Eine steile Eisentreppe führt in die Tiefe. Das Geländer vibriert. Mit jeder Stufe wird es dunkler und stickiger. Schweiß rinnt aus allen Poren. Die Pupillen weiten sich langsam, irren umher. Auf der Suche nach Halt. Nach Konturen, die nur schemenhaft wahrnehmbar sind. Plötzlich reflektieren zwei weiße Augäpfel das spärliche Licht. Eine dunkle Silhouette, schweißgebadet, nähert sich mit nacktem Oberkörper. Die Luft riecht nach Öl und Eisen. Es ist der Maschinenraum tief unten im Bauch der alten Dame Liemba. Wo ihr Herz schlägt. Das Reich von Chefingenieur Mathias Joseph.
Ein Dampfschiff, das sich auseinandernehmen und andernorts wieder zusammensetzen lässt. So lautete der Auftrag, den die Papenburger Meyer Werft im Dezember 1912 von der Deutsch-Ostafrikanischen Eisenbahngesellschaft erhielt. Keine elf Monate später stand das Schiff auf der Helling. Zusammengeschraubt, nicht genietet. Nach der technischen Abnahme wurde es wieder in Einzelteile zerlegt, in 5 000 Holzkisten verpackt und nach Kigoma im damaligen Deutsch-Ostafrika transportiert. Dort sollte die Goetzen, benannt nach Gustav Adolf Graf von Götzen, Entdecker des Kiwusees und ehemaliger Gouverneur der Kolonie, der deutschen Präsenz am Tanganjikasee Ansehen und Stärke verleihen.
Versenkt – und geborgen
Was sie auch tat, allerdings nur für kurze Zeit. Nach ihrer Jungfernfahrt im Juni 1915 ins damalige Bismarckburg, das heutige Kasanga, verging nur ein Jahr, bis die deutschen Stellungen in Kigoma geräumt werden mussten. Die Goetzen wurde kurzerhand versenkt, um nicht in Feindeshand zu geraten. Ein zunächst erfolgreicher Schachzug, denn selbst ein Hebungsversuch der Belgier nach Kriegsende scheiterte kläglich. Erst den Briten gelang das komplizierte Unterfangen. Nach zwei Jahren Bergungsarbeiten und insgesamt acht Jahren unter Wasser tauchte die Goetzen am 16.3.1924 in erstaunlich gutem Zustand wieder auf.
Seitdem pendelt die 1927 nach dem südlichen Teil des Tanganjikasees benannte Liemba als Passagier- und Frachtschiff zwischen Kigoma im Norden und Mpulungu am sambischen Südufer des Tanganjikasees. Auf der etwa 500 Kilometer langen Strecke fährt sie derzeit 16 Haltepunkte an, darunter viele Dörfer, die lediglich aus einer Ansammlung von Lehmhütten bestehen. „Wir brauchen das Schiff, da es vielerorts keine befahrbaren Straßen gibt“, erklärt Abdul, der sieben Jahre in Südafrika lebte und mit Tanzanite handelte, einem weißen Stein, der in der Nähe von Arusha gefördert wird. „Jetzt verkaufe ich Seife und pendle regelmäßig zwischen Kirando und Kigoma – wie andere auch“, ergänzt er und zeigt auf Jakob, der Ananas und Trockenfisch vertreibt. Man kenne sich, ebenso wie etliche der mitreisenden Familien, die Verwandte besuchen oder ihren Geschäften nachgehen. Darunter ist der 29-jährige Kongolese Anderson Nkwayu aus Lubumbashi. Seine Kindheit und Jugend waren geprägt von Bürgerkriegen und Flüchtlingslagern. Heute spricht er fünf Sprachen und arbeitet als Rechtsanwalt für die Lake Tanganyika Floating Health Clinic.
Weltenbummler an Bord
Für die mitreisenden Wazungu, auf Kiswahili die Bezeichnung für Fremde oder Weiße, gleicht die Fahrt mit der Liemba einem Abenteuer, der Erfüllung eines Traums. Man trifft Filmteams aus aller Welt, Pärchen auf Hochzeitsreise, Weltenbummler, sogar Verrückte, die mit dem Fahrrad quer durch Afrika strampeln.
Sie alle eint die Hoffnung, dass die alte Dame noch recht lange auf Kurs bleibt. Denn schon einmal schienen ihre Tage gezählt. Zunehmend störanfällig, konnte sie Anfang der Siebzigerjahre keinen zuverlässigen Fahrbetrieb mehr gewährleisten und stand kurz vor der Verschrottung. Zu dieser Zeit kam der pensionierte irische Schiffsingenieur Patrick Dougherty nach Kigoma. Fasziniert von der Geschichte des Schiffs, gelang es ihm, den damaligen Staatspräsidenten Nyerere von der Erhaltung der Liemba zu überzeugen und Kapital für ihre Instandsetzung zu besorgen.
Unermüdliche Motoren
Zurück im Schiffsbauch der Liemba. „Ka…ri…buuu!“, zu Deutsch „Willkommen!“, brüllt Chefingenieur Mathias, selbst Ohrenschützer tragend, gegen das Getöse der Maschinen an. Angesichts der Besucher hat er sich schnell ein Hemd übergeworfen und führt in die Steuerwarte, wo es etwas ruhiger ist. Ein kleiner Raum mit Schaltschränken, Tisch und Stuhl nebst Blick in den Maschinenraum.
Links zwei Generatoren, Messtafeln und Uhren, jede Menge Rohre, aus denen es nicht selten tropft. Rechts eine Werkbank mit Werkzeugen und Schraubstock. In der Mitte des Raums zwei Maschinenblöcke, Fünfzylinder-Dieselmotoren der Marke MAN B&W Alpha. Massiv, mächtig, metallisch blau leuchtend, unermüdlich stampfend. Das Herz der fast 100-Jährigen. Ein kräftiges Doppelherz, das seit 1993 unermüdlich schlägt. „Laufen gut. Probleme nur ganz selten“, schreit Mathias in gebrochenem Englisch und ergänzt: „Eigentlich bin ich schon pensioniert.“ Der Schiffsbetreiber, die tansanische Marine Services Company Ltd., habe ihn zurückgeholt, weil er den barocken Organismus des Schiffs wie kein anderer kenne. Von seiner Warte aus schaltet und waltet er nun wieder und führt eine Truppe von neun Männern, deren Arbeitsalltag von Hitze und Lärm geprägt ist. Jenseits von Tageslicht. Tief im Rumpf des Schiffs. Nichts für Feingeister.
Wie auch die Fahrt mit der Liemba selbst. Mangels passabler Hafenanlagen ankert das Schiff meist Hunderte Meter vom Ufer entfernt. Bei Wind und Wetter, bei Tag oder Nacht. Sobald das Schiffshorn ertönt, setzt sich eine Armada aus einheimischen Zubringern mit bunten Holzkähnen in Bewegung. Am Ruder ackern muskulöse Männer gegen Strömung und Wellengang, um Reisende aus dem Dorf und der nahen Umgebung zum Schiff zu bringen und sich damit ein bescheidenes Zubrot zum Lebensunterhalt zu verdienen. Ziel der Regatta ist ein günstiger Platz an der Schiffsluke, möglichst in vorderster Reihe, um nicht nur die zahlenden Passagiere effizient zu entladen, sondern zugleich viele neue Fahrgäste vom Schiff an Land transportieren zu können. Entsprechend wehrhaft werden lukrative Positionen notfalls mit dem Paddel verteidigt, während ungeduldige Insassen unerschrocken von einer schwankenden Nussschale zur nächsten klettern. Einige entern das Schiff sogar über die Außenwand. Mit viel Geschrei, Gerangel und Gepäck, versteht sich. Mit Strohsäcken, Stoffbeuteln, Rollkoffern, Hühnern und Babys.
Eine Kabine ist Luxus
Bis zu 200 Tonnen Fracht und 600 Passagiere finden Platz an Bord. Die meisten von ihnen im Unter- oder Zwischendeck. Zusammengedrängt auf sperrigen Holzbänken oder bloßen Schiffsplanken. Zwischen allerlei Händlern, die Ananas, Kekse, Zahnpasta, Seife oder Flipflops feilbieten. Nur wenige können sich eine Kabine leisten, geschweige denn die erste Klasse des Oberdecks, wo man auf luftigen fünf Quadratmetern residiert. Mit Doppelstockbett, Tisch, Stuhl, Waschbecken, Schrank und Fenster. Umgeben vom Charme einer Jugendherberge vor 30 Jahren. Fürs leibliche Wohl sorgt eine Handvoll Köche, die in der winzigen Kombüse ganztägig im Akkord kochen. Fisch, Huhn oder Rind. Dazu Chips, Reis oder Ugali, eine Art Maisbrei. Gegessen wird in der Kantine, hier liebevoll Bordrestaurant genannt, an Holztischen mit Blümchentischdecken. Unter den Augen von Staatspräsident Jakaya Kikwete, dessen Bild über der Durchreiche hängt. Für den Durst gibt es eine Bar, wo das Bier niemals ausgeht und immer eiskalt ist, zur Ablenkung einen Bildschirm, über den stundenlang Musikvideos flimmern. Ein Luxusschiff ist die Liemba nicht. Touristischen Schnickschnack sucht man vergebens. Auf der Liemba reist, wer keine Alternative hat oder ein Stück echtes Afrika erleben will. Jenseits von Safaris und Palmenstränden.
Oder auch, wer an Bord Arbeit gefunden hat. Insgesamt 33 Männer zählt die Besatzung. Darunter Alex, der seit fünf Jahren hinter dem Tresen steht. Ronaldo, einst Kellner, nun zum Matrosen befördert. Steward Cedrik und Ingenieur Mike, die beide in Daressalam studieren und auf der Liemba ihr Praktikum machen. Nicht zuletzt Kapitän Titus Benjamin Mnyanyi, der seinen Ersten Offizier Mande Mangabi Mwambila ablösen muss und daher zum Plaudern auf die Brücke lädt. 48 Jahre alt ist er. Verheiratet. Drei Kinder. Zwei Mädchen und ein Junge, der auch einmal Kapitän werden will. Wie Vater Titus, der nun schon seit 15 Jahren auf der Liemba fährt, zehn davon als Kapitän.
Pannen gibt es nicht
„Starke Maschinen“, lobt er die MAN-Motoren. Keine Pannen, Havarien oder gar Unfälle. Nur mit den Ersatzteilen müsse manchmal improvisiert werden. Die seien teuer und schwer zu bekommen, erläutert er. Zudem sei der Dieselverbrauch der fast 20 Jahre alten Motoren relativ hoch. 12 500 Liter werden für die Strecke von Kigoma nach Mpulungu und zurück benötigt. Eine echte Herausforderung für den wirtschaftlichen Betrieb eines Schiffs, das, wenn überhaupt, im Frachtgeschäft Geld verdient. Tonnenweise Mais, Trockenfisch, Zement, Holzkohle. Selbst Maschendrahtzaun und Möbel finden Platz im Frachtbereich. Auf dieser Fahrt ist er bis zum Anschlag vollgepackt. Das Verladen hat sich vielerorts stundenlang hingezogen. Mit fast anderthalb Tagen Verspätung wird die Liemba ihren Heimathafen Kigoma erreichen.
Technisches Kulturgut
Auf die Frage, ob er einen Wunsch habe, antwortet Kapitän Titus, dass er sich über einen Besuch der MAN-Leute freuen würde – damit sie sehen, wie gut die Motoren noch immer laufen. Und natürlich würde er gern selbst noch viele Jahre auf der Liemba fahren. Eine Generalüberholung sei dringend erforderlich. Dafür setzen sich auch in Deutschland diverse politische Institutionen, Unternehmen und private Initiativen ein. Denn die Liemba soll erhalten bleiben. Als historisch-technisches Kulturgut. Als Aushängeschild deutsch-tansanischer Zusammenarbeit, für „Made in Germany“ schlechthin. Nicht zuletzt jedoch als lokales Verkehrsmittel – und zwar für Einheimische und Touristen gleichermaßen.
Auf
dass die alte Dame Liemba auch weiterhin über den See stampfen möge.
Stoisch und kraftvoll. Stunde um Stunde. Unter kundiger Führung von
Kapitän Titus und seinem Chefingenieur Mathias.
Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)
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