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Azoreninsel Corvo - Elemente am Limit


Einen ersten Eindruck von Corvo bekomme ich, bevor ich überhaupt einen Fuss auf die Insel setze. Und zwar in dem Moment, als mich die Stewar- dess höflich bittet, mich in den hinteren Teil der Maschine zu

setzen. Bei zu geringer Auslastung beeinträch- tig die Sitzplatzlage die Start- und Landeeigen- schaften. Wohlgemerkt ist das nur für sehr kleine Maschinen relevant, und für sehr kurze Landebahnen. Beides trifft beim Flug nach Corvo zu.

Die Landebahn auf der Insel ist mit 850 Metern kurz, aber ausreichend für die klei- nen Propellermaschinen der azorischen Flug- gesellschaft. Für mich wirkt der Anflug eher, als würden wir auf einem Flugzeugträger lan- den. Der Flughafen durchmisst die komplette


Inselbreite am Südzipfel, wenige Meter davor und danach herrscht die nordatlantische Bran- dung. Starke Fallwinde und heftige Böen sind auf Corvo keine Seltenheit, doch ein Flugzeu- gunglück gab es noch nie. Etwa 1800 Kilometer sind es von hier nach Lissabon, und die doppelte Strecke bis nach New York. Berühmte Nachbarn, einzig getrennt durch das Meer.

 

Kleinste Stadt. Direkt nach dem Verlassen der Maschine stehe ich vor den «Bombeiros Vo- luntários da Ilha do Corvo», der freiwilligen Feuerwehr. Ein halbes Dutzend Männer in kompletter Montur erwartete die Landung, daneben das laufende Einsatzfahrzeug aus deutscher Herstellung. Der Fuhrpark ist in die Jahre gekommen, wirkt aber mindestens so gepflegt wie der Stolz der Feuerwehrleute auf ihre Ausrüstung.


Es befinden sich nur etwa zwei Dutzend Menschen im Terminal, und dennoch herrscht eine hektische Betriebsamkeit, wie man sie bei einer Familienfeier erwarten würde. Jeder kennt jeden, begrüsst jede. Ich stehe mittendrin, ge- höre zwar dazu und bin doch nur Gast auf die- ser Feier. Erst als die Herbergsbesitzerin Vera Câmara auftaucht, wird klar, dass ich geladener Gast bin. Vera unterhält eine Pension auf Corvo und hat es sich nicht nehmen lassen, mich – trotz vorherigem Abwinken meinerseits persönlich abzuholen. Es gibt auf der Insel keine Busse und nur wenige private Taxis, aber bis zur Herberge sind es auch nur 400 Meter. «Ach, ich war gerade in der Gegend», erklärt sie zwin- kernd. Und sie weiss sehr wohl, wie das klingt. Vila do Corvo ist die Hauptstadt der Insel und zugleich die einzige Siedlung auf Corvo. Ausserdem die kleinste Stadt Portugals, mit verbrieftem Stadtrecht von 1832, und, wenn es nach einigen Einheimischen geht, auch die kleinste Stadt Europas. Dieser Titel ist jedoch umstritten und wechselt häufig, je nach Me- dium. Unzweifelhaft sind jedoch die knapp 450 Einwohnerinnen und Einwohner und der Charme des abgelegenen Dorfes. Vila do Corvo ist mühelos in einer halben Stunde durchschritten. Ein kleiner Spaziergang genügt, um fest- zustellen, dass ich hier nicht einige Tage bleiben kann, ohne am Inselleben teilzunehmen.

 

Leckereien. Um die Insel weiter zu erkunden, führt eine Strasse in Richtung Norden – zum Caldeirão. Ein Krater, der in Relation zur Insel so ausufernd und gewaltig ist, dass die Namensgeber die sonst übliche feminine Form kurzerhand maskulinisierten. Aus Caldeira wurde Caldeirão. Der asphaltierte Weg dorthin führt vorbei an Weiden und Koppeln mit Bruchstückmauern, die an schottische Cot- tages erinnern.

Die Aufzucht von Rindern und Schweinen bildet den einzigen echten Exportzweig Cor- vos. Es ist ein zaghafter Zweig, und für deutsche Augen ungewohnt, sieht man hier ausschliess- lich Mutterkuhhaltungen. Als ich mich nach Milch oder Corvo-Käse erkundige, erzählt Vera, dass es jedes Jahr nur dann Käse gebe, wenn die Kälber die Milch nicht mehr benötigen. «Und im Winter ist hier nun einfach keine Käsezeit.» Ungewöhnlich natürlich und natürlich ungewöhnlich – wohl eine Frage der Perspektive. Den Tieren bekommt das offen- kundig, denn ihr Fleisch ist aufgrund der aussergewöhnlichen Qualität auf den anderen Azoreninseln und selbst in Lissabon äusserst gefragt.

Auf einer der Weiden begegne ich einem Bauern, der lächelt und auf ein nahes Mäuer- chen steigt. Er bedeutet mir, mit ihm hinab in Richtung Atlantik zu blicken. Als er energisch

in eine Richtung deutet, erkenne ich, dass er gerade die Wiederentdeckung seiner Kühe einige steile Höhenmeter entfernt feiert. Zum Abschied drückt er mir eine Orange in die Hand. Frisch aus Corvo und unbehandelt – zu- mindest übersetze ich so seine pantomimi- schen Gesten. Die Orangen sind kleiner und fester als beispielsweise andalusische, doch sie sind saftig und schmecken nach frischer, geradezu kalter Süsse.

 

Energie. Dichte und tiefe Wolken begleiten meinen weiteren Aufstieg und gönnen mir nur eingeschränkte Aussicht. So kommt es, dass ich die Kraterkante in 700 Metern Höhe ganz un- erwartet erreiche. Während es beim Aufstieg völlig ruhig war, lärmen jetzt die Elemente. Die Szenerie ist geladen, der Südwestwind pfeift um den Kraterrand und fegt Wolkenfetzen über den kleinen Aussichtspunkt Miradouro Caldeirão. Quasi ein natürlicher Windkanal, nur eben inmitten des Atlantiks und auf einer kleinen, von Steilküsten umsäumten Insel.

Der Miradouro liegt auf einem Kamm. Nach Westen breitet sich das Kraterbecken aus, nach Osten hin folgt auf steiles Geröll nur der


Hunderte Meter tiefer gelegene Atlantik. Die- ser ausgesetzte Ort und der dröhnende Wind überreizen meine Wahrnehmung. Beim Blick auf den Atlantik ist mir, als ob ich mich auf dem Weg nach unten befinde. Kein freier Fall, aber auch kein sicherer Stand, die Wasserober- fläche kommt scheinbar näher, und für einen kurzen Moment ist nicht ganz klar, ob die Situation jetzt ernst macht und ob ich noch alles im Griff habe. Zaghaft aufkeimende Panik weicht knisternder Begeisterung. Die Elemente fluten meine Sinne so stark, dass sie vor allem eines beschwören: Energie. Entfesselte Energie auf einer entlegenen Insel, weder hochalpin noch verlassen, dafür aber wahrhaftig.

Der Caldeirão ist wie ein Kelch mit einem Durchmesser von zwei Kilometern und einem 300 Meter tiefen Boden. Ich stehe direkt am Kraterrand und kann leider nur einen grauen Wolkenpfropfen sehen, der wie eine trübe Schaumkrone das gewaltige Volumen für sich beansprucht. Ich kann die immensen Dimen- sionen nur erahnen – in diesem Moment ist dieser Ort nicht nur eine Koordinate, er wird ein Gefühl. Wind, Wasser, Erde und unter dem erstarrten Vulkan: das Feuer. Ein urzeitliches Spektakel. Elemente am Limit.

 

Im Einklang. Mir dämmert langsam, was die Verbindung mit dem Caldeirão für die Insel- bewohner ausmacht und warum ihn diese Aura umgibt. Wenn Menschen wie João, der sich jetzt John nennt und der ein Sammeltaxi auf Corvo besitzt, über den Vulkankrater sprechen, klingt das, als würde über einen alten Freund gespro- chen. Caldeirão, der alte Freund, der Seelenver- wandte oder der verbitterte Nachbar. Alles ist möglich, je nach Wetter und Gemütslage. John hat fast 30 Jahre in den USA gelebt und ist erst seit wenigen Jahren wieder auf Corvo. Auf die Frage, weshalb er zurückgekommen ist, sagt er, ohne zu zögern: «Weil hier Heimat ist.»


Heute ist es nach meiner Wanderung und einer Fahrradtour mein dritter Versuch, den Vulkankrater ohne Wolken zu sehen. John er- klärt mir, dass der Caldeirão teilweise als Wei- deland genutzt werde. Für die Viehwirtschaft herrschen gute Bedingungen, doch dass es hier oben überhaupt Land zum Bewirtschaften gibt, ahnten die ersten Siedler nicht. Und so wurde diese Möglichkeit erst nach Generationen entdeckt. Siedeln auf Corvo war für die ersten Inselbewohner nichts Geringeres als ein Kampf ums Überleben. So weit im Westen des Nord- atlantiks herrscht ein anderes Klima als auf der 600 Kilometer entfernten Hauptinsel Sao Miguel. «Die Sommer sind zwar auch hier, in der westlichen Gruppe, zu der noch die Schwesterninsel Flores gehört, mild und mit hoher Luftfeuchtigkeit gesegnet», sagt John.

«Aber die Winter sind länger, nasser und vor allem heftiger.» Schwere Stürme und Hurri- kanausläufer kommen aus den USA und gehö- ren dann zum Alltag auf Corvo. Bei Windböen von bis zu 200 Stundenkilometern und zehn Meter hohen Wellen werden die Einwohner in einen natürlichen Lockdown gezwungen. Kein Mensch besucht oder verlässt dann die Insel – manchmal für Wochen.

Die Menschen hier trotzen nicht nur diesen Elementen, vielmehr leben sie im Einklang mit ihnen. Und während an der Nordwestküste je- des Jahr Teile der Insel vom Atlantik zurück- erobert werden, verharren sie auf der Insel. Mehr noch: Sie stecken viel Energie in das In- selleben, und so schwindet zwar das Land, aber die Bevölkerung wächst. Seit den 1980er-Jah- ren steigt die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner langsam an. Sehr langsam, aber sehr stetig. Einstige Auswanderer wie John kommen zurück aus den USA, und selbst junge Men- schen sehen hier zunehmend eine Perspektive.

 

Zugehörigkeit. Der Tourismus ist noch ein kleiner Zweig, trägt jedoch schon erste Blüten. So erzählt Vera Câmara, dass ihre Zimmer schon zum zweiten Mal nacheinander für den Sommer ausgebucht sind. Diese Entwicklung spiegelt das Gefühl wider, das auf Corvo allge- genwärtig ist. Ein Gefühl von Unerschütter- lichkeit, von Vertrauen in eigene Stärken und Akzeptanz eigener Schwächen. Die Menschen auf Corvo scheinen zu akzeptieren, welche Möglichkeiten ihre Insel bietet und welche nicht.

Sie wissen zudem Bescheid, was auf ihrer Insel passiert. Sie wissen, wenn ein Besucher dreimal versucht hat, den Caldeirão ohne Wol- ken zu sehen. Sie wissen, dass er es zu Fuss, mit dem Fahrrad und per Sammeltaxi probiert hat. Sie wissen wahrscheinlich auch die korrekte Reihenfolge – und dass es nicht geglückt ist. Das erregt etwas Misstrauen in mir. In der


modernen, grossstädtischen Welt begnüge ich mich mit Anonymität oder wünsche sie mir. Nicht so mitten im Atlantik, nicht am West- ende Europas. Hier ist ein Miteinander mög- lich, wie es nur an solch abgeschiedenen Orten möglich ist – weil es nötig ist. Es ist nötig, sich zu arrangieren, sich mit anderen auseinander- zusetzen, um gemeinsame Lösungen zu finden. Kompromisse statt Konflikte. Kennenlernen, anstatt sich fremdbleiben.

Und so kommt es, dass ich an einem Abend im neu eröffneten Restaurant sitze und gefühlt der halben Insel zunicke. Die Menschen erken- nen mich und grüssen zurück. Da ist der Bauer, die Ladenbesitzerin und der Polizist, und ich frage mich, wie ich sonst eigentlich gereist bin. Es wird mir der Seegrasburger empfohlen, und man ist anschliessend sichtlich begeistert, dass der Burger mich begeistert. Die Spezialität nennt sich Erva do Calhau und schmeckt so, wie man sich einen Biss in den Atlantik vor- stellen kann: salzig und frisch, wellig und luftig. Ein herber und rauer Geschmack, wie eine Symbiose aus Wasser, Erde und Luft.

 

Pendeln. Im Restaurant geht das Familienfest vom Flughafen in die nächste Runde, und ich erfahre, dass einige Menschen im wöchentli- chen Schichtdienst hier auf der Insel arbeiten. Die Polizisten arbeiten auf Corvo, leben aber mit ihren Familien auf Faial in der zentralen Inselgruppe. Ebenso wie einige Feuerwehrleute und Mitarbeiter der Fluggesellschaft. Eine be- sondere Art des Pendelns und der Fernbezie- hung, wenn das Wetter den Flugbetrieb für Tage lahmlegt und man sich anstatt zum Abendessen erst in zwei Wochen wiedersieht.

Bei der Abreise sitze ich hier nicht, wie sonst an einem Flughafen üblich, mit Fremden in einem Terminal, sondern verbringe letzte Momente mit Bekannten, mit den Bewohnern Corvos. Als die Nachricht überbracht wird, dass der Flugverkehr wegen Schlechtwetters eingestellt wird, steht Vera in der Nähe und meint lächelnd: «In der Pension ist noch was frei.» Die anderen Passagiere wirken unbeein- druckt, murmeln etwas von Nordwind und machen sich auf den Heimweg. In einer Stunde öffnet das Restaurant, und da werde ich sie wiedersehen und vielleicht noch mehr erfahren von diesem abgelegenen und manchmal isolierten Ort. Die Menschen bleiben dann wieder unter sich, sind aber nicht allein, denn die Elemente sind ja schon da.