Fast hat man geglaubt, der Islamismus sei abgeschafft. Zumindest hat man in letzter Zeit wenig von ihm gehört. Ja, die Taliban tyrannisieren weiter afghanische Frauen. Was mit den Ortskräften ist, für die man mal verantwortlich war, will man lieber nicht so genau wissen. Und der sogenannte Islamische Staat erscheint einem wie ein böser Albtraum. Dass immer noch Tausende IS-Mitglieder in Syrien und Irak herumspuken, in Gefängnissen, Camps und schlimmstenfalls auf freiem Fuß, wen interessiert das schon.
Man hat den Islamismus also fast vergessen, und noch viel mehr hat man vergessen, dass es auch so etwas wie einen schiitischen Islamismus gibt. Da stürzt sich ein 24-jähriger Khomeini-Fan im Namen einer 33 Jahre alten Fatwa (religiöse Gefühle verletzt wegen eines witzigen Romans) mit dem Messer auf den Autor Salman Rushdie. Eine Tat, deren bestialischer, frevelhafter, gottloser Charakter einem die Sprache verschlägt. Dass Islamisten keinen Spaß verstehen, konnte man schon bei der Ermordung des afghanischen Komikers Kashar Zwan durch die Taliban sehen, beim Anschlag auf die Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo" oder als Erdogan den Frauen das Lachen verbieten wollte.
Koloniale Ignoranz im Namen des PostkolonialismusLetztens las ich in der „taz" einen Text von einer Korrespondentin in Beirut, der sich wie folgt zusammenfassen lässt: Die Feministinnen aus Iran, allen voran Masih Alinehad (die ein paar Tage zuvor einem Attentat entkommen war), sollen sich mal nicht so haben. Nonnen würden ja auch Haube tragen. Und die Proteste gegen den Kopftuchzwang seien doch nur westliche Propaganda. Man würde sich doch nur bei den Kolonialisten anbiedern wollen.
Man muss nicht jede verwirrte Äußerung einer selbst ernannten Feministin kommentieren, die im Namen des Postkolonialismus meint, Frauenrechtlerinnen aus dem Nahen Osten, Nordafrika oder sonst wo in feinster Kolonialherrinnenmanier belehren zu müssen, und deren Texte sich so lesen, als wären sie direkt von der Propaganda-Abteilung der Islamischen Republik zugefaxt worden. Aber solche Ergüsse häufen sich. „Beauty is in Diversity as Freedom is in Hijab", heißt es in einer Kampagne des Europarates. Und vor ein paar Monaten erschien ein Video von Datteltäter, einem Kanal von „funk", mit dem Titel „Mein Kopftuch, meine Wahl". In dieser Mischung aus Werbe-, Musik- und Fashionclip heißt es: „Mein Hijab ist Feminismus, weil er für Freiheit und Würde steht."
„Islamfeindlichkeit" als KaugummibegriffIm Grunde ist auch das nichts anderes als koloniale Ignoranz den Frauen gegenüber, die in Iran oder in Afghanistan zwangsverschleiert werden. Solidarität? Fehlanzeige! Wie hat Audre Lorde so schön gesagt: „I am not free while any women is unfree." Der Kopftuchzwang ist nicht das einzige Problem von Frauen. Aber da beginnt doch der Terror, wenn Frauen, die es ablegen, mit Ausgrenzung, Verlust von Freiheit und körperlicher Unversehrtheit rechnen müssen.
Aktivistinnen klagen, es werden zu wenig positive Geschichten über den Islam erzählt. Überhaupt werde sich zu viel mit Islamismus beschäftigt. Passend dazu las ich kürzlich, ebenfalls in der „taz", einen Kommentar von Farid Hafez, in dem dieser über die Kriminalisierung von Musliminnen im Kampf gegen Islamismus klagte. Ausgerechnet Hafez, der 2019 noch den „European Islamophobia Report" für die Erdogan-nahe Stiftung SETA mit herausgab, in dem ein Haufen islamismuskritische Muslime als Islamfeinde gebrandmarkt wurden. Und der sich als Opfer von Kontaktschuldvorwürfen sieht. Dass Hafez ein unkritisches Buch über die Stars und Sternchen der Muslimbruderschaft verfasste und für die SETA-Stiftung arbeitete - geschenkt. Islamfeindlichkeit wie Kontaktschuld scheinen ja so Kaugummibegriffe zu sein, bis zur Unkenntlichkeit dehnbar.
Der Islamismus, das ganze Spektrum - legalistisch bis dschihadistisch - ist das eine, das andere ist das Konglomerat aus Unwissenheit, Ignoranz, Wokeness, wahlweise Toleranz, also auf der richtigen Seite stehen wollen - anzutreffen von links bis konservativ. (Die Rechten sind hier mal ausgenommen, die sind ja ohnehin nur daran interessiert, den Islamismus für ihre rassistischen Ressentiments zu missbrauchen). Verstrickungen mit islamistischen Organisationen wie Milli Görüs oder DITIB interessieren kaum. Dass Erdogans Palast-Imam Adem Kemaneci nun in die Zentralmoschee nach Köln-Ehrenfeld gewechselt ist. Dass hierzulande Menschen von Islamisten bedroht werden. Dass die meisten eingeleiteten Terrorverfahren sich auch heute noch gegen Islamisten richten.
Den Islamismus ernst zu nehmen bedeutet auch, endlich über den ideologischen, religiösen und politischen Nährboden zu sprechen, in dem er blüht und gedeiht. Und das, ohne die Täter gleich wieder zu Opfern umzudeuten (Opfer von Rassismus, Kolonialismus) und sich damit als Erklärung zufriedenzugeben. Die Vorstellung, religiöse Gefühle dürften auf keinen Fall verletzt werden, ist eine totalitäre. Was Rushdie betrifft: Zugestochen hat Hadi Matar, das Messer geliefert hat Khomeini. Und zugeschaut haben all jene, die eine längst überfällige Diskussion seit Jahrzehnten verhindern.