Zur Person
Marcus Thieme (38) unterrichtet an einer Hamburger Stadtteilschule. Am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung leitet er den Bereich Gender. Thieme berät Schulleitungen und Lehrer zur Jungenpädagogik.
Herr Thieme, jahrzehntelang wurden Mädchen gefördert. Jetzt wird der Ruf nach Jungenpädagogik laut. Warum?Viele Jungen sind verunsichert, wissen nicht, wie sie sich verhalten sollen und können auch nicht darüber reden. Sie haben es oft nicht gelernt. Ihnen fehlen männliche Rollenvorbilder und zwar in den Familien, in den Kindergärten und Schulen. Auch fühlen sich manche Jungen überfordert von den Erwartungen, die an sie gestellt werden. Von Jungen wird meist angenommen, dass sie im Alltag zurechtkommen, während Mädchen da eher behüteter eingepackt werden.
Warum kommen Lehrer zu Ihnen?Weil Pädagogen aller Schulformen und Altersklassen bei diesem Thema ratlos sind. Sie wollen dazu lernen und rufen mich an, damit ich an ihre Schule komme und helfe. Ich mache meinen Job am Institut erst seit diesem Frühjahr, habe aber jetzt schon Wartelisten, die in das nächste Jahr hineinreichen. Jungen gelten leider als die Bildungsverlierer an den Schulen, sie knicken im Leistungsvergleich zu Mädchen schneller ab, sind eher sozial auffällig, stören den Unterricht.
Welchen Rat geben Sie?Ich gebe Lehrern Tipps, wie sie Jungen in ihren Klassen wieder integrieren, bevor sie sie bestrafen oder fallen lassen. Im Idealfall bauen sie eine gute Beziehung zu den Jungen auf. Aber ein Lehrer muss natürlich auch bereit sein, sich selbst und seinen Unterrichtsstil zu verändern.
Wie geht das?Indem man Lehrern eine differenzierte Sichtweise auf Mädchen und Jungen eröffnet. Während Mädchen meist im Unterricht sehr angenehm sind und keine Kopfschmerzen bereiten, weil sie in der Schule oft sehr gut funktionieren, werden Jungen im Gegensatz leicht als Störenfriede wahrgenommen. Hier geht es darum, das System aufzubrechen. Ein Lehrer sollte raues Verhalten nicht sofort sanktionieren, sondern die Jungen verstehen lernen und sie ernst nehmen.
Was heißt das konkret für de Unterricht?Ich setzte in meinen Klassen sehr viel auf Bewegung. Manchmal schicke ich die Jungen mitten im Unterricht nach draußen, damit sie auf dem Schulhof eine Runde Laufen gehen. Sauerstoff und Auspowern kann Wunder bewirken. Ich finde auch Raufereien und Spaßkämpfe in Maßen untereinander völlig in Ordnung, weil die Jungen sich so abreagieren und Stress loswerden. Kämpfe sind legaler Körperkontakt, während Kuscheln nun mal oft als uncool gilt. Außerdem habe ich einen Jungenraum an meiner Schule aufgebaut, indem man sich am Nachmittag trifft. Auch hier geht es um Bewegung, aber auch um Dinge, die man mal unter sich besprechen kann. Eine Art Jungenkonferenz, die Sicherheit und Vertrautheit geben soll.
Gibt es eine besondere Strategie, wenn Jungen aus Migrantenfamilien sich auffällig verhalten?
In meiner Klasse haben 50 Prozent der Kinder einen Migrationshintergrund. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man als Lehrer jedes Kind individuell betrachten sollte. Egal, woher es kommt. Klar gibt es auch immer problematische Fälle. Jungen, die zum Beispiel besonders aggressiv sind oder es besonders schwer haben, einen Abschluss zu machen. Hier zeige ich Lehrern, wie sie sich ganz klar verhalten und Grenzen setzen können. Sie müssen einerseits transparent, gerecht und freundlich sein. Andererseits muss klar sein, dass der Lehrer Alpha-Tier in der Klasse ist - nicht die Schüler. Manchen Pädagogen muss man das erst nahebringen.
Wie sieht für Sie als Lehrer-Berater der ideale Unterricht aus?Mädchen und Jungen sollten sich gleichermaßen in der Schule wohlfühlen und dieselben Chancen haben. Das heißt, dass alle Schüler gefördert werden sollten, damit es nicht zu einer Schieflage kommt. Wenn es also um das Thema Jungenarbeit geht, dürfen natürlich die Mädchen nicht aus dem Blick geraten.
Interview: Katja Kasten