Als die Schüsse im Nationalmuseum fielen und Tunis binnen Minuten im Ausnahmezustand war, da dachten die Organisatoren des Weltsozialforums wohl kurz darüber nach, ob der Gipfel der Globalisierungskritiker tatsächlich wie geplant stattfinden könnte. Doch schnell fiel die Entscheidung: Ja, er kann und er wird. Und so werden sich ab morgen bis zum Samstag wieder Tausende in Tunis versammeln, um über die Revolution von Ehre und Grundrechten zu diskutieren - so die Überschrift.
Und das ist gut so, denn das Thema ist so aktuell wie nie zuvor. Jean Ziegler etwa, einer der Vordenker der globalisierungskritischen Bewegung, ruft in seinem neuen Buch "Ändere die Welt!" dazu auf, die bürgerlichen Grundrechte zurückzuerobern: "Nationalstaaten, auch die größten wie Deutschland, verlieren fortschreitend an Souveränität. Wenn eine Regierung etwas beschließt, was den Konzernen nicht passt, dann wandern die ab. Konzernsprecher stellen sich dann hin und sagen, die Marktkräfte haben reagiert."
Die Macht der 500 reichsten Unternehmen ist für Ziegler geschichtlich ohne Vorbild - sie verfügten über mehr als die Hälfte des globalen Vermögens. Und noch schlimmer: Sie hätten die Definitionshoheit erobert über das, was möglich ist: "Die haben eine Legitimationstheorie, die eindringt bis in sozialdemokratische Gehirne, zum Beispiel in Deutschland. Und das ist die neoliberale Wahnidee. Die sagt also, der Mensch als historisches Subjekt, das gibt es ja gar nicht mehr, Marktkräfte beherrschen die Welt. Und die Ökonomie funktioniert nach Naturgesetzen, gegen die man nichts tun kann. Und das stimmt eben nicht!"
Gegen die von Ziegler beschriebene Wahnidee kämpfen die Teilnehmer des Weltsozialforums an - mit demokratischen Waffen. Doch das eine andere Welt in den Grenzen der heutigen Staaten möglich ist, das glauben immer weniger von ihnen. Separatisten und Unabhängigkeitsbewegungen haben Zulauf. Ziegler: "Ich finde, was da passiert, ist hoch interessant, weil es eine Verzweiflungsreaktion ist gegen die Entfremdung, die den Völkern von der weltweiten Konzerndiktatur aufgezwungen wird."
Rebiya Kadeer führt den Weltkongress der Uiguren an. Sie kämpft für ein unabhängiges Ostturkestan - eine Region, die heute zu China gehört. Sie sagt: "Früher habe ich geglaubt, ein harmonisches Zusammenleben mit den Han-Chinesen sei möglich - aber dann hat die chinesische Regierung uns immer stärker an den Abgrund manövriert. Ihr Ziel ist es inzwischen, die uigurische Identität zu zerstören."
Immer mehr Han-Chinesen hat die Regierung in Peking in Kadeers Heimat angesiedelt. So viele, dass Land und Arbeit für die uigurische Bevölkerung knapp geworden sind. Kadeer wirft der Staatsführung vor, die Öl- und Gasvorkommen und das fruchtbare Ackerland in der Region kontrollieren zu wollen - und den Uiguren den Zugang dazu zu verschließen. Die Polizei töte und verschleppe Aktivisten - die Lage, sagt Kadeer, sei prekär.
Unterstützung anderer Staaten bekommt sie dennoch kaum, auch weil so viele von ihnen wirtschaftlich auf China angewiesen sind. Die letzte Chance, Recht und Würde der Menschen zurückzuerobern, liegt deshalb bei Aktivisten wie denen, die sich jetzt in Tunis versammeln - glaubt auch Jean Ziegler: "Es braucht die Zivilgesellschaft, da ist die Hoffnung. Der Nationalstaat ist nicht wiederbelebbar, die Konzernmacht hat ihn zerstört."
Das Vakuum, das die zerfallenden Nationalstaaten hinterlassen, versuchen auch andere zu füllen: die Terroristen etwa, die im tunesischen Nationalmuseum 21 Menschen ermordet haben. Es gibt also gleich mehrere Gründe, auf den Sieg der globalen Zivilgesellschaft gegen das zu hoffen, was Jean Ziegler eine "kannibalische Weltordnung" nennt.
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