Dass ich über Angy Rivera hier mit ihrem vollen, echten Namen und einem Foto berichten kann, hat Mut gekostet. Nicht mich. Ich brauchte sie bloß anzusprechen, das war ganz einfach. Angy dagegen hat sich vorher - weit vorher, nämlich im Jahr 2010 - öffentlich an ein Mikrofon gestellt und gesagt: „I am undocumented."
Ihre Mutter brachte sie aus Kolumbien in die USA, als Angy vier Jahre alt war. Sie kennt im Grunde nichts anderes als das Leben in New York. Ihre Geschwister sind hier geboren, damit sind sie automatisch amerikanische Staatsbürger. Angy dagegen hatte die ganze Zeit lang überhaupt keine Papiere. Andere Leute nennen das illegal. Wie kann ein Mensch eigentlich illegal sein?
Angy war gut in der Schule, hat sich dort auch außerhalb des Stundenplans engagiert, und ihre Lehrer dachten, sie hätte eine glänzende Karriere vor sich. Sie wussten nicht, dass Angy die Tür dazu verschlossen war. Sie kann nicht einmal einen Führerschein machen. Oder arbeiten. Jedenfalls nicht legal - dazu braucht man in den USA schließlich eine Arbeitserlaubnis.
Angy hat nicht einmal eine Aufenthaltserlaubnis. Oder besser gesagt: Die hatte sie damals nicht. Inzwischen hat sie ein Visum - und ist damit eine der wenigen Ausnahmen unter den schätzungsweise mehr als 11 Millionen Menschen, die ohne Papiere in den USA leben und meist keine Chance haben, ihren Status zu ändern. Mehr noch: Unter Obama stiegen die Abschiebungen auf Rekordniveau (für seine Amtszeit bis 2014 - die neuesten erhältlichen Daten - waren es bereits mehr als zwei Millionen Abschiebungen ).
Angys Visum hat allerdings einen bitteren Beigeschmack. Nur Opfer von Gewalt, die in den USA stattgefunden hat, können ein U Visum bekommen, und bei dem langen Antragsprozess musste Angy sich nicht nur als papierlose Einwandererin, sondern auch als Opfer sexuellen Missbrauchs outen. Den Weg zu diesem Visum hat die Dokumentarfilmerin Mikaela Shwer mit „ Don't Tell Anyone (No Le Digas a Nadie) " festgehalten, hier der Trailer:
Angy arbeitet auch heute noch mit dem New York State Youth Leadership Council daran, die Situation von Jugendlichen ohne Papiere zu verbessern. Vielleicht habt ihr ja sogar auch schon einmal vom gehört. Einige Info-Links habe ich euch unten zusammengestellt. Zuerst aber kommt jetzt ein Interview mit Angy, das ich bei der Recherche für das New York-Buch gemacht habe, an dem ich gerade schreibe.
In unserem Gespräch erzählt sie, wie der Alltag ohne Papiere aussieht, inwieweit sich New York beim Umgang mit „undocumented immigrants" von anderen US-Orten unterscheidet und wieso es ein Trugschluss ist zu glauben, man könne ganz einfach in die USA einwandern.
Ich wusste das auch als Kind die ganze Zeit, weil meine Mutter damit immer ehrlich umgegangen war, sie hat mir das gesagt. Aber mit 16, 17, 18 verstand ich es so richtig. Das ist das Alter, in dem man in den USA Fahrstunden nimmt, anfängt zu arbeiten, sich im Wahlregister eintragen lässt. Die anderen Schüler taten das, ich nicht.
Wie hast du denn deinen Freunden in der Schule erklärt, warum du keinen Führerschein machst oder nicht wählen gehst?Das war es ja eben: Ich habe das niemandem gesagt. Enge Freunde wussten Bescheid, aber die Auswirkungen wurden uns allen erst klar, als wir begannen, übers College nachzudenken.
Wieso genau dabei?Zu dieser Zeit bewirbt man sich bei Colleges und auch direkt um finanzielle Unterstützung, sofern man die Bedingungen dafür erfüllt. Vom Kindergarten bis zur 12. Klasse haben in den USA alle Kinder ein Recht auf Bildung, egal welchen Status sie haben. Das beruht auf einer Entscheidung dese Obersten Gerichtshofs. Nach dem Schulabschluss ist Bildung nicht mehr garantiert, aber an vielen Unis kann sich jeder einschreiben. Die Schwierigkeit besteht darin, sie zu bezahlen. Und im Gegensatz zu meinen Freunden konnte ich keine finanzielle Unterstützung aus den Töpfen des Bundesstaats oder der Regierung beantragen. Dieser Punkt machte das Leben ohne Papiere auf einmal real.
Und du warst echt gut in der Schule, nicht wahr?Yep. Ich war in der Schule sehr aktiv, ich war Präsidentin eines Clubs, ich hatte gute Noten, meine Lehrer waren ganz gespannt auf meine Karriere. Sie dachten, dass ich selbstverständlich aufs College gehen und Großes vollbringen würde. Sie wussten nicht, dass ich keine Chance auf Beihilfen hatte, dass ich auch nicht arbeiten kann, um mir das Geld für die Uni zusammenzusparen. Es ist ein Teufelskreis.
War das der Punkt, an dem du zur Aktivistin wurdest?Ja, das geschah im Wesentlichen, als ich im letzten Schuljahr an der Highschool war. Ich glaube, dieser Moment hat mich dazu gebracht, etwas zu unternehmen.
Wie kam es dann zu deiner Online-Ratgeberseite „Ask Angy"?Ich engagiere mich im New York State Youth Leadership Council, wo wir 2010 eine Kampagne namens „Coming Out Of The Shadow" machten: ein Coming Out als papierlose Einwanderer. Danach fragte mich jemand per E-Mail, warum ich die Leute aufforderte, das auch zu machen, und ob das denn nicht gefährlich für sie sei. Ich entschloss mich, diese Frage öffentlich zu beantworten. Ein paar Monate später wurde daraus die Idee, eine Blog-Kolumne zu machen, wo man anonym Fragen stellen und seine Geschichte erzählen kann, ohne sich Sorgen zu machen.
Du hast einer Dokumentarfilmerin erlaubt, einen Film über dich und deinen Weg zu einer Aufenthaltsberechtigung zu drehen. Was sollen die Leute daraus mitnehmen?Mein Wunsch wäre, dass die Leute sehen: Es ist viel schwerer als bloß seine Papiere zu beantragen, und das war's dann. Und dass ihnen klar wird, dass wir mehr sind als unser Einwanderungsstatus.
Ist die Situation papierloser Einwanderer in New York anders als in anderen US-Städten?Ja und nein. In New York City haben wir zum Beispiel ... Weiterlesen im Original!