"Wenn klar ist, wo der Feind zu suchen ist, wird Identität gestiftet" setzt Marius Dilling an und ergänzt: "Genau das haben Verschwörungsgläubige und Menschen mit antisemitischen Ressentiments gemeinsam". Dilling forscht am Else-Frenkel-Brunswik-Institut für Demokratieforschung an der Universität Leipzig zu demokratiefeindlichen Einstellungen - mit Fokus auf Verschwörungsmentalität und Antisemitismus. Im Interview erklärt er, wieso in der Corona-Krise Jahrhunderte alte antisemitische Verschwörungsmythen wieder salonfähig werden.
Marius Dilling: Was wir in unserer Forschung beobachten, ist, dass das zumindest bei der messbaren Verteilung antisemitischer Einstellungen in Deutschland nicht der Fall ist. Da beobachten wir eher eine Abnahme an antisemitischen Einstellungen - bei jedoch gleichzeitiger Zunahme der antisemitischen Straftaten. Deswegen gehen wir davon aus, dass sich diejenigen, die antisemitische Einstellungen haben, zunehmend radikalisieren. Leute tendieren aber dazu, eine antisemitische Einstellung beispielsweise in Umfragen, die wir durchführen, nicht zu äußern. Es gibt ein Phänomen, das wir als Umwegkommunikation bezeichnen, das besagt, dass sich das antisemitische Ressentiment Umwege sucht und sich nicht mehr nur als klassisch brachialer Antisemitismus äußert, sondern mit anderen Facetten.
Welche Erscheinungsbilder kann Antisemitismus annehmen?
Wir differenzieren grob zwischen drei Facetten des Antisemitismus. Die erste bezeichnen wir als tradierten Antisemitismus, oder auch klassischen Antisemitismus. Das ist dieser brachiale Antisemitismus, wo Allmacht auf Jüdinnen und Juden projiziert wird, wo eine grundsätzliche Fremdheit behauptet wird.
Die zweite Facette bezeichnen wir als sekundären oder Schuldabwehr-Antisemitismus. Das ist eine speziell deutsche Form des Antisemitismus, die mit dem Versuch zusammenhängt, eine deutsche Identität positiv zu besetzen und die Vergangenheitsbewältigung auszublenden. Es sind Schlussstrichforderungen und beispielsweise die Unterstellung jüdischer Mitschuld am Holocaust. Die dritte Facette, das, was wir als israelbezogenen Antisemitismus bezeichnen, ist ein Antisemitismus, der unter dem Deckmantel vermeintlicher Israelkritik, den Versuch der Umwegkommunikation unternimmt. Israel fungiert hier häufig als Chiffre für eine jüdische Finanzelite, die die Welt kontrolliere. Israel wird delegitimiert, dämonisiert und mit doppelten Standards bewertet.
Die Verbindung zur Verschwörungsmentalität oder dem Glauben an verschwörungstheoretische Narrative ist natürlich da und ist auch statistisch zu beobachten. So wurde zum Beispiel in der letzten Leipziger Autoritarismus-Studie erstmals auch das erfasst, was wir als "coronabezogene Verschwörungsmentalität" bezeichnet haben. Wir konnten zuletzt auch zeigen: Es gibt eine sehr hohe Korrelation zwischen diesen Einstellungsmustern. Das Interessante ist, dass sowohl die klassische, als auch die speziell coronabezogene Verschwörungsmentalität extrem stark mit den drei bereits genannten Facetten des Antisemitismus korrelieren. Bei der coronabezogenen Verschwörungsmentalität handelt es sich also nicht etwa um eine harmlose Kritik an Corona-Maßnahmen. Es handelt sich um eine Form der Verschwörungsmentalität, die stark mit Antisemitismus zusammenhängt.
Das hat verschiedene Gründe. Es wird ähnlich argumentiert, etwa die Vorstellung, dass irgendeine böse, dunkle Macht in der Welt die Strippen zieht und es werden ähnliche Bedürfnisse befriedigt. Komplexität wird reduziert, Widersprüche in der Welt werden zugunsten einer Verzerrung von Realität verwischt. Und beide haben eine Freund-Feind-Logik in sich. Wenn klar ist, wo der Feind zu suchen ist, dann stiftet das auch Identität. Die Bösen, das sind die anderen. Beide Phänomene schaffen eine Art Überlegenheitsillusion, um das Gefühl zu haben, dass man einzigartig ist und die Welt versteht, die anderen haben es nur noch nicht geblickt und sind "Schlafschafe". Das spielt beim Antisemitismus auch eine Rolle. Aus einer psychologischen Perspektive würden wir sagen, das sind beides Phänomene, die projektive Bedürfnisse befriedigen, also verdrängte Anteile meiner Persönlichkeit, die ich nicht wahrhaben möchte. Diese übertrage ich auf Dritte und kann sie externalisiert bekämpfen. Zum Beispiel, wenn in Sachen Ausländerfeindlichkeit davon die Rede ist, dass "die Ausländer" vermeintlich unhygienisch, gefährlich seien oder einen übersteigerten Sexualtrieb hätten, dann sind das womöglich Dinge, die auf die eigene Person viel mehr zutreffen. Das bezeichnen wir als Projektion.
Antisemitische Verschwörungstheorien sind totale Erzählungen, bei denen alles zusammenhängt. Sie äußern sich so: Man kann niemandem mehr glauben, der Presse nicht, alle sind von geheim agierenden, als "jüdisch" imaginierten Kräften gesteuert - die Wissenschaft ist gesteuert, Journalisten sowieso. Deswegen ist es auch so schwer, dagegen zu argumentieren. Man muss berücksichtigen, dass der Glaube an Verschwörungstheorien und auch der Antisemitismus für die Leute psychische Bedürfnisse befriedigt. Es werden Ängste und Ohnmachtsgefühle kompensiert, in dem Moment, in dem ich verstehe, wie die Welt funktioniert. Deswegen kommt man mit rationalen Argumenten nicht weiter. Man muss den Leuten alternative Angebote zum Umgang mit ihren Ängsten und Ohnmachtserfahrungen machen.
Ich kann nur die Situation beschreiben. Wir sprechen in der Forschung von Deprivationserfahrungen, also dem Gefühl, abgehängt zu sein. Wenn man solche Erfahrungen macht, braucht man alternative Angebote, sich selbst aufzubauen, ohne die anderen abwerten zu müssen. Ein weiterer ganz wichtiger Schritt ist sicherlich Bildungsarbeit. Aber wir sehen, dass Bildung nicht der einzige Schutzfaktor sein kann, um Leute davon abzuhalten, etwa an Verschwörungstheorien zu glauben. Es ist zu einfach, sich mit solchen Narrativen selbst zu erhöhen und andere abzuwerten. Eine bessere Antwort als Bildungsarbeit sowie solchen Menschen immer wieder zu widersprechen und diese Narrative so zu entkräften, habe ich nicht. Hier ist jeder Einzelne beim Familienessen gemeint - wenn der Onkel mit kruden Theorien auffällt, muss man auch in der Familie widersprechen. Den Kontakt sollte man nicht abbrechen, denn das kann dazu führen, dass Leute den letzten sozialen Halt verlieren und sich immer tiefer in diesen Kaninchenbau vergraben.
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 09. Oktober 2021 | 19:30 Uhr