Unbewusste Vorurteile
„Ich habe als Dolmetscherin gearbeitet und wurde für die Putzfrau gehalten"
Wenn Frauen im Berufsleben Vorurteilen ausgesetzt sind, geschieht das teilweise unbewusst - weil viele Klischees tief in der Gesellschaft verankert sind. „Unconscious Bias" heißt der Fachbegriff für diese Voreingenommenheit. Drei Erfahrungsberichte.
Denken Sie doch mal an einen 30-jährigen Mann im gut sitzenden Anzug. Und dann an eine 29-jährige Frau mit bunt gefärbten Haaren und auffälligen Tätowierungen. Wem würden Sie eher einen Beruf in der Führungsetage eines mittelständischen Unternehmens zutrauen?
Wenn Sie jetzt an den jungen Herrn gedacht haben, dann war das eine klischeebehaftete Annahme - denn Sie wissen weder etwas über den Karriereweg noch über die Fähigkeiten der beiden. Diese Form der Voreingenommenheit nennt sich „Unconscious Bias", zu Deutsch: unbewusstes Vorurteil.
Solchen Vorurteilen sehen sich viele Menschen täglich ausgesetzt, weil sie wegen ihres Geschlechts, ihres ethnischen Hintergrundes, ihres Alters oder auch einfach wegen ihres Modegeschmacks stereotypisch eingeordnet werden. Das ist von ihren Mitmenschen meist gar nicht böse oder diskriminierend gemeint, sondern auf automatische Denkprozesse unseres Gehirns zurückzuführen. Und das kann beim Türsteher im Club ebenso passieren wie im Bewerbungsgespräch oder Job.
Denn pro Sekunde nehmen wir etwa elf Millionen Informationen auf - verarbeiten können wir aber nur 40 bis 50. Um ressourcenschonend und effektiv durch den Alltag zu navigieren, laufen deshalb 90 Prozent aller Wahrnehmungs- und Denkprozesse unbewusst ab. Einfache Entscheidung treffen wir instinktiv, indem wir auf Erfahrungen zurückgreifen. Das ist prinzipiell wichtig, denn das vereinfacht das Leben und hilft, Gefahren besser einzuschätzen. Wir wissen automatisch, dass wir an einer roten Ampel stehen belieben müssen oder die Hand nicht auf die heiße Herdplatte legen sollten. Riskant wird es aber, wenn wir diese automatischen Entscheidungsprozesse auf Personen anwenden. Das erzeugt Rollenzuschreibungen, die sich für Betroffene nicht nur unfair anfühlen, sondern auch ihre Karriere behindern und schlimmstenfalls zu Diskriminierung führen können.
Wie entstehen unbewusste Vorurteile?
Wir haben nur ein, zwei Informationen über eine Person, etwa das Alter und das Geschlecht, und denken uns automatisch Eigenschaften hinzu, die wir von anderen Personen des gleichen Alters und gleichen Geschlechts kennen, erklärt Diversitätstrainerin Hanna Völkle. Sie arbeitet für das unabhängige Forschungs- und Beratungsinstitut EAF Berlin, das Unternehmen in Vielfalt und Chancengleichheit schult. Der Mensch umgebe sich gern mit ihm ähnlichen Menschen. Mit Gleichaltrigen oder Personen, die aus einem ähnlichen sozialen Milieu stammen würden, erklärt Völkle. „Das stiftet automatisch Vertrauen, da wir annehmen, dass wir ein geringeres Risiko eingehen als mit einer fremd wirkenden Person."
Wer einen Job bekommt oder befördert wird, hängt häufig viel stärker vom Aussehen und Auftreten der Bewerber ab als von ihren Fähigkeiten. Diejenigen, die die Personalentscheidung treffen, bemerken dabei oft gar nicht die eigene Voreingenommenheit, sagt Völkle: „Unbewusste Denkmuster können entgegen individuellen Überzeugungen und Werten ablaufen."
Insbesondere Frauen sehen sich häufig stereotypisierten Vorurteilen ausgesetzt. Zum Beispiel der Attributionsverzerrung: Mitarbeiterinnen wird Erfolg oft aufgrund einer günstigen Situation zugeschrieben - Mitarbeitern aufgrund ihrer Fähigkeiten. „Competency-Likeability-Bias" beschreibt hingegen das Phänomen, dass Durchsetzungsstärke bei Männern positiv gesehen wird, dominante Frauen dagegen schnell streng oder rechthaberisch wirken. Und Mütter treffen sogenannte „Material Bias": Sie werden häufig aus Führungsposition ausgeschlossen, weil ihnen aufgrund ihrer Kinder mangelnde Flexibilität unterstellt wird. Glauben Sie nicht? Bis heute gibt es mehr Männer in deutschen Vorstandspositionen als Frauen.
Diese gendertypischen Vorurteile mischen sich dann noch mit Vorurteilen über das soziale Milieu, die ethnische Herkunft, die Attraktivität oder das Alter einer Frau und lassen Betroffene oft hilflos zurück. Denn auch wenn oberflächlich vielleicht keine Diskriminierung zu spüren ist, die Karriere trotzdem erfolgreich verläuft - abstreifen lässt sich das Gefühl nicht, von unbewussten Vorurteilen betroffen zu sein - und daran wenig bis gar nichts ändern zu können.
Drei Frauen aus unterschiedlichen Branchen erzählen, welchen Vorurteilen sie sich ausgesetzt fühlen, wie sie damit umgehen und was sie sich für die Zukunft wünschen.
Fatma Sagir, 45, Kultur- und Islamwissenschaftlerin, Künstlerin:
Ich werde aufgrund meines Aussehens häufig unterschätzt - selbst wenn ich wegen meiner Expertise zu Vorträgen oder Podiumsdiskussionen eingeladen werde. Hochkarätige Kollegen drehen sich erstaunt um, wenn ich etwas Kluges sage. Als ob man mir „kleiner Migrantin" das nicht zutraue. Auf solchen Veranstaltungen wurde ich auch schon für die Assistentin eines männlichen Kollegen gehalten - obwohl er mein Assistent war.In jungen Jahren habe ich in Krankenhäusern als Dolmetscherin gearbeitet, da wurde ich mit der Putzfrau verwechselt.
In den wenigsten Fällen stecken böse Gedanken dahinter, sondern eine Voreingenommenheit, die ich anscheinend durch verschiedene Faktoren bediene: Zum einen ist da mein Geschlecht. Ich bin eine Frau. Dann bin ich nur 1,55 Meter groß, sehe freundlich und dadurch ziemlich harmlos aus, meinen ethnischen Background sieht man mir an.
Ich werde oft nach meiner Herkunft gefragt. Sie ist wie ein großer Hinkelstein, der aus dem Weg geräumt werden muss, bevor man Small Talk anfangen kann. Es gibt sogar Kollegen, die versuchen, über das Viertel, in dem ich wohne, Rückschlüsse zu ziehen - weil mein Habitus und mein Bildungsstand auf kein bestimmtes Milieu schließen lassen. Als Doktorandin hatte ich ein besonders einprägsames Erlebnis während einer Mitfahrgelegenheit: Ich war die einzige Person mit Migrationshintergrund im Auto, wir sprachen über Bildungsgerechtigkeit in Deutschland. Der Fahrer brach das Gespräch mitten drin ab, um mich zu fragen, wie es möglich sei, dass ich Abitur hätte und studiert sei - er kenne ausschließlich Türken, die Drogen verkauften. Das beobachte ich öfter: Man führt ein gutes Gespräch, aber ein einziges trennendes Element, nämlich meine offensichtliche Herkunft, soll plötzlich meine ganze Identität definieren.
Ich bin mittlerweile 45 Jahre alt, seit meinem sechsten Lebensjahr spreche ich Deutsch. Seitdem muss ich mein Sein erklären, als ob ich eine Daseinsberechtigung bräuchte. Es ist kränkend, sich immer wieder für seine Herkunft rechtfertigen zu müssen und auch zu sehen, wie schnell Menschen eine bestimmte Haltung einnehmen.
Ich werde aus dem Blauen heraus nach politischen Entwicklungen in der Türkei gefragt. Mir wird sogar ungefragt Loyalität mit diesem Staat vorgehalten. Ich werde regelmäßig auf meinen Platz verwiesen. Das ist anstrengend. Es fühlt sich an, als ob man jemanden grüßt und als Antwort sofort angeschrien wird. Das ständige Erklären macht müde. Ich brauche meine Kraft für meine Arbeit und für meine Kunst.
Ich wünsche mir einen besseren Sprachgebrauch in den Medien und in politischen Gesprächen. Ich ärgere mich zum Beispiel sehr, wenn Medien den Namen eines Mannes nennen und dann nur „seine Frau" schreiben, als hätte dieser Mensch keine eigene Identität. Es gibt mir große Hoffnung, dass die junge Generation gesellschaftliche Verantwortung übernimmt und bewusst versucht, etwas zu ändern. Aber ich bewundere es noch mehr, wenn Ältere ihre erlernte Voreingenommenheit ablegen, weil ich weiß, dass es ihnen oft schwerer fällt.
Stefanie Meyer, 53, Abteilungsleiterin im Versicherungswesen:
Ich arbeite in der Führungsebene einer großen deutschen Versicherungsgruppe und habe vier Kinder. Obwohl im Innendienst der Versicherungswirtschaft mehr Frauen als Männer arbeiten, ist die Führungsebene nach wie vor männlich besetzt. Es war und ist für Frauen schwer, in diesen gefestigten Strukturen voranzukommen.
Als ich vor 20 Jahren die Verantwortung für einen Bereich übernommen habe, schlug mir als junger Frau intern wie extern viel Skepsis entgegen: „Kann die das überhaupt?" Und noch Jahre später wurde gemunkelt, wie ich „da so schnell hochgekommen sei".
Als junge Geschäftsführerin unserer Beratungsgesellschaft hatte ich ein lustiges Erlebnis mit einem Kollegen aus dem Außendienst. Ich rief ihn an, um ihn auf einen Fehler aufmerksam zu machen. Da würde er jetzt aber doch gerne mal mit dem Herr X sprechen, sagte er verschnupft. Ich musste ihn dann aufklären, dass der gute Herr da auch nichts ändern könne - da er nur ein Mitarbeiter von mir sei.
Ein Mann mit goldener Brille und grauen Haaren muss sich viel weniger „beweisen". Wichtig war daher für mich, immer sehr, sehr gut vorbereitet sein. Ich habe gerade zu Beginn meiner Karriere erfahren, dass man als Frau mehr wissen und leisten muss als männliche Kollegen oder Gesprächspartner.
Aber nicht nur als Frau, sondern auch als vierfache Mutter stand ich besonders im Fokus. Tatsächlich bin ich während meiner gesamten Berufstätigkeit genau zweimal frühzeitig nach Hause gefahren, weil es sprichwörtlich gebrannt hat. Mein Mann hat mir - ganz die „klassische" Rollenaufteilung - den Rücken freigehalten und zugunsten unserer Kinder auf eine Berufstätigkeit verzichtet. Da die Familie somit auf mein Einkommen angewiesen war, musste mein Arbeitgeber nur während des Mutterschutzes auf mich verzichten, abgesehen von dieser Zeit bin ich seit 25 Jahren durchgehend Vollzeit berufstätig.
Trotzdem wurde mein Muttersein immer wieder zum Thema gemacht. Beispielsweise wenn es um Dienstreisen ging: „Da haben wir Sie jetzt nicht berücksichtigt, Sie haben ja kleine Kinder." Ein Versuch, die wahren Gründe nicht nennen zu müssen, denn ich habe nie eine Reise mit Hinweis auf die Familie abgesagt. Als ich mit dem dritten Kind schwanger war, wurde mir unterschwellig das Gefühl vermittelt, ich hätte ja schon zwei - was das denn jetzt noch solle. Einige Jahre später wurde ich auf einer Veranstaltung mit den Worten vorgestellt: „Das ist die Frau Meyer, die mit den vielen Kindern." Niemals würde man so einen Mann vorstellen!
Auch Kritik zu äußern ist als Frau schwieriger. Schnell wird unterstellt: „Die kann mit dem nicht." Ich habe mich oft gefragt, was und wie ich etwas offen sagen kann, ohne mir damit zu schaden. Auch heute noch gibt es Männerzirkel, zu denen man als Frau keinen Zutritt hat. Und immer noch wird unterschwellig gefragt „Ist das mal wieder eine Quotenfrau?"
Für mich dagegen ist es normal, in Besprechungen die einzige Frau zu sein. Bereits im Studium - ich habe Versicherungswesen mit Schwerpunkt Lebensversicherung und Versicherungsmathematik studiert - gab es einen Männerüberschuss. Professorinnen? - Fehlanzeige. Und später, bei Tagungen, waren vielleicht zehn Prozent der Anwesenden weiblich. Ich bin dann oft in einem gelben oder roten Kleid zu den Veranstaltungen gefahren. Ein kleiner, aber auffälliger Farbklecks in einem Meer aus dunkelblauen Anzügen.
Auch heute Morgen saß ich wieder allein mit acht Männern am Konferenztisch. Mir macht mein Beruf trotzdem viel Spaß, ich würde das immer wieder so machen. Aber ich wünsche mir, dass die Leistung von Frauen anerkannt wird, ohne dass über uns gewitzelt wird. Und auch wenn mittlerweile schon deutlich mehr Frauen in Führungspositionen arbeiten, gibt es noch viel Luft nach oben.
Sophie*, 23, Medizinstudentin:
Als Medizinstudentin nehme ich oft Blut ab. Ich arbeite auf einer Station für Innere Medizin, dort habe ich hauptsächlich mit alten Patienten zu tun - alt heißt bei uns ab 70 Jahren. Ich werde trotz meines Arztkittels immer wieder als „Schwester" angesprochen, obwohl in unserem Krankenhaus nur Ärzte und Medizinstudenten Blut abnehmen, keine Pflegekräfte. Aktuell macht mir die Verwechslung nichts aus, schließlich habe ich während der Blutabnahme nur kurz Kontakt mit den Patienten. Ist die Vene gut, bin ich in zwei Minuten fertig und verabschiede mich. Ich sage mir in solchen Situationen: Du bist noch keine Ärztin, es ist nicht schlimm, dass die Patientin dich nicht als solche identifizieren. Ich habe mit 19 Jahren angefangen zu studieren, mittlerweile bin ich 23 - natürlich sehe ich jung aus.
Meine Bedenken drehen sich aber um die nahe Zukunft: In zwei Jahren bin ich fertig, mit 25 werde ich Ärztin sein. Aber ich werde in zwei Jahren nicht anders aussehen als jetzt. Ich werde weiterhin von älteren Patienten als Krankenschwester gesehen werden. Daran wird auch kein Namensschild, auf dem Doktor steht, etwas ändern. Es beschäftigt mich, dass ich aufgrund meines Aussehens dann vielleicht nicht als Respektsperson wahr- und ernst genommen werde. Oder dass meine Diagnosen deshalb angezweifelt werden könnten. Trotz meines Fachwissens und meiner Expertise.
Ich bin froh, dass ich mit meinen 1,72 Meter relativ groß bin und viel Selbstbewusstsein habe. Für meine Studienkolleginnen, die schüchterner sind und kleiner als ich, ist es noch schwieriger, als Ärztin „erkannt" zu werden. Männer haben das Problem nicht. Mein Freund studiert auch Medizin, er ist 1,90 Meter groß und breit gebaut, wenn er den Raum betritt, ist er automatisch der „Herr Doktor". Er wurde noch nie mit einer Pflegekraft verwechselt.
Schlimmer als die Verwechslung von Patienten ist für mich, wie ich als Frau von älteren Kollegen behandelt werde. Mein Geschlecht ist ständig Thema. Dass ich ja eh irgendwann Kinder bekommen werde. Und wann ich sie bekommen möchte. Und dass das nicht mit einer Karriere vereinbar sei. Das kann der eigene Hausarzt sein, der fragt, wie man sich das als Frau eigentlich vorstelle. Oder ein betreuender Chefarzt, der zwar super freundlich ist - von dem aber jeder weiß, dass es ihm am liebsten wäre, würden Frauen ihren Uterus bei der Einstellung gleich mit abgeben. Oder es sind Doktorväter, die Medizinstudentinnen Themen für die Doktorarbeiten empfehlen, die besonders schnell gehen - weil die Frau ja schwanger werden könnte.
Die Patienten, die mich mit einer Pflegekraft verwechseln, weil sie nicht verstehen, dass Frauen Ärztinnen sein können, werden irgendwann aussterben. Aber an dem Fakt, dass ich eine Frau bin und Frauen biologisch nun mal die sind, die Kinder bekommen, kann ich nichts ändern. Ich würde mir wünschen, dass Wege entwickelt werden, die die Familienplanung für Medizinerinnen einfacher machen. Dann wäre unser Geschlecht nicht mehr permanent Gesprächsthema.
* In einer früheren Version dieses Artikels waren der Klarname der Medizinstudentin und ihr Foto zu sehen. Sie hat die Redaktion gebeten, ihre Identität zu schützen - aus Angst vor Benachteiligung im Berufsleben.