Ständig wollen die Leute irgendetwas küren. Im kurdischen Diyarbakir findet jedes Jahr ein Wassermelonenwettbewerb statt. Dafür karren die Bauern aus der Region ihre Wassermelonen herbei, und die größte Melone gewinnt. Letztes Jahr wog sie satte 51 Kilo. Ähnliche Wettbewerbe finden auch hierzulande statt. Auch ich habe mich schon einmal für einen Kartoffelwettbewerb angemeldet, zu dem ich dann aber nicht antreten konnte, weil meine Kartoffelpflanze verschimmelt war. Doch nicht nur Obst und Gemüse werden jährlich gekürt, sondern auch Wörter. Man nennt das dann hochtrabend Sprachkritik oder Sprachpflege. Ich persönlich bezweifle, dass das was bringt, und würde lieber die Lektüre von Gedichten empfehlen, die neuen von Durs Grünbein oder die alten von Friederike Mayröcker zum Beispiel.
Das Wort des Jahres 2022 war „Zeitenwende", das ein bisschen klingt wie der Titel eines Silbermond-Albums von 2007 und das man auch zynisch mit „Besser spät als nie" übersetzen könnte, denn Russland führt seit 2014 Krieg in der Ukraine. Aber gut, die Bewertung der deutschen Russland-Politik ist nicht Aufgabe der Jury. Was das Unwort des Jahres 2022 ist, werden wir in wenigen Tagen erfahren. Da geht es um diskriminierende, menschenfeindliche und euphemistische Sprache. Beispielsweise „Döner-Morde" für die Morde des NSU (Unwort des Jahres 2011). Mein Vorschlag für dieses Jahr: „Klima-RAF" für die „Letzte Generation", also für eine Gruppe von Leuten, die mit Kartoffelbrei werfen, sich ständig irgendwo hinkleben, ein Tempolimit auf Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket fordern. Fast das Gleiche also wie eine bewaffnete Terrorgruppe, die Sprengstoff zündete und Menschen tötete.
Beim Unwort geht es um sprachliche Verrohung. Nur manchmal verwundert es, wenn die mutmaßliche Verrohung der Sprache die eines tatsächlichen Krieges schlägt. 2014 zum Beispiel war „Russland-Versteher" Unwort des Jahres. In einem Jahr, als Russland die Krim völkerrechtswidrig annektierte, schien der generalisierende Begriff das größere Problem zu sein.
Gezankt wird mit heiligem ErnstWie ich kürzlich erfuhr, gibt es nun auch die „Floskel des Jahres", gekürt von zwei Journalisten, die unbedingt mal etwas küren wollten. „Freiheit" landete auf Platz eins. Seltsam, schließlich war doch das Jahr in der ersten Hälfte geprägt vom Kampf der Menschen in der Ukraine, nicht unter russischer Knechtschaft leben zu müssen, und in der zweiten Hälfte zusätzlich vom Kampf der Menschen in Iran, nicht mehr unter dem Joch der Mullahs leben zu müssen. Die kurdische Parole „Jin Jiyan Azadi", „Frauen Leben Freiheit", wurde zum Ruf der Proteste. Bei der „Freiheit" aber, die hier negativ ausgezeichnet wird, heißt es in der Begründung vage, gehe es um Leute, die in ihrem Namen nach eigenem Vorteil trachten. Dass Leute ihren Egoismus in hehre Worte kleiden, ist nichts Neues. Auf Twitter jedenfalls wurde diese etwas wahllos wirkende Wahl vom Minister bis zur Chefreporterin mit Empörung quittiert. Aber gut, auf Twitter empören sich die Leute ständig über etwas, das man den Menschen, die nicht auf Twitter sind, kaum zu erklären vermag.
Heute ist jeder Mensch ein Sprachkritiker. Oder will es zumindest sein. Nicht dass Sprachkritik per se sinnlos ist, im Gegenteil. Man muss sich durchaus ansehen, mit welchen Worten Kriege geführt werden: ohne das Wort „Krieg" (Putin 2022 in der Ukraine) oder im Namen des „Olivenzweigs" (Erdogan, 2018 in Afrin); und welches alte neue Vokabular die alten neuen Rechten verwenden („Umvolkung", „Überfremdung", „Lügenpresse"). Aber in den meisten Fällen geht es bei der Sprachkritik von heute nicht mal um Sprache. Sondern um eine Glaubenssache. Zum Beispiel bei der Frage: Wie hältst du es mit dem Gendern? Die einen glauben, mit der richtigen Formulierung lasse sich jede Ungerechtigkeit beseitigen. Die anderen tun so, als hätte es noch nie sprachlichen Wandel gegeben. Gezankt wird mit heiligem Ernst. Im Grunde ist es auch ein bisschen langweilig. Eine andere Form der Kür ist die Liste, nur dass es da keinen Gewinner gibt.
Solch eine Liste mit „schädlichen Wörtern" hat kürzlich ein Arbeitskreis der Stanford University veröffentlicht. Sie hat die erwartungsgemäße Empörung bei den einen und die erwartungsgemäße Zustimmung bei den anderen hervorgerufen. Auf der Liste standen neben den üblichen Verdächtigen auch Formulierungen, die man besser meiden sollte, wie „killing it", denn gute Arbeit zu leisten sollte nicht mit dem Tod in Verbindung gebracht werden; oder „crazy", das wäre ableistisch und würde „die Erfahrung von Menschen, die mit psychischen Erkrankungen leben, trivialisieren". Zwei Dinge kamen mir beim Lesen in den Sinn: die Langeweile angesichts einer verwalterischen Verwaltersprache, die hier empfohlen wird; und die Unverhältnismäßigkeit heutiger Sprachdebatten. Als ob alles einerlei wäre, von der rassistischen Beleidigung bis zum fehlenden Genderstern. Alles Gewalt, von der Sprache bis zum Faustschlag. Alles gleich: Äpfel wie Birnen. Wassermelonen wie Kürbisse, womit wir wieder bei Obst und Gemüse wären.