Großbritannien bleibt im politischen Ausnahmezustand: Der britische Premier hat mit seiner Entscheidung, dem Parlament eine Zwangspause aufzuerlegen, riesige Empörung ausgelöst. Tausende protestierten in Londons Straßen, Oppositionsabgeordnete laufen Sturm und schon mehr als eine Millionen Menschen haben eine Online-Petition gegen den Zwangsurlaub unterzeichnet. Ihre Kritik: Johnson würde die Abgeordneten im Unterhaus ihrer Möglichkeit berauben, einen harten Brexit noch zu verhindern.
Auch die Medien beobachten die Zwangspause des Parlaments mehrheitlich mit Sorge. Die britische Wirtschaftszeitung „Financial Times" kommentiert, der Premierminister hätte „eine Bombe unter dem Vereinigten Königreich gezündet". Auf unerträglicher Weise versuche er, das Parlament zum Schweigen zu bringen, es mundtot zu machen. Es sei ein „Affront an die Demokratie".
Die Zeitung fordert ein konsequentes Vorgehen gegen Johnson: „Es ist an der Zeit, dass die Parlamentarier seine Regierung in einem Misstrauensvotum stürzen und den Weg für eine Wahl ebnen, bei der das Volk seinen Willen zum Ausdruck bringen kann." Denn wenn Johnsons Trick Erfolg habe, verliere Großbritannien jedes Recht, andere Länder über demokratische Defizite zu belehren.
Auch die britische Tageszeitung „The Guardian" empört sich über Johnsons Vorstoß. Er begehe „grotesken Missbrauch des höchsten politischen Amtes". Schließlich habe er nicht mal ein Mandat der britischen Wählerschaft - und nutze diesen Weg, um parteipolitische Ziele umzusetzen, für die es im Unterhaus keine Mehrheit gebe.
Der Premier verleibe sich Befugnisse ein, die ihm nicht zustünden, und benutze sie für einen „Angriff auf seine Gegner im Parlament". Für Proeuropäer sei sein Versuch, den harten Brexit - auf diese Weise - durchzusetzen, schmerzlich. „Dass er überhaupt bereit ist, es zu tun, sollte jeden alarmieren, der die Traditionen der britischen Demokratie zu schätzen weiß", heißt es im „Guardian" weiter.
An das Motiv Machterhalt glaubt auch die britische Internetzeitung „The Independent". Johnson würde alles tun, um an der Macht zu bleiben, ist in einem Kommentar zur Zwangspause zu lesen. Der Premier habe „alle Attribute eines Diktators", wird Johnson scharf kritisiert. So habe sich kein Premierminister oder Regierungsmitglied zu benehmen, empört sich der „Independent".
In Großbritannien erntet Johnson aber nicht nur Kritik. Die britische Boulevardzeitung „The Sun" sieht in ihm nichts Geringeres als einen Verteidiger der Demokratie. Denn die Brexit-Gegner im Unterhaus versuchten, einen Wählerwunsch - den EU-Austritt - zu blockieren. Er bewahre die Briten lediglich vor den Remainern.
In der „Neuen Zürcher Zeitung" ist zu lesen, dass Johnson ohne Rücksichtnahme nur ein Ziel verfolge: sein eigenes politisches Überleben zu sichern. Sein Vorgehen bezeichnet die Zeitung als einen „dramatischen Machtgalopp", der die Juristen noch über Jahre beschäftigen werde. Immerhin, so schreibt die „Neue Zürcher Zeitung": Johnson „bringt dem Land nach drei Jahren ermüdender Brexit-Wirren endlich Klarheit."
Die Tageszeitung „Die Welt" kommentiert: „Johnson suspendiert einfach die repräsentative Demokratie". Der Premierminister mache sich einen Verfahrenstrick zunutze, der seit 70 Jahren nicht mehr angewandt wurde. Insgesamt zeige das Brexit-Chaos: Repräsentative und direkte Demokratie könnten miteinander in Konflikt geraten.
Die spanische Zeitung „El Mundo" zeigt sich ebenfalls besorgt über den Zustand von Großbritanniens Demokratie. Der neue Premierminister treibe das Königreich in Richtung Autokratie. In eine ähnliche Stoßrichtung geht auch die belgische Zeitung „De Tijd". Sie kommentiert, dass durch Johnsons verordnete Zwangspause das Endspiel eingeläutet werde. Noch nie sei es vorgekommen, „dass in einer parlamentarischen Demokratie ein Parlament derart ins Abseits gestellt wird."
Johnson sei ein „zynischer Machtpolitiker", der nach allen zur Verfügung stehenden Waffen greife. Vielleicht zahle sich das für ihn auch noch aus: Seine neueste Aktion mache ihn bei den Brexit-Befürwortern noch populärer, glaubt die Zeitung.