Es ist früh am Morgen, als an einem Sommertag 1942 ein Lastwagen vor dem John-R.-Warburg-Stift im Hamburger Stadtteil Rotherbaum hält. Die Bewohnerinnen und Bewohner des Stifts stehen schon vor dem Eingang. Sie werden gezwungen, auf die Ladefläche des Transporters zu steigen. Der Wagen fährt los, voll beladen mit Verzweifelten. Dann rollt der nächste Laster vor den Eingang. Mit dieser Szene beginnt der autobiografische Roman Die Todgeweihten der Hamburger Schriftstellerin Berthie Philipp. Was sie schildert, ist keine Erfindung: Sie zog im Sommer 1942 in das John-R.-Warburg-Stift und gehörte zu den Menschen, die auf den Transportern weggebracht wurden - in das Konzentrationslager Theresienstadt.
In dem Gebäude aus gelben und braunen Klinkersteinen, gelegen an der Bundesstraße 43, sollten eigentlich Bedürftige aller Konfessionen günstigen Wohnraum erhalten. So wollte es der Namensgeber des Stifts, John Rudolph Warburg.
Warburg hat die Einrichtung 1888 gegründete. Bereits 1849 war er Mitgründer des Schillingvereins für Freiwohnungen, dem Vorläufer der Vaterstädtischen , die bis heute günstigen Wohnraum für Bedürftige anbietet. Mehrere liberale Juden hatten sich zusammengeschlossen, um ein Zeichen zu setzen. Sie wollten etwas gegen die Armut in ihrer Heimatstadt tun, aber auch ein Zeichen setzen für die "jüdische Emanzipation". 1849 die gleichen Rechte wie die christliche Mehrheitsbevölkerung erhalten. Und so beschlossen die Gründer, dass sie alle Bedürftigen gleich behandeln wollten. Ihre Stiftung war paritätisch, stand gleichermaßen Juden und Christen aller Konfession offen.
Die Nationalsozialisten verkehren diesen Stiftungszweck ins Gegenteil, zwangen alle jüdischen Vorstandsmitglieder zum Rücktritt und setzten durch, dass jüdische Bewohner aus den Wohnstiften der Vaterstädtischen Stiftung ausziehen mussten.
Die Sozialverwaltung der Hansestadt entschied, dass das John-R.-Warburg-Stift ein sogenanntes "Judenhaus" wurde, eine Sammelstelle für Menschen, die nach den Rassegesetzen der Nationalsozialisten als Juden galten. Gleiches geschah unter anderem mit dem Martin Brunn-Stift und dem Mendelson-Israel-Stift.
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Während die Nationalsozialisten in Hamburg alle jüdischen Stiftungen auflösten, "arisierten" sie die paritätischen Institutionen, die meist im 19. Jahrhundert von Juden gegründet worden waren. Die Einrichtungen waren nur noch "deutschen Volksgenossen" zugänglich und ihr Stiftungszweck wurde geändert. In vielen Fällen wurde letzteres selbst nach dem Zweiten Weltkrieg nicht rückgängig gemacht.
Wenig Geschichtsbewusstsein bewies die Stiftung zudem, als sie ehemalige "Judenhäuser", die sie von den NS-Behörden erhalten hatte, nach dem Weltkrieg in ihrem Bestand behielt und sich weigerte, diese an jüdische Institutionen herauszugeben.
Dabei waren die zu "Judenhäuser" umgewandelten Stifte im nationalsozialistischen Hamburg eng an die Jüdische Gemeinde angebunden worden. Diese musste für den Betrieb, den Unterhalt der Gebäude und die Versorgung der Bewohner aufkommen. Ihre jährlichen Kosten für Fürsorge stiegen dadurch drastisch: Lagen sie 1936 noch bei 523.000 Reichsmark, waren es 1940 bereits gut 1,5 Millionen Reichsmark. Nach der Deportation der Bewohnerinnen und Bewohner fielen das John-R.-Warburg-Stift, das Martin Brunn-Stift und das Mendelson-Israel-Stift der Vaterstädtischen Stiftung zu. Die Einrichtung, die als von Juden gegründete Institution selber von der "Arisierung" betroffen war, profitierte so vom Vorgehen der NS-Behörden.