ZEIT ONLINE: Herr Thüsing, haben wir in unserer Arbeitswelt ein Problem mit der ständigen Erreichbarkeit?
Gregor Thüsing: Nicht immer - aber vielleicht immer öfter. Die Arbeitswelt hat sich in den letzten Jahren von einer analogen zu einer digitalen gewandelt. Je mehr Möglichkeiten sich ergeben, von anderen Orten, zu anderen Zeiten oder mal kurz zwischendurch zu arbeiten, desto höher wird die Versuchung, dass der Arbeitnehmer dazu auch verpflichtet wird oder sich auch nur verpflichtet fühlt. Das läuft nicht überall so, aber in immer mehr Betrieben und Unternehmen. Deswegen muss man schauen, ob das Arbeitszeitrecht, also die Regelungen, die besagen, wann ein Arbeitnehmer arbeiten muss oder nicht, angepasst werden sollte.
Gregor Thüsing46, ist Direktor des Instituts für Arbeitsrecht und Recht der sozialen Sicherheit an der Universität Bonn.
ZEIT ONLINE: Und wie sollte so eine Anpassung aussehen?
Thüsing: Es geht darum, zu erarbeiten, welche geringfügigen Störungen der Freizeit wir hinnehmen wollen, was also zulässig sein kann und was eben eine Zumutung ist. Es sind ja ganz unterschiedliche Situationen, auf die ein Arbeitszeitrecht eingehen muss. Es gibt kurze Unterbrechungen, die vielleicht sogar im Interesse beider Seiten liegen, die nicht belasten. Man liest lieber Samstagsabend noch eine Email und beantwortet sie kurz, wenn diese am Montag eine Stunde Meeting überflüssig macht. Andererseits gibt es Situationen, da ist es dem Arbeitnehmer gar nicht so recht, gestört zu werden. Zum Beispiel wenn er einen schönen Abend verbringen will, ein Kinderbuch vorliest oder aus einer anderen Freizeitaktivität herausgeklingelt wird und sich verpflichtet fühlt, aktiv zu werden. Die Schwellen der Erreichbarkeit werden durch Email und WhatsApp immer niedriger. Also müssen Hürden her, damit man einen Ausgleich zwischen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen schafft.
ZEIT ONLINE: Im Weißbuch Arbeiten 4.0 der Arbeitsministerin wird das Thema Erreichbarkeit kurz abgehandelt. Dort heißt es: "Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind nicht verpflichtet, für ihren Arbeitgeber in der Freizeit erreichbar zu sein. (...) Deshalb ist kein gesetzlicher Handlungsbedarf erkennbar." Wird da ein Problem vertagt?
Thüsing: Es ist die klassische Funktion des Arbeitszeitrechts, Grenzen zu setzen. Es kann niemand dazu verpflichtet werden, rund um die Uhr erreichbar zu sein. Ich würde mir wünschen, dass der Gesetzgeber das Arbeitszeitrecht auf unsere heutige Gesellschaft anpassen würde. Das würde Gelegenheit für Diskussionen schaffen. Die Schwellen, Arbeitnehmer zu erreichen, werden niedriger, also müssen wir die Hürden darauf abstimmen.