Ihren neuen Roman »Grime.Brainfuck« präsentieren Sie mit Performances. Sie treten mit Videos, Musik und Schauspielern auf. Möchten Sie als Autorin in den Hintergrund des Romans treten?
Dass wir bei dieser Tour zehn Beteiligte haben, ergab sich für mich aus der Thematik des Buches, das aus vielen Stimmen und Geschichten besteht. Und natürlich aus den vier jugendlichen BuchheldInnen. Und aus meiner Vorliebe, Lesungen zu multiartistischen Performances zu machen, damit ich die ZuhörerInnen nicht langweile.
Sibylle Berg
Wurde 1962 in Weimar geboren, verließ 1984 die DDR und lebt heute in Zürich und schreibt Prosa und Theaterstücke. Sie arbeitete als Puppenspielerin, Akrobatin, Gärtnerin, Putzfrau, Sekretärin und Versicherungsvertreterin, bevor sie 1997 als Schriftstellerin bekannt wurde. Katharina Schwirkus sprach mit ihr in Berlin.Das Buch funktioniert, wie die meisten Bücher, am besten in dem man es von vorne nach hinten liest. Auch wenn es in der Geschichte viele Seitenstränge gibt, Ausflüge in die Gehirne der künstlichen Intelligenz, Geschichten, die beschreiben, wie es sich mit virtueller Realität und der Wohnungsknappheit und dem Krieg der Reichen gegen die Armen verhält, ist das Buch doch in einer Logik geschrieben, die sich erst erschließt wenn man es von vorne beginnt, und am besten bis hinten durchhält.
Lesen Sie hier: Frau Berg übertrifft sich selbst - Sibylle Berg veranstaltet Performance-Shows zur Vorstellung ihres neuen Buches.
Wieso spricht eine der zwei weiblichen Schauspielerinnen Englisch? Im Buch schreiben Sie doch stringent auf Deutsch? Stellen beide Frauen vielleicht den Hauptcharakter »Don« dar, aber unterschiedliche Seiten von ihr?
Das ist ein guter Gedanke, den wir Lieder nicht hatten. Beverly Mukunyadze lebt seit drei Jahren in Deutschland, und wir fanden ein wenig Englisch ist dem Publikum zuzumuten. Zumal es so eine große Freude ist, sie zu sehen und zu hören.
Hat Beverly Mukunyadze auch in England gelebt?
Nein, in Zimbabwe.
Wie lange waren Sie insgesamt für die Recherche in England? Und wie lange in Rochdale?
Ich war während zweier Jahre immer wieder in England. In Liverpool, Manchester, Salford, in Rochdale und vielen anderen Städten im Norden des Landes. Ich habe Hunderte von Gesprächen geführt, und fantastische Menschen getroffen. Ich habe die siebzig Prozent Englands studiert, die nicht von Ausländern erworbenes, teures Londoner Innenstadteigentum oder Filmkulissenhaftes Oxford sind.
Würden Sie »GRM« als Ihr politischstes Werk beschreiben?
Es ist vielleicht das dezidiert politisch aktuellste Buch. Weil ich für mich viele Fragen beantworten wollte, die aus der Thematik einer immer gespalteneren Welt, der Verbindung von Technik, Digitalisierung und Politik, entstehen. Und damit, wie sich all jene Entwicklungen die schwer zu begreifen sind, auf unser aller Leben auswirken. Die meisten meiner Bücher sind jedoch politisch, weil sie sich fast immer mit aktuellen Fragen der Gesellschaft, der Zeit, und der menschlichen Unfähigkeit, andere sein zu lassen, beschäftigen.
Hat ihre eigene Kindheit eine Rolle gespielt, um die schlimme Kindheit der Hauptfiguren in Rochdale zu beschreiben?
Sagen wir so: Ich weiß, wie sich Armut anfühlt, ich weiß, wie sich das Ausgeliefertsein und die absolute Einsamkeit in Kindheit und Jugend anfühlen. Davon abgesehen, muss man nicht alles selber durchlebt haben, was man künstlerisch in welcher Form auch immer, ob in Film, zeitgenössischer Kunst, Theater oder Literatur, verarbeitet.
Stimmt es, dass Sie auch mal mit Autohandel Geld verdient haben?
Ja, ich stehle im großen Stil Autos in der ehemaligen Sowjetunion, lasse sie neu lackieren und verkaufe sie in Münchner Vororten. Also, ja. Also nein, niemals.
Was, denken Sie, macht Ihren Beruf aus?
Ich vermute, dass es ein Talent ist, genau beobachten zu können, oder dass man es trainieren kann, viel zu sehen. Kleinigkeiten, Verhaltensweisen, oder auch nur das Aussehen eines Hauses, eines Anzuges, eines Ticks, geben Rückschlüsse auf Gefühle und Zustand eines Menschen. Schauen ist eigentlich mein Beruf. Genau hinsehen, hinhören, sich lange Zeit nicht bewegen.
Am Ende der Performance machen Sie auf »Ruffsqwad« aus London aufmerksam. Sie erklären, dass Sie den 14-jährigen Rapper T.Roadz, der eine zentrale Rolle bei ihren Auftritten spielt, über diese Organisation gefunden haben. Verdient T.Roadz für seine Rap-Einsätze Geld?
Die Zusammenarbeit mit T.Roadz und seinen Begleitern, Prince Rapid und Slix entsandt aus der beiderseitigen Freude an einem ungewöhnlichen Projekt. Und basiert auf gegenseitigem Respekt. Natürlich haben wir ganz normal Verträge gemacht und das finanzielle geregelt.
Erhoffen Sie sich, dass Menschen für diese Organisation Geld spenden, die durch Ihre Buchvorstellung auf sie aufmerksam geworden sind?
Ich fände es großartig, dass gerade jetzt, wo Europa fragil ist und auseinanderzubrechen scheint, das Interesse aneinander weiter bestärkt wird. Der Gedanke, dass uns alle sehr viel mehr verbindet als trennt, ob wir in England, Deutschland Italien oder in Finnland leben. Die Arbeit von der Ruffsqwad Arts Foundation hat mich so begeistert, dass es fantastisch wäre, wenn mehr Menschen hierzulande davon wüssten, und sich inspirieren lassen würden.
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