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Sie | DUMMY 57 Zuhause

So gut wollte ich meine Nachbarin eigentlich nie kennenlernen.


Als ich Frau R. das letzte Mal sah, spuckte sie Blut. Sie rief um Hilfe, ich holte die Sanitäter. „Wie viel haben Sie heute getrunken?“, fragte einer der beiden Frau R. 
„Nicht viel“, antwortete sie, ihre Stimme klang piepsig. „Nur eine Flasche Wodka.“ 
Stille im Raum. 
„Trinken Sie häufiger?“ 
„Seit dreißig Jahren.“ 
„Wissen Sie, dass Sie daran sterben können?“, schrie der Sanitäter sie an. Mein Magen krampfte.
Es war einer dieser intimen Momente aus dem Leben meiner alkoholkranken Nachbarin, die mich seit Jahren begleiten. Nie wollte ich ein Teil davon sein und war es doch seit dem Tag, als ich ihr Nachbar wurde. Ich kenne diese Frau nicht und war ihr doch schon so nah. Ich weiß, wie sie zwischen den Beinen aussieht, kenne aber nicht einmal ihren Vornamen. Ich weiß, wie ihr Kot riecht, aber nicht, ob sie eine Familie hat oder mit wem sie ihren Geburtstag feiert. 53 Jahre soll sie alt sein, das hatte sie der Polizei gesagt. Ich hätte sie auf 68 geschätzt. 
Drei Monate nach unserer letzten Begegnung stehe ich vor ihrer Wohnungstür. Ich habe seither nichts von ihr gehört, sie nicht gesehen. Ich weiß nicht, wie es ihr geht. Ich will nicht mit ihr reden, schon gar nicht plaudern wie mit einer normalen Nachbarin. Denn das ist Frau R. nicht. Ich will nur wissen, ob sie noch lebt. Die Klingel ist kaputt, also klopfe ich. Zunächst so zögerlich, als wollte ich gar nicht, dass sie mich hört. Ich lausche. Nichts. Ich klopfe kräftiger. Niemand rührt sich. 
Seit über drei Jahren wohne ich im selben Haus wie Frau R. Sie im ersten, ich im fünften Stock. Gleich nach meinem Einzug wurde ich vor ihr gewarnt. Werde bei ihr ein Paket abgegeben, stehe sie beim Abholen meist sturzbesoffen an der Tür, erzählte mein neuer Mitbewohner. Er lachte. Sechs Wochen nach meinem Einzug begegnete ich ihr das erste Mal. Im Innenhof kam mir eine Frau mit dicker Brille, faltigem Gesicht und kurzer brauner Dauerwelle entgegen. Eine Frisur, wie sie viele alte Damen tragen, nur ungepflegter. Grußlos ging sie an mir vorbei. Ich schaute ihr erschrocken hinterher und wusste sofort, dass sie es war: Frau R. war von der Hüfte bis zu den Füßen nackt. Von dieser ersten Begegnung erzähle ich noch heute, wenn ich erkläre, wer die verrückte Alte im ersten Stock ist, die zu viel trinkt. Ich lache dann über sie, und die anderen lachen mit. Diese Frau müsste mich nicht weiter kümmern, sie könnte einfach die lustige Party-Geschichte bleiben. Frau R. aber ist mehr. Sie macht mich wütend. Ich helfe ihr. Sie kotzt mich an. Ich mache mir Sorgen. 
Drei Monate nach meinem Einzug kamen die Sorgen zum ersten Mal. Es war Juli. Die Wohnungstür von Frau R. stand einen Spalt offen, Schluchzen drang in das Treppenhaus. „Mama, Mama“, rief eine kindliche Stimme flehend. Ich blieb auf den Stufen stehen. Hatte Frau R. eine Tochter? Die Rufe waren so laut, dass sie auf der Straße zu hören waren. Niemand kümmerte sich. Was, wenn Frau R. tot in ihrer Wohnung lag und ihre Tochter sie leblos gefunden hatte? Ich drückte vorsichtig die Wohnungstür weiter auf. „Hallo, brauchst du Hilfe?“ Keine Reaktion. Hineingehen wollte ich nicht. Ich rief die Polizei. Als die zwei Beamten die Wohnung betraten, fanden sie nur Frau R. Es waren ihre Rufe gewesen, die ich gehört hatte. Die Polizisten nahmen Frau R. mit. Danach sah ich sie länger nicht. Vielleicht war sie in Therapie. Das sagten auch die anderen Nachbarn immer dann, wenn es für längere Zeit ruhig war um Frau R. 
Als sie wieder da war, merkte ich schnell, dass es ihr nicht besser ging. Es ist die Wohnungstür, die jeden neuen Absturz ankündigt. Sie steht einen Spalt offen. Dann strömt der süßlich-modrige Geruch aus der Wohnung ins Treppenhaus. In den Wochen nach ihrer Rückkehr wurden meine Mitbewohner und ich nachts aus dem Schlaf geklingelt, weil Frau R. sich ausgesperrt hatte. Vier, fünf Mal hintereinander, bis wir die Klingel abstellten. Jede Nacht dasselbe. Ihr Verhalten kotzte mich an, sollte sie halt aufhören zu saufen. Auch Frau R. war wütend und riss die Blumen aus dem Beet vor unserem Haus. 
„Wir sind für solche Fälle nicht zuständig“, sagte ein Polizist. „Kümmern Sie sich doch, Sie sind schließlich Nachbarn.“ 
Frau R. ist keine Nachbarin für mich. Sie ist eine Last. Manchmal schäme ich mich für diesen Gedanken, meistens aber nicht. Natürlich half ich ihr trotzdem, wenn sie weinend vor mir im Treppenhaus lag, zwei Schnäpse und ein Bier neben sich. Sonst tat es keiner. Die anderen Nachbarn stiegen über ihre dünnen Beine hinweg oder knallten die Türen zu. 
Frau R. hat offensichtlich niemanden aus der Familie, der sich um sie kümmert. Als ich sie fragte, wer einen Ersatzschlüssel zur Wohnung habe, fiel ihr niemand ein. Ein Nachbar sagte, die Wohnung gehöre ihrer Mutter. Auch eine Schwester soll sie haben. Gesehen habe ich beide noch nie. Frau R. hat auch häufig Untermieter, Studenten oder Kurzzeit-Praktikanten, wie sie das regelt, weiß ich nicht. Ich weiß nur: Auch denen ist die Dame egal. Selbst wenn Frau R. so laut um Hilfe ruft, dass ich es im Treppenhaus höre, sagen ihre Mitbewohner, sie hätten nichts gehört. Manchmal gehöre auch ich zu diesen Ignoranten. Dann, wenn ich das Leben von Frau R. einfach nicht mehr sehen kann. Einmal stieg mir ein beißender Gestank in die Nase, als ich die Tür zum Treppenhaus öffnete. Mir wurde schlecht. Ihre Wohnungstür stand offen, und ich sah mehrere tellergroße braune Flecken auf dem Parkettboden. Sie hatte in ihren Flur gemacht und den Kot verschmiert. Ich zog die Tür zu und ließ die Frau mit dem Gestank allein. Ihre Sucht, ihre Probleme, ihr Leben. 
An anderen Tagen glaubte ich, auf Frau R. aufpassen zu müssen. Als ich das erste Mal einen unrasierten Fremden vor ihrer Wohnung traf, war ich misstrauisch. Er wolle schauen, wie es der Dame gehe, der er am Nachmittag auf der Straße geholfen habe, sagte er. Es war kurz nach ein Uhr nachts, ich blieb neben ihm im Treppenhaus stehen. Frau R. öffnete im Seidennachthemd die Tür, begrüßte den Fremden trunken und bat ihn zu sich herein. Er war nicht der einzige Fremde, der sie nachts besuchte. 
Nüchtern war Frau R. nie, wenn ich sie angetroffen habe. Ich redete nur mit ihr, wenn sie hilflos war. Ein Gespräch entstand trotzdem nie. Ich fragte, wie es ihr gehe, wo ihre Untermieter seien. Ich versuchte, freundlich zu sein – und klang dabei, als redete ich mit einem Kind. Mit ihr, die meine Mutter sein könnte. Begegnete ich ihr Tage nach einem Zusammenbruch wieder, wechselten wir nicht mehr als einen kargen Gruß. Ich glaube, dass sie nicht einmal weiß, in welchem Zustand ich sie schon erlebt habe. 
Nur einmal sah ich meine Nachbarin glücklich. Es war Sommer. Frau R. hatte einen Strohhut auf, trug Shorts und eine Blümchenbluse, unter der ihr Badeanzug zu sehen war. Hinter ihr lief ein Mann mit Dreitagebart, er lächelte. Sie grüßte euphorisch. Die beiden verließen händchenhaltend das Haus. Ich sah den Mann nicht wieder. Wenige Wochen danach stand die Wohnungstür erneut einen Spalt offen. Frau R. auf dem Weg in den nächsten Abgrund. Wimmernd saß sie im Treppenhaus. „Können Sie mich in die Wohnung bringen?“, fragte sie. Der Geruch von Alkohol und Ungepflegtheit umgab sie. Sie griff mein Handgelenk, zog sich langsam daran hoch und hakte sich unter. Es war das erste Mal, dass ich ihre faltige, lederne Haut berührte. „Wo soll es denn hingehen?“, fragte ich. „Ins Schlafzimmer“, stammelte sie. Ich wollte das nicht. Wieder eine Grenze überschreiten, wieder näher ran an die Fremde. Ich tat es trotzdem. Mit tapsigen Schritten ging sie an meiner Seite, vorbei an leeren Schnapsflaschen, bis sie am Bettrand Halt fand. Sie krabbelte auf die Matratze, die Schlappen behielt sie an. Ich schaltete das Licht aus, zog die Wohnungstür hinter mir zu und atmete tief durch. Nur wenige Wochen später spuckte Frau R. Blut. 
Jetzt stehe ich vor ihrer Wohnungstür, will wissen, was mit ihr ist. „Ich will keiner dieser Menschen sein, deren Nachbarin stirbt und über Wochen unbemerkt in der Wohnung liegt“, hat die Studentin aus dem zweiten Stock einmal gesagt. Auch ich denke oft so. Ich sorge mich aus Egoismus. Ich will nicht in der Lokalzeitung landen. Nach meinem dritten Klopfen öffnet sich die Tür. Es ist nicht Frau R., die vor mir steht, sondern ein Untermieter. Frau R. sei weg, seit zweieinhalb Monaten, sagt er. Sie sei im Gefängnis gewesen, zu häufig habe sie Schnaps geklaut. Inzwischen liege sie im Krankenhaus. „Ich weiß nicht einmal, ob sie noch lebt.“ Seine Stimme stockt. „Sie ist eine gute Frau, die einfach zu viel trinkt“, sagt er. „Das wird schon wieder“, antworte ich. Obwohl ich weiß, dass es nicht stimmt.
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