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Critique

Wenn der Dschihad ins Wohnzimmer kommt

Immer wieder ziehen europäische Jugendliche in den „Heiligen Krieg“ nach Syrien. Wie der Cyber-Dschihad an heimischen Computern Jugendliche anwirbt, hat die französische Journalistin Anna Erelle (Pseudonym) als junge Konvertitin Melodie live erlebt – heute lebt sie unter Polizeischutz und in ständiger Angst um ihr Leben.



Melodie ist zwanzig Jahre und lebt in Toulouse, ohne Vater und in armen Verhältnissen mit einer Mutter, die sich zwischen verschiedenen Jobs zerreißt, um ihre beiden Kinder zu versorgen. Melodie ist zum Islam konvertiert und gibt sich devot, verletzlich und streng gläubig auf ihrem Facebook-Profil. Melodie ist in Wirklichkeit eine französische Journalistin Anfang dreißig. 


Schon lange beschäftigt sich Anna Erelle mit dem Islamischen Staat und vor allem damit, wie der Dschihad es schafft, junge EuropäerInnen zu rekrutieren und nach Syrien zu locken. Eines Tages wird ihr extra dafür angelegtes Profil von einem hochrangigen Kommandanten des IS, Abu Bilel, angeschrieben: „Salam alaikum, Schwester. Bist du Muslimin? Was hältst du von den Mudschaheddin? Hast du vor, nach Syrien zu kommen?“ 


In diesen Worten sieht Anna ihre Chance, aus erster Hand an geheime Informationen des IS zu kommen und zu verstehen, wie der Cyber-Dschihad es immer wieder schafft, junge Mädchen als Ehefrauen nach Syrien zu locken. Sie schlüpft nun ganz in die Rolle der Melodie, schreibt mit Abu Bilel und lässt sich zum Schein auf seine Avancen ein. Verschleiert in Hijab und Djelleba spricht sie stundenlang über Skype mit ihm, sieht Bilder von grausamen Exekutionen und Abu Bilel inmitten verstümmelter Leichen Ungläubiger, alles im Namen Allahs und doch reine Propaganda, nur um sie zu locken. Ein Leben als Ehefrau an seiner Seite in einer großen Familie nach den Regeln der Scharia wird ihr versprochen. Plötzlich ist sie verlobt, sogar verheiratet wird sie trotz ihrer Abwesenheit. Nach den radikalen Gesetzen des IS ist dies möglich, sobald sie einen Fuß auf syrischen Boden setzt ist diese Ehe tatsächlich rechtskräftig. Melodie gibt sich geschmeichelt, gehorcht Abu Bilel zum Schein und versucht durch geschickte Naivität an geheime Informationen und Strategien zu kommen. Bis zur syrischen Grenze will Anna Erelle als Melodie reisen, um die Routen zahlreicher junger Menschen nachzuvollziehen, die in den „Heiligen Krieg“ ziehen. Doch sie fliegt auf, kurz vor ihrem Ziel. Der IS ruft eine Fatwa aus, in der jeder gläubige Muslim dazu aufgerufen wird, Anna qualvoll zu töten, sollte er ihr begegnen. Ein Leben unter ständigem Polizeischutz beginnt.


In ihrem Buch „Undercover Dschihadistin – Wie ich das Rekrutierungsnetzwerk des Islamischen Staats ausspionierte“ beschreibt Anna Erelle ihre Geschichte, in der aus investigativer Neugier ein Leben in ständiger Gefahr wird. Schon die ersten Seiten fesseln den Leser wie ein gut konstruierter Thriller. Immer wieder muss man sich vor Augen führen, dass die beschriebenen Erlebnisse real sind, dass es auch unsere Kinder treffen könnte. Anna Erelle beschreibt eindrucksvoll ihre Gefühle und klärt nebenbei über die Machenschaften des IS auf. Ihr unerschütterlicher Mut, trotz der Gefahr ihre Erlebnisse zu veröffentlichen, ist bewundernswert. Am Ende des Buches bleibt ein Leser zurück, der wahrscheinlich erstmals versteht, wie nah der IS wirklich ist und dass aus tausenden Kilometern ein Blick ins Wohnzimmer werden kann.



Titel: Undercover Dschihadistin – Wie ich das Rekruierungsnetzwerk des Islamischen Staats ausspionierte


Autorin: Anna Erelle


Übersetzung: Martina Bunge, Eliane Hagedorn und Barbara Reitz


Verlag: Droemer Verlag

Erschienen: 4. Mai 2015


Seiten: 272 


Cover: Hardcover


ISBN: 978-3-426-27671-6


Preis: 19,99 €