mutter hat kein Problem damit. Mehr noch: Sie hat es ihr gleichgetan. Sie stammt aus einem traditionellen Elternhaus, wurde mit 13 verheiratet. "Ich habe keine Kindheit gehabt", sagt sie; ihrer Tochter sollte es deshalb immer besser gehen als ihr.
Mit dem Vater ist es schwieriger, besonders jetzt, wo er kaum noch spricht. Wie er das findet: eine Tochter zu haben, die kein Kopftuch trägt, nicht verheiratet ist? Krishma Nazemi weiß es nicht. Heiraten, das kann sie sich schon vorstellen, aber eilig habe sie es nicht.
Freunde in ihrem Alter hat sie noch nicht gefunden. Mit anderen afghanischen Flüchtlingen sei es mitunter schwer, vor allem mit jungen Männern, die könnten oft nicht ohne Hintergedanken mit Frauen befreundet sein. Am engsten ist sie mit zwei Mitarbeiterinnen des Heims. Ihre beste Freundin aber ist weit weg: Mira aus Serbien; die beiden haben sich auf der Flucht kennengelernt, skypen fast täglich.
Wichtiger als neue Freunde zu finden, ist ihr aber der Beruf. Sie möchte wieder als Hebamme arbeiten, kümmert sich schon jetzt um schwangere Frauen im Heim. Später will sie vielleicht doch noch Medizin studieren. "Mein Traum", sagt sie. Sie sagt das oft.
Dazu muss sie allerdings mehrere Deutschkurse absolvieren. Doch weil Afghanen schlechte Bleibeperspektiven haben, bleiben ihnen – anders als etwa Syrern – während des Asylverfahrens Integrationskurse verwehrt. Für professionelle Kurse fehlt Nazemi das Geld, es bleiben nur kostenfreie Angebote. Aber die, sagt sie, seien oft sehr unstrukturiert.
Also stellt sie ihre Zukunft hintenan. Kümmert sich weiter um die Familie. Mit der Mutter übt sie Deutsch, die möchte einmal einen Schönheitssalon eröffnen. Den Vater bereitet sie auf sein erstes Vorstellungsgespräch vor. Eine Stelle als Gärtner, nächste Woche ist es so weit. Sie hat die Bewerbung geschrieben. Wird ihn auch zum Termin begleiten.
"Auch meine Zeit wird kommen", sagt sie.