25. August, 31,5 °C, 55 Prozent Luftfeuchtigkeit und ein Nest aus Tüchern, die dem Baby das Gefühl geben sollen, es läge noch im Bauch der Mutter. Seit neun Wochen ist das Cloés Zuhause: Die Frühgeborenen-Intensivstation des Universitätsklinikums Münster, Station 19 A West, Zimmer vier.
15 Wochen vor dem errechneten Termin kam Cloé, die eigentlich anders heißt, zur Welt. Die Wehen setzten zu früh ein – die Geburt konnte nicht mehr aufgehalten werden. Cloé wog damals 500 Gramm, so viel wie eine Packung Spaghetti. Jede Hand war so klein wie eine halbe Walnuss. Wochenlang war ihr Zustand kritisch. Sie wurde über einen Schlauch in der Nase mit Sauerstoff versorgt, weil sie nicht allein atmen konnte. Ihre Lunge war unterentwickelt, ihr Immunsystem sehr schwach.
Inzwischen wiegt Cloé 1.300 Gramm. Beinahe dreimal so viel wie vor neun Wochen, direkt nach der Geburt. Ihr Zustand scheint sich zu stabilisieren, aber ob sie es schafft, ist noch nicht sicher. Die Ärzt:innen und Pfleger:innen untersuchen sie jeden Tag. Doch sie können noch nicht sagen, ob ihre Lunge durchhält, ob Cloé sehen können wird und ob sich ihr Gehirn gesund entwickelt.
Jedes neunte bis zehnte Neugeborene kommt vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt. Cloé gehört zu den sogenannten frühen Frühchen, die zwischen der 24. und der 28. Schwangerschaftswoche geboren werden — das heißt, nach sechs bis sieben Monaten Schwangerschaft. Frühchen brauchen oft über Monate hinweg medizinische Hilfe, bevor ihre Eltern sie, wenn alles gut verläuft, zum regulären Geburtstermin nach Hause holen dürfen.
Die Frühgeborenen sind gefährdeter, Hirnblutungen zu bekommen, manchmal wird das Gehirn auch nicht ausreichend durchblutet. Dadurch steigt das Risiko einer Entwicklungsstörung. Das Rechnen, Lesen, Rechtschreiben, Sprechen oder bestimmte Bewegungen fallen ihnen häufig schwerer als anderen, reif geborenen Kindern. Einige von ihnen sind später anfälliger für Atemwegsinfekte.
Die Überlebenschancen eines Babys steigen Woche für Woche, Tag für Tag, je länger es im Bauch der Mutter bleibt. Kinder, die vor der 22. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, haben in der Regel kaum eine Chance, zu überleben. Bei den ganz kleinen Frühchen, die wie Cloé zwischen der 23. und der 24. Schwangerschaftswoche geboren sind, überleben etwas mehr als zwei von drei Kindern. Vier von fünf Babys schaffen es, wenn sie zwischen der 24. und der 26. Schwangerschaftswoche geboren werden. Von den späteren Frühchen überleben weit mehr als 90 Prozent. Das Geburtsgewicht spielt dabei eine wichtige Rolle. Je leichter das Kind, desto schwerer haben es die Ärzt:innen und Pfleger:innen.
Die 27-jährige Kinderkrankenpflegerin Merle Bachmeyer, maskiert und mit zurückgebundenen Haaren, wirft noch einen Blick auf die Monitorfront im Eingangsraum der Station, bevor sie zu ihren kleinen Patient:innen geht. Die Bildschirme zeigen die Daten aller Kinder an. Zwölf Frühchen in sechs Zimmern, sie werden rund um die Uhr überwacht. Bachmeyer kümmert sich heute um Cloé und um Falk, der im Bettchen ihr gegenüber liegt.
In unregelmäßigen Abständen piepsen die Apparate im Zimmer der beiden Babys. Minimal zu hohe Sauerstoffsättigung, minimal zu niedriger Herzschlag, unregelmäßige Atemfrequenz: Elektroden messen, wie es den Kindern geht.
Gerade liegt Cloé auf der Brust ihrer Mutter. Hört ihren Herzschlag, spürt die Körperwärme, riecht an der Haut. Känguruhen nennen die Pfleger:innen das. „Wollen Sie noch kuscheln oder können wir mit der Pflege anfangen?“, fragt Bachmeyer Cloés Mutter. „Wir können gleich starten“, antwortet Katharina, deren Namen wir ebenfalls geändert haben. Sie greift zu einem Handspiegel und schaut sich und ihre Tochter an, beobachtet noch einen Moment lang, wie sich das Baby an ihre Brust anschmiegt.
Katharina desinfiziert sich die Hände, kippt sich etwas Öl auf den Finger, massiert über die roten Druckstellen, die das Beatmungsgerät auf Cloés Nase hinterlassen hat. In den ersten Tagen durften Katharina und ihr Mann Cloé nicht streicheln, so dünn war die Haut ihrer Tochter, so verletzlich.
Seit zwei Wochen helfen die Eltern bei der Pflege. Merle Bachmeyer und ihre Kolleg:innen haben ihnen gezeigt, wie fest sie sie berühren dürfen, wie sie die Haare kämmen und die winzigen Windeln wechseln sollen.
Ganz sanft, ganz vorsichtig streichelt Katharina ihre Tochter. Fasst die Mutter etwas außerhalb des Brutkastens an, desinfiziert sie sich sofort die Hände. Immer und immer wieder, bloß kein Risiko eingehen. Katharinas Bewegungen sind langsam, ihr Blick konzentriert. Reize kommen bei Babys verzögert an – zu viele schnelle Berührungen werden zu einer Reizüberflutung und verunsichern die Frühchen.
„Dass die Eltern bei der Pflege mithelfen, ist unglaublich wichtig für die Entwicklung des Kindes“, sagt Merle Bachmeyer. Sie hält Cloés Hände, während Katharina ihrer Tochter die Windeln wechselt. „Sie brauchen Hautkontakt und die bekannten Stimmen.“ Kinder seien dann zufriedener, ruhiger und gesundheitlich stabiler.
Langsam fährt die Pflegerin mit einem in Muttermilch getränkten Q-Tip durch Cloés Mund. Das soll die Verdauung im Mund anregen, da das Frühchen die Muttermilch sonst nur über die Magensonde bekommt – 16 Milliliter, alle zwei Stunden. Merle Bachmeyer und Katharina schließen die Bullaugen und bedecken den Brutkasten mit einem türkisfarbenen Stofftuch, damit Cloé schlafen kann.
Während Bachmeyer sich um Cloés Zimmernachbarn kümmert, steht Katharina vor dem Bett ihrer Tochter. Immer wieder hebt sie die Abdeckung hoch, schaut, ob ihr Baby schläft.
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