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Ostsee: Ruden und Oie

Ostsee, Foto: Rolf G. Wackenberg

Im Vergleich zu Usedom und Rügen sind die beiden Inselchen Ruden und Oie an der Ostseeküste Mecklenburg-Vorpommerns winzig und unbedeutend. Doch genau das macht ihren Reiz aus.

Keine Besuchermassen, keine Schickeria gibt es, nur Wald, Wiesen, Wanderwege - und die Möglichkeit, das Werden und Vergehen eines Naturerbes zu erleben. Die Reise dorthin beginnt in Peenemünde auf Usedom. Von dort legt das Post- und Versorgungsschiff "MS Seeadler" ab.

Kapitän Frank steuert durch den Peenestrom, vorbei am Peenemünder Haken, dem nördlichsten Teil von Usedom. Nach exakt 45 Minuten erreicht das Schiff das erste Eiland, den Ruden.


Lediglich abends läuft ein Generator

Ursula Toth hat nun eine Stunde Zeit, den Besuchern ihre Insel zu zeigen. Sie und ihr Mann leben hier seit 2003 als Naturschutzwart und Hafenmeister im Auftrag der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Ganz allein. Und ohne Strom- und Wasseranschluss. Lediglich abends wird stundenweise ein Generator angeschaltet.

Die Vorräte lagern im Keller. Säckeweise Kartoffeln, Mehl, haltbares Obst und Gemüse, eingeweckte Fleisch- und Wurstwaren. Man weiß ja nie. Schon gar nicht im Winter, wenn die See zugefroren ist. Da muss man ausharren können, im Zweifel mehrere Wochen.

Und das auf einer Fläche von gerade einmal zwei Kilometer Länge und knapp 400 Meter Breite. Wobei mehr als ein Kilometer des südlichen Bereichs der ehemalige Lotseninsel so schmal ins Meer hineinragt, dass er nicht mehr betreten werden kann.


Es scheint, als stünde die Zeit still

So bleibt dem Besucher ein überschaubares Areal für einen Spaziergang entlang der Hafenmauer, durch krüpplige Wälder und verschlafene Wiesen. Vorbei geht es an dem roten Backsteinhaus des Inselpaares und an Ruinen, an denen selbst die Zeit aufgehört hat zu nagen, weil sie mit der Natur verwachsen sind wie ein Fossil.

Es scheint, als stünde die Zeit still. Aber das tut sie keineswegs. "Früher soll es eine Landverbindung nach Rügen gegeben haben, die von der Allerheiligenflut 1304 weggeschwemmt wurde", sagt Ursula Toth und ergänzt: "Früher wurde die Insel von Dänen und Schweden als Zollstation genutzt."

Früher, zu jener Zeit im 17. Jahrhundert, habe die Fläche der Insel das Dreifache betragen. Viele Sätze von Ursula Toth beginnen mit dem Wort "früher". Das wichtigste Ziel heute ist die Bewahrung von Vergangenheit und Zukunft.


Lebensraum für Karmingimpel und Tataren-Lattich

Davon erzählt ein Museum, das der ausgediente Beobachtungsturm von Wehrmacht und Volksarmee beherbergt. Um die Zukunft der Insel zu sichern, schützt ein Ringdamm den Norden und ein Betongerippe den Süden der Insel vor der drohenden Abspülung.

Der Ruden selbst ist ein Naturschutzgebiet, das seltene Tier- und Pflanzenarten wie dem Karmingimpel und dem Tataren-Lattich Lebensraum bietet. Entsprechend umfangreich ist das Regelwerk: Wege dürfen nicht verlassen werden. Es herrscht Rauchverbot, Notdurftverbot, Badeverbot.

Und just beim Lesen des Verhaltenskodex ankert zehn Meter vor dem Strand ein Motorboot mit rüstigen Rentnern. Kollektiv reißen sie sich die Kleider vom Leib und springen ins Meer. Denn vor der Insel ist Baden schließlich nicht verboten.


Technisch-historisches Denkmal

Mit der "Seeadler" geht es Richtung Heimathafen. Peenemünde versteht sich selbst nicht nur als Ausgangspunkt maritimer Expeditionen, sondern auch als technisch-historisches Denkmal.

Der Ort diente zwischen 1936 und 1945 als Heeresversuchsanstalt und Erprobungsstelle für die deutsche Luftwaffe. Hier entwickelten die Nationalsozialisten moderne Waffen und Raketen, die erste wurde 1942 in den Himmel geschossen.

Heute schlendern die Besucher über die kleine Hafenpromenade, vorbei an Souvenirläden, Imbissständen und Restaurantschiffen. Die Ruine des einstigen Wärmekraftwerks, das die Heeresversuchsanstalt mit Strom versorgte, thront über dem Hafen.


Im Schatten der Geschichte

Inzwischen befindet sich darin das Historisch-technische Museum Peenemünde. Gleich nebenan liegt die U-461. Das ausgediente U-Boot der Baltischen Rotbannerflotte kann man besichtigen. Oder man wagt einen Rundflug vom einstigen Militärflughafen, bevor Kapitän Frank klar Schiff macht und nun Richtung Oie steuert.

90 Minuten später begrüßt Stefanie, eine junge Frau, die ihr freiwilliges ökologisches Jahr auf der Insel macht, die Besucher und beginnt im Informationszentrum ihren Vortrag. Die Oie entstand vor 20.000 Jahren und verschlief sodann einen Großteil ihres tausendjährigen Lebens eher unbeachtet im Schatten der Geschichte.


Kulisse für "F.P.1 antwortet nicht"

Nach 1850 wurde sie von drei Pächterfamilien bewohnt. Die zunehmend touristische Nutzung des Eilands folgte. Ein Pächter baute sein Anwesen zur Pension "Inselhof" um. Zahlreiche Prominente, wie die dänische Schauspielerin Asta Nielsen und Thomas Mann, kamen nach Oie.

1932 wurde die Insel Kulisse für den Film "F.P.1 antwortet nicht" mit Hans Albers in der Hauptrolle. Danach folgte die militärische Nutzung, zunächst als Ableger der Peenemünder Heeresversuchsanstalt, später als Posten der 6. Grenzbrigade Küste der DDR-Volksarmee.


Ein zweites Sylt in der Ostsee


"Nach der Wende schienen der kreativen Nutzung der Insel keine Grenzen gesetzt", sagt Stefanie. Ein Investor wollte sogar einen Gedenkfriedhof für Nazigrößen errichten. Ein anderer ein zweites Sylt.

Heute ist die Insel Naturschutzgebiet und Station der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger. Im Schutzhafen ankert ein Seenotrettungskreuzer. Für die freiwilligen Naturschützer des Vereins Jordsand und die Diensthabenden der Lebensretter gibt es bescheidene Unterkünfte.

Wasser kommt aus der Pumpe, Abfall in die biologische Kläranlage - und Energie aus dem Solarstromsystem. 2011 war die Oie mit 2017 Stunden schließlich einer der sonnenreichsten Orte in Deutschland.


Ein letzter Blick über die Insel

Auf verschlungenen Wegen kann man die Insel erkunden, auf moosbewachsenen Bänken nahe der Steilküste rasten, vor unendlicher Weite dösen und dabei Seeadler beobachten. Zentraler Punkt der Insel ist der Leuchtturm von 1853. Von dort fällt ein letzter Blick über das Eiland.

"Ein Wissenschaftler hat errechnet, dass es die Oie in 800 Jahren nicht mehr geben wird", sagt Stefanie. Dann wird die Ostsee das Eiland weggespült haben. Wer die Insel besuchen will, hat also noch reichlich Zeit - bis 2812.


Text: Sarah Paulus (www.sarahpaulus.de)

Foto: Rolf G. Wackenberg (www.wackenberg.com)


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