1. Mai, Frankfurt: Für jeden gibt es 30 Kilo Gepäck und 17 Kilo Stahlrad
Katharina
Morgens putze ich
die Fenster, nachmittags stellen unsere Zwischenmieter ihre Rollkoffer
in den Flur, und ich räume unsere Sachen in die Packtaschen: Regenjacke,
Müsli, Antibiotika, Spirituskocher, Karten von Frankfurt nach Teheran.
30 Kilo für jeden, plus 17 Kilo Stahlrad. Die Räder haben wir vor zwei
Wochen gekauft, beladen haben wir sie noch nie. Auf den ersten Metern
fahre ich so ungelenk, dass ich fast ein parkendes Auto streife. Aber es
fährt sich auch eher wie ein Motorrad, ohne Motor.
Christoph
Am Abend brechen wir auf. Katharina fährt komische Schlenker. War sie
nicht mal Fahrradkurierin? Bald verlieren wir unsere winkenden
Zwischenmieter aus den Augen. Als wir keine zehn Kilometer Luftlinie
entfernt in einem Park unser Zelt aufbauen, räumen sie vielleicht gerade
unseren Kühlschrank ein und beziehen unser Bett. Für uns gibt es
Spaghetti al Pesto unterm Sternhimmel, die nahe A5 rauscht romantisch,
dazu Gin Tonic aus Restbeständen, ohne Eis. Unser Zuhause ist nun die
Landstraße.
[ Um mehr Bilder zu sehen, bitte das sehr schön gemachte Original auf faz.net ansehen -> https://www.faz.net/aktuell/stil/drinnen-draussen/nach-teheran-mit-dem-rad-15061316.html ]
3. Mai, Hessen: Zum Baden hat man einen Fluss
Christoph
Wir zelten am
Mainufer. Am Morgen setzt sich Katharina im Schlafsack auf und fährt
sich durch die Haare: „Ähm, wie machen wir das eigentlich mit Duschen?“
Die Frage bleibt unbeantwortet im Zelt stehen. Wofür haben wir denn
einen Fluss? Ich mache Kaffee, um sie abzulenken.
Katharina
Drei Tage schon unterwegs? Höchste Zeit zum Haarewaschen! Aber wo?
Während sich Christoph mit Flusswasser rasiert, bleibe ich noch liegen.
Christoph lockt mich mit frisch gebrühtem Kaffee. So lecker, wie es
klingt, ist es aber nicht. Das liegt nicht nur am Kaffeesatz. Ich
vermisse Espressokocher und Milchschäumer. Immerhin kommt mir das Wetter
bei der Frisur zu Hilfe: Nasse Haare sehen besser aus als fettige.
7. Mai, Schwaben: Wie lange wollt ihr denn unterwegs sein?
Katharina
Am Berg überholt
mich ein älterer Herr. Das kann doch nicht wahr sein! Ah, Elektromotor.
Wohin wir fahren? „Nach Iran.“ - „Ich bewundere Sie“, sagt er. Oft
hatten wir mit unserem Plan Verwunderung hervorgerufen. Christoph
weniger als ich. Er ist in einer Ente nach Südafrika gefahren und hat
Islamwissenschaft studiert. Ich aber hatte bisher wenig mit Muslimen zu
tun. Werde ich mich als Frau in Iran wohlfühlen? Durch die Idee, mit dem
Rad hinzufahren, wurde es mehr auch zu meiner Reise. Schon zum
Kindergarten bin ich mit dem Rad gefahren, mit 13 Jahren schaffte ich
400 Kilometer in drei Tagen. Später Fahrradkurierin, Jedermannrennen.
Das Rad ist mein Verkehrsmittel. Für den Weg nach Iran scheint es uns
beiden ideal. Weil wir sehen wollen, wie diese fremde Welt Stück für
Stück aus unserer entsteht.
Christoph
Der Wandel
beginnt schneller als gedacht: Aus Wiesen und Wäldern werden Raps- und
Kornfelder, statt Frankfurter Grüner Soße gibt es in Schwaben salzige
Gebäckstangen namens „Seelen“ zu kaufen. Am Nachmittag fahren wir einen
langgezogenen Hügel hinauf, oben ruhen Altherren-Radler in zu engen
Trikots, starren auf unser Gepäck und feixen: „Wie lange wollt ihr denn
unterwegs sein? Vier Wochen?“ Katharina reagiert schnell: „Vier Monate.“
Wir freuen uns über die nachhallende Stille.
18. Mai, bei Augsburg: Die Tür der Wanderhütte steht einfach offen
Katharina
Wir übernachten in
einer Wanderhütte am Waldrand. Die Tür war offen, drinnen warteten
Bollerofen und Holzscheite, was für ein Geschenk! Nachts wache ich auf -
schlucken tut weh. Eine Mandelentzündung? Aber doch nicht jetzt!
München liegt in Reichweite, dahinter Wien. Morgens unterdrücke ich die
böse Ahnung mit Halstabletten. Die ersten Kilometer bergab gehen gut.
Bei der leichtesten Steigung aber fahre ich so langsam, dass ich das Rad
kaum in Balance halten kann. Es hat keinen Sinn.
Christoph
Zwei Uhr nachts, Katharina weckt mich: Halsschmerzen. Kann nichts daran
ändern. In München könnten wir uns in der Wohnung eines Freundes
ausruhen, der verreist ist. Doch nach acht Kilometern müssen wir in eine
Pension. Das Fieberthermometer zeigt: Nichts geht mehr.
23. Mai, München: zum viralen Infekt kommt ein bakterieller
Katharina
Der Hals fühlt sich
an wie mit Stahlwolle geschrubbt. Dass ich nach München den Bus genommen
und mich dort ausgeruht habe, hat nicht gereicht. Zum viralen Infekt
jetzt ein bakterieller. Der Arzt verschreibt acht Tage Pause. Wenn es
nicht bald losgeht, schaffen wir es nicht mehr vor der Sommerhitze durch
die Türkei. Christoph wird ungeduldig.
Christoph
Ein paar Tage Pause - denkste! Wir ziehen zu meinem Onkel bei München,
ins Kinderzimmer meiner Kusine. Denn unsere Wohnung ist ja
untervermietet. Wir hatten Entschleunigung gesucht. Aber so viel
Entschleunigung?
11. Juni, Niederbayern: Was antwortet man eigentlich auf – „Grias eich“?
Katharina
Seit gestern wieder
auf dem Rad. Der Raps, an dessen Duft wir uns im Mai so erfreut hatten,
ist verblüht. Nun freuen wir uns über Kornblumen und Mohn. Statt „Hallo“
ruft man uns „Griaß eich“ zu. Was antwortet man darauf? Als uns ein
einzelner Radfahrer entgegenkommt, bleibt keine Zeit zu überlegen. Ich
rufe: „Griaß eich!“
Christoph
In Niederbayern
sehen wir die Spuren des Starkregens: unterspülte Straßen, weggerissene
Brücken, verschlammte Häuser. Bei manchen stand das Wasser innerhalb
einer halben Stunde im zweiten Stock. Wie oft haben wir unser Zelt
direkt am Ufer aufgeschlagen! Ohne Katharinas Krankheit wären wir genau
zum Regen hier durchgekommen.
17. Juni, Österreich: und in der Dämmerung tanzen die Glühwürmchen
Christoph
Plötzlich sind die
Ortsschilder weiß – wir haben die Grenze zu Österreich passiert.
Graureiher ziehen über den Himmel, ein Biber gleitet ins Wasser, in der
Dämmerung tanzen Glühwürmchen. Was meine Kollegen von früher wohl jetzt
machen?
Katharina
Vom Regen am Morgen ist der
Donauradweg wie leergewaschen. Unverhoffte Einsamkeit auf dem
beliebtesten Fernradweg Europas. Christoph zündet sich beim Fahren eine
Pfeife an. Wenn Zufriedenheit ein Geruch wäre, würde sie wie
Pfeifenrauch riechen.
23. Juni, Wien: so wie hier muss der Orient riechen
Katharina
Zum ersten Mal
verstehe ich, was alle an Wien finden. Bei früheren Besuchen wirkte die
Stadt auf mich übermächtig, vor der Prunkkulisse schrumpfte ich
zusammen. Nun sehe ich vor allem schöne Menschen in schönen Kleidern
durch die Parks flanieren und in Cafés plaudern. Wien, das nächste Mal
ziehe ich mein schönstes Kleid für dich an!
Christoph
Spätestens wenn man über den Naschmarkt streift und all die Gewürze
riecht, begreift man, dass es Richtung Orient hier entlang geht: So
riechen Sarajevo und Istanbul!
25. Juni, Slowakei: Wenn man wütend in die Pedale tritt, verfliegt der Ärger
Christoph
Wir haben in Wien
bei einer guten Freundin gewohnt, und ich will ihre Wohnung unbedingt
ordentlich hinterlassen. Das dauert. Als wir um 16.30 Uhr starten, fährt
Katharina wie verrückt. Über die Internet-Plattform „Warmshowers“ -
Couchsurfing für Radreisende - hat sie uns eine kostenlose Übernachtung
in Bratislava organisiert und will nicht zu spät ankommen. 75 Kilometer
bis 21 Uhr bei Hitze und Gegenwind. Nur einmal halten wir kurz, um im
Stehen einen Biskuit zu essen.
Katharina
Anderthalb Stunden zu spät los. Christoph war eingefallen, dass er noch
abwaschen, saugen und einkaufen wollte. Finde ich ja alles gut, aber wir
sind in Bratislava mit Roberto verabredet. „Bitte nicht später als 21
Uhr kommen, damit wir noch etwas Zeit haben“, hatte er geschrieben.
Wütend trete ich in die Pedale. Aber als wir ankommen, hat sich mein
Ärger weggefahren. Im Pub will ich Bier kaufen. Ich frage an der Theke,
ob sie auch Euro nehmen. „Wir haben hier auch Euro.“ Peinlich.
27. Juni, Ungarn: Jetzt müssen wir alle Preise durch 315 teilen
Christoph
In Ungarn ist es mit
dem Euro vorbei, jetzt müssen wir alle Preise durch 315 teilen. Und die
Worte sind auch mit ein paar Grundkenntnissen in europäischen Sprachen
nicht mehr zu dechiffrieren. Wir fahren nach „Stadt mit N, langes Wort“
oder „Beginnt mit R und in der Mitte ein a“. Gyór können wir gerade noch
so aussprechen (wenn auch falsch, wir sagen „Gie-öhr“, es heißt aber
„Güöe“). Was ein hübsches Städtchen, dieses Gie-öhr!
Katharina
Ungarn ist das vierte Land und schon das zweite neue für mich. Ich bin
in Hamburg aufgewachsen, und noch lange nach der Wende kamen die
Ostblock-Staaten auf der touristischen Landkarte meiner Eltern und
Freunde nicht vor. Wir sehen Feldarbeiterinnen, deren Rücken krumm
geworden sind. Wir sehen üppige Gemüsegärten vor sanierungshungrigen
Häusern. Und ich ertappe mich dabei, das romantisch zu finden.
13. Juli, Kroatien: Hier gibt es noch Grenzen, die wie Grenzen aussehen
Christoph
Gestern zur ersten
Grenze, die wie eine Grenze aussieht, mit Rasierklingendraht. Von
Kroatien können wir nicht genug bekommen – die Störche, die Bauernhöfe
aus Backstein, mit Rosen und freilaufenden Hühnern. Fast schade, dass
wir es heute schon wieder verlassen. Denn weil wir es vor der Hitze
nicht mehr durch die Türkei schaffen, haben wir beschlossen, den Sommer
in Bosnien zu verbringen. Doch dann streiten wir. Katharina fährt
schweigend vor mir her. Sie steuert einen Geldautomaten an. Weiß sie,
dass der Kurs hier etwa 1 zu 7 ist, statt 1 zu 300 wie in Ungarn?
Katharina
In Kroatien geht es noch schöner weiter, als es in Ungarn aufgehört
hat. Es kommt mir vor, als wären wir in ein Bilderbuch geraten. Dann
aber streiten wir uns. Der Grund ist lächerlich, aber mich ärgert
Christophs Kompromisslosigkeit. Manchmal bin ich mir nicht sicher, ob
wir Teheran gemeinsam erreichen werden. Als ein Geldautomat auftaucht,
hebe ich aus Versehen eine Null zu viel ab: 1500 Kuna – also 200 Euro
statt 20. Heute schon das Land zu verlassen wäre Unfug. Wir werden also
noch etwas weiter nach Osten fahren. Zumindest können wir beide darüber
lachen.
14. Juli, Kroatische Provinz: Wollt ihr nun doch etwas essen?
Katharina
Nachmittags zieht
ein Gewitter auf und setzt uns in der Bushaltestelle eines Dorfs
gefangen. Ich frage in einem Lädchen nach einer Pension. Gibt es nicht.
Ob auch ein Zimmer okay wäre? Klar. Ein Mann namens Ivo führt uns zu
seinem Haus. Er spricht weder Englisch noch Deutsch. Ein Nachbar
übersetzt: „Ihr könnt hier bleiben. Habt ihr noch Fragen?“ – „Was kostet
es?“ – „Nichts.“ Wir sind verwirrt. Wir dachten, Ivo würde Zimmer
vermieten, als Zubrot zur Landwirtschaft. Erst mit der Zeit begreifen
wir: Er hat uns eingeladen. Bloß weil wir von so weit weg kommen.
Christoph
Nach und nach erfahren wir mehr voneinander. Mit Pantomime, mit Zettel
und Stift, mit kroatischen Brocken und deutschen wie „Arbeit“ oder
„Urlaub“. Wenn die Kommunikation stockt, streicheln Ivo und wir
abwechselnd den verschmusten Hofhund. Missverständnisse gehören dazu.
Wir verstehen „Wollt ihr nun doch etwas essen?“ und versuchen zu sagen
„Nein, macht euch keine Mühe“. Aber die Frage war, ob wir zum Essen
gehen, das schon fertig auf dem Tisch steht. Als wir es kapieren, ist
die Paprikasuppe mit Fleischklößen schon etwas kalt. Viele
selbstgebrannte Schnäpse später gehen wir zu Bett. Unser Zimmer ist
nicht etwa ein Gästezimmer. Es ist das Schlafzimmer von Ivo und seiner
Frau Marija, das sie für uns geräumt haben. Was für ein Abend! Meine
größte Sorge vor der Reise war, dass wir für die Einheimischen nur
radelnde Geldbeutel sind. Morgen schlafen wir vermutlich in einer
Pension. Wie langweilig.
8. August, Osijek und Kopacki: Aus drei Tagen werden drei Wochen
Katharina
Je näher wir Osijek
im östlichsten Zipfel Kroatiens kamen, desto mehr wollte Christoph diese
Stadt wiedersehen. Vor elf Jahren war er schon mal dort, trotz der
Kriegsschäden soll es dort schön sein. Aus drei Tagen Osijek wurden drei
Wochen. Zum einen, weil wir immer mehr Leute kennenlernten, die wir
gerne noch ein zweites oder fünftes Mal treffen wollten. Zum anderen,
weil wir das Sumpfgebiet Kopacki Rit per Kanu erkunden wollten. Dort, wo
die Drau in die Donau mündet, hocken Kormoran-Kolonien in den
Silberweiden, über die Wiesen fliegen die seltenen Schwarzstörche in
Scharen, und über ihnen kreisen Seeadler. Das einzig verfügbare Kanu
gehört einem Campingplatz, also verbringen wir dort eine Nacht.
Christoph
Wir treffen einige Fern-Radfahrer. Richard etwa, aus Stuttgart, um die
60 Jahre alt und Transporter-Fahrer, der mal wieder in seinem Leben die
Zelte abbricht, um aufzubrechen. Er will nach Nepal. Oder einen Briten,
der für eine „Charity-Sache“ nach Istanbul rast. Oder einen jungen
Österreicher, der zwei Wochen lang nach Belgrad fährt. Alle finden es
toll, dass wir mit dem Kanu in den Sumpf wollen. Aber Zeit, uns zu
begleiten, hat niemand. Der Österreicher überlegt am längsten, aber dann
sagt er: „Nein, das bringt meinen Plan durcheinander.“
19. August, Bosnien: Nach diesen Tunnelfahrten braucht man Pausen
Christoph
Bosnische
Dreifelderwirtschaft: links ein Getreidefeld, rechts steht der Mais in
voller Pracht, dazwischen ein halber Meter Hecke, und darin sagt ein
angerostetes Schild mit weißem Totenkopf: Hier ist ein Minenfeld. Immer
wieder sehen wir diese Schilder. Kilometerlang säumen sie die Straße,
nur eine Armlänge entfernt. Alles hier ist verfallen, verwuchert,
verrucht.
Katharina
Wenn man nicht jeden Gipfel
mitnehmen will, ist Fahrradfahren in Bosnien ein Nervenspiel. Dann
geht's auf der schmalen Landstraße durchs Tal mit Autos, Bussen,
Lastwagen. Anfangs fand ich den Rückspiegel peinlich, jetzt liebe ich
ihn. Ohne den Lenker zu verreißen, kann ich sehen, ob das nächste Auto
mir gefährlich wird. Auch die Warnweste habe ich aus der Tasche gekramt.
Die kilometerlangen Tunnel sind der Horror. Danach braucht man ein paar
Minuten Pause, damit der Puls runtergeht.
1. September, Sarajevo: Diese Stadt wird zu einem Zuhause
Katharina
Hatten wir in den
ersten Tagen in Sarajevo überall nach den Spuren der Belagerung von 1992
bis 1995 gesucht, haben sich die Kriegsschäden mittlerweile weggeguckt.
Plötzlich wird es fast schwer, an Krieg zu denken. Ein Städtchen, in
einem Kessel grüner Berge zum Wandern, mit Linden- und Kastanienalleen
zum Spazieren. Eine Stadt, in der die Architektur der Osmanen an die aus
österreich-ungarischer Zeit grenzt. Nicht einmal den sozialistischen
Bauten aus der Zeit der Olympischen Winterspiele 1984 verübelt man ihren
Beitrag zum Stadtpanorama.
Christoph
Sarajevo
wird zu einem Zuhause. An einer Sprachschule nehme ich Privatunterricht
in Bosnisch. Im türkischen Buch-Café bekomme ich meinen Kaffee schon,
ohne ihn zu bestellen. Aber plötzlich ist der Krieg wieder da. Als in
unserer Wohnung morgens kein Wasser kommt, sagt unser Vermieter: „Das
hatten wir seit dem Krieg nicht mehr.“ Und er beginnt zu erzählen. Wie
sie Abwasserrohre schulterten, damit die Serben denken, sie hätten
Panzerfäuste. Wie sein Haus besetzt wurde und wie es die Belagerer beim
Rückzug nach dem Frieden von Dayton niederbrannten. Angezündet haben
soll es ein serbischer Nachbar von einst. Das Haus, in dem wir wohnen,
hat unser Vermieter neu gebaut. Der Nachbar ist später wiedergekommen
und jetzt ein hohes Tier bei der Polizei. „Aber wir wollen nicht über
den Krieg reden“, sagt unser Vermieter. „Genießt eure Zeit.“
25. September, Sarajevo: Längst ist es Zeit aufzubrechen
Christoph
Immer wieder haben
wir den Aufbruch verschoben, obwohl wir ahnen, dass es längst an der
Zeit ist. In meinem türkischen Stammcafé sagt einer: „Durch die
Osttürkei im Winter? Da sind minus 30 Grad und meterweise Schnee!“ Zu
Hause rechnen wir aus: Wenn wir vor dem Winter durchkommen wollen,
müssen wir gestern los.
Katharina
Heute rollen
wir Richtung Montenegro. Wir übernachten in einem Motel, in dem wir die
einzigen Gäste sind. „Die Saison ist vorbei“, sagt der Wirt.
4. Oktober, Albanien: Beim Bier am Morgen plaudern wir mit Händen und Füßen.
Christoph
An einem heißen
Vormittag in Albanien sehen wir Tische unter einer Pergola: eine Kneipe.
Wir bestellen Bier. Die Männer am Nachbartisch prosten uns zu. Als
einer aufbricht, zahlt er für uns. Zwei andere wollen auch unsere Biere
bezahlen. Weil das nicht mehr geht, bestellen sie neue. Dann kommt ein
alter Mann herüber, verwittertes Gesicht, aber Augen wie Odysseus' Hund.
Wir plaudern in selbsterfundener Gebärdensprache. Unser Ziel erschreckt
ihn, schon Tirana ist ihm nicht geheuer. Das haben wir oft erlebt: Der
Höllenschlund tut sich immer im nächsten Dorf auf. Noch einer will ein
Bier ausgeben. Ablehnen wird nicht akzeptiert. Dann lieber einen Schnaps
aus der PET-Flasche, dazu Chips, Käse und gebratene Wurst. Danach
möchte der alte Mann unsere Freundschaft mit einem weiteren Schnaps
besiegeln. Wir können ihn auf Kaffee runterhandeln. Er schreibt uns
seine Nummer auf - falls wir mal Probleme haben. Schließlich brechen wir
auf: trunken nicht vom Alkohol, sondern von Seligkeit.
Katharina
Oh wie schön ist Großzügigkeit! Eine nette Geste, zum Lohn eines
Lächelns. Ich vermisse das in Deutschland. Ich vermisse das an mir. Ich
sage mir: Du hast noch nicht genug Geld, um großzügig zu sein. Das ist
nicht gelogen, auch zu mir selbst bin ich es oft nicht. Trotzdem weiß
ich, dass es daran allein nicht liegt. Es ist eine Enge im Herzen. Und
die haben die Albaner nicht. Kann man das trainieren?
8. Oktober, Tirana: Sogar die Straßenhunde sind geimpft.
Christoph
Am Morgen schaue ich
durch den Schleier des Nieselregens auf die grüne Bergkuppe an der
Grenze. Bizarr, wie sich dort die vielen abgerundeten Bunker in den Hang
drücken. Errichtet von der Paranoia Enver Hodschas. Albanien, das uns
so freundlich aufgenommen hat, war vor nicht mal 30 Jahren noch ein
kommunistisches Land, das in völliger Isolation das Leben in der
Steinzeit als höchste Stufe der Existenz propagierte. Tirana hat sich
prächtig entwickelt. Die Straßen sind gefegt, die Straßenhunde geimpft,
kastriert und mit Knopf im Ohr. Es gibt 30 Hostels. Vor ein paar Jahren
waren es bloß zwei.
Katharina
Am Vormittag haben
sich die Wolken verzogen. Wir kommen nach Mazedonien, in ein Tal voller
Apfelplantagen. In den Kronen klettern Erntehelfer. Und wer keine Äpfel
erntet, trocknet Paprika oder stapelt Holz. Der Herbst ist überdeutlich.
9. Oktober, Griechenland: Die Hunde verstehen nur die Eisenstange.
Christoph
Frühstück am
einsamen Seeufer bei Sonnenaufgang. Dann: Griechenland. Ein neues
Alphabet! Wenn man sich an die Formeln aus dem Physikunterricht
erinnert, hat man fast alle Zeichen zusammen. Und auch viele Worte sind
bekannt. Die Abfahrt von der Autobahn? Éxodos! Am Anfang aber sieht es
eher nach Exitus aus. Viel Brache. Plötzlich fünf Straßenköter, die mich
aggressiv anbellen. Keine Steine in Reichweite. Ich rufe. Endlich kommt
Katharina, mit einer Eisenstange. Die Hunde verstehen.
Katharina
Griechenland ist in der EU. Das heißt: Ich habe wieder Internet auf dem
Handy! Und da kommt auch schon eine interessante Mail, für die ich kurz
halte: Unsere Untermieter wollen länger in der Wohnung bleiben.
„Katharina!“, ruft Christoph ungehalten. Ja, ja, denke ich. Gleich wird
ihn die Nachricht auch freuen. „Katharina, komm verdammt nochmal!“ Als
ich ihn sehe, verstehe ich. Er ist umringt von wilden Hunden. Ich sammle
Steine auf und finde sogar eine Eisenstange, mit der ich ritterlich auf
die Hunde zufahre.
13. Oktober, Thessaloniki: Unverhofft wird man belohnt.
Katharina
Thessaloniki ist
eine unverhoffte Belohnung für den Regen der vorherigen Tage. Mondän mit
Boulevards und Hafenpromenade, Bars, Tavernen, Boutiquen. Doch bevor
ich es genießen kann, falle ich ins Delirium - Durchfall und Fieber. Und
vor uns 3400 Kilometer, große Berge, drohender Winter. Ich wünschte,
die Reise würde in Istanbul enden.
Christoph
Katharina braucht Ruhe, ich mache mich auf in die Stadt. Hatte fast
vergessen, wie schön es ist, auch mal alleine zu stromern. Straßen,
Gerüchen, Geräuschen nachspüren, sich von der Stadt verschlingen lassen
und an einer anderen Ecke wieder ausgespuckt zu werden. Zu zweit
stolpert man allenthalben über Kompromisse.
17. Oktober, Istanbul: Türkische Grenze: Stück für Stück lügen wir uns voran.
Katharina
Seit gestern sind
wir zu dritt. Tobi aus Köln will auch mit dem Rad nach Iran. Wir
verstehen uns gut. Wir hatten beschlossen, ein gemeinsames Lager
aufzuschlagen, und fahren auch heute zusammen. Die ersten 30 Kilometer
geht es über Schotterpfade an der Küste entlang. Wunderschön! In der
zweiten Tageshälfte wird Radfahren zur Tortur. Dieser Wind! Meine
Oberschenkel brennen, ich hechle wie ein Hund.
Christoph
Eine der schönsten Etappen unserer Reise. Sie geht über Stock und
Stein, oft in Sichtweite der Steilküste, an knorrigen Olivenbäumen
vorbei und gelegentlich an Ziegenherden. Mit Schwung rasen wir die
Schotterhänge runter. Später: Wind, Wind, Wind. Wir kriechen mit zehn
Kilometern in der Stunde voran. Aber zu dritt können wir abwechselnd im
Windschatten fahren. Und immer wenn einer sagt, dass wir unser heutiges
Ziel, die Grenze, aufgeben sollten, sagt ein anderer: Ach, das ist doch
nicht mehr weit! Der Wind lässt bestimmt bald nach! Stück für Stück
lügen wir uns bis nach Ipsala.
26. Oktober, Istanbul: Manche Reisefreundschaften halten lange.
Katharina
Istanbul, Shakehands
zwischen Asien und Europa. Das fasziniert mich seit Jahren,
gleichzeitig war ich mir sicher, dass mich die 15-Millionen-Stadt
überfordern würde. Doch es ist entspannter als gedacht, der Wind am
Bosporus tut meiner Seele gut. Allerdings sind auch kaum Touristen da,
wegen der Anschläge in den vergangenen Monaten. Ich denke oft daran,
wenn ich mir einen Weg vom Taksim-Platz über die Einkaufsstraße Îstiklal
in die Stadt bahne.
Christoph
Manche
Reisefreundschaften halten lange: In Istanbul wohnen wir bei Deniz, die
ich vor zwölf Jahren in Kairo kennengelernt habe. Trampen, Wandern,
Radreisen ist nicht ihre Welt, sie ist mehr das Sex-in-the-City-Girl,
Istanbul Edition. Eigentlich habe ich die Stadt immer nur zusammen mit
Deniz erkundet. Wenn ich von Istanbul schwärme, dann meine ich
eigentlich meine Zeit mit ihr. Auch Katharina lässt sich von ihrer
direkten Art anstecken. Freundschaft hält 40 Jahre, sagen die Türken.
Bleiben noch 28.
3. November, Aufbruch aus Istanbul: Diese Masche ist allzu billig.
Christoph
Als wir bei Deniz
aufbrechen, will Katharina noch in das Hotel gegenüber. Der Hotelier
hatte ihr angeboten, ihr die Zimmer zu zeigen, als sie mal dort im Café
saß. Das will sie noch schnell tun. So eine platte Anmache, und sie
merkt das nicht? Als sie nach zehn Minuten nicht wiederkommt, lasse ich
das gepackte Rad stehen. Eine Rezeptionistin versucht den Typ zu finden,
nach einer Minute tritt er mit Katharina aus dem Fahrstuhl. Mit den
Gelhaaren sieht er so schleimig aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe.
Er lädt uns ein, bald wiederzukommen. Ja, ja, inschallah.
Katharina
Christoph hatte Recht: Der Hotelier ist schmierig, die Masche billig.
Im Fahrstuhl stupst er meine Nase an. Es ist schon das zweite Mal, dass
mir ein Angestellter in einem türkischen Hotel zu nahe kommt, aber auch
diesmal bin ich zu perplex. Wie absurd, sich noch mit ihm die Zimmer
anzusehen! Er nimmt meine Hand, fragt, ob ich einen Freund habe. „Ja!“
Ob er mich trotzdem küssen dürfe. „Nein!“ Als Christoph wütend in der
Lobby steht, tue ich, als sei nichts gewesen. Ich will nur weg, es ist
mir peinlich, dass ich die Situation falsch eingeschätzt habe. Ich werde
es Christoph erzählen. Aber nicht jetzt.
4. November, Parkplatz im Gebirge: Irgendwann hören die Schüsse auf.
Katharina
Wegen der
amerikanischen Sanktionen können wir in Iran kein Geld abheben. Als wir
einen Automaten finden, der Euro ausgibt, holt jeder von uns 600 Euro.
Kein gutes Gefühl, so viel Geld mit mir rumzutragen. Abends biegen wir
von einer Nebenstraße auf einen schlammigen Weg ab, um am Rande eines
Feldes unser Zelt aufzubauen. Dann fährt ein Auto auf den Parkplatz
nebenan. Türkische Popmusik. „Ich schau mal nach“, sagt Christoph. „Nur
ein Mann, der telefoniert. Aber warte mal mit dem Kochen. Das ist zu
laut.“ Ein zweites Auto. Dann fallen Schüsse. Tak, tak, tak, tak, tak,
tak. Ich kenne dieses Geräusch nur aus Filmen. Ich stelle mir vor, wie
auf dem Parkplatz jemand zu Boden sinkt. „Eine Maschinenpistole“,
flüstert Christoph. „Das ging durchs Gebüsch über unsere Köpfe, wir
müssen weg.“ Geduckt schleichen wir die Wiese hinunter, legen uns flach
auf den Boden. Christoph hatte darauf bestanden, dass unsere Ausrüstung
unauffällig ist: schwarzes Fahrrad, dunkelgrünes Zelt, dunkle
Regenjacke. Auf der Straße hatte ich mir manchmal Neonfarben gewünscht,
aber jetzt bin ich froh, dass ich unsichtbar bin. „Vielleicht ein
Waffenhändler, der seine Waffen vorführt“, sagt Christoph. Was, wenn er
unsere Spuren im Schlamm entdeckt? Plötzlich sehe ich jemanden an
unserem Zelt. Ich stelle mir vor, wie es sich anfühlt, wenn mir in den
Bauch geschossen wird. Mein Herz schlägt fest, trotzdem bin ich
merkwürdig ruhig.
Christoph
Mit der kurzen Salve
zerfällt die Nacht in ein Vorher und ein Nachher. Im Nachher verspüren
wir keinen Hunger und keine Müdigkeit, nur äußerste Anspannung. Wir
huschen zu einer abschüssigen Stelle, so dass selbst flaches Feuer uns
nicht erreicht, und warten. Dann tauchen Schatten am Zelt auf. Es sind
Hunde, drei Stück. Katharina, die manchmal schreit, wenn sie erschrickt,
bleibt ruhig. Was werden die Hunde machen? Es gibt nichts, was wir tun
können, außer nichts zu tun. Und dann geschieht ein Wunder: Ein Hund
bemerkt uns und schreckt zusammen - doch er trottet lautlos davon. Vom
Parkplatz hören wir Stimmen, dazwischen hämmernd der eigene Herzschlag.
Ich robbe zurück zum Zeltplatz, hole Wertsachen und einen Schlafsack.
Dann schleichen wir den Feldrand entlang. Wieder wird geschossen, aber
nicht auf dem Parkplatz. Pistolenschüsse, Gewehrschüsse, wie
Schießübungen. Als wir über eine Anhöhe schleichen, glauben wir die
Schützen im Rücken zu haben. Doch das Echo hat uns getäuscht. Die
Schüsse kommen von einem kleinen Bauernhof voraus. Also auch dieser
Ausweg versperrt! Wir ziehen uns in den Wald zurück. Zwischen Dornen und
wildgewachsenen Bäumen werden wir im Schafsack warten bis zum
Morgengrauen. Wenn nicht vorher jemand unseren hektisch verlassenen
Zeltplatz findet und unseren Spuren folgt. Irgendwann hören die Schüsse
auf.
5. November, im Gebirge: Tee wärmt die Finger und das Gemüt.
Christoph
Irgendwann dämmert
es. Als ich zum Zeltplatz schleiche, finde ich ihn unverändert, der
Parkplatz ist verlassen. Schnell packen wir. Als ich die letzte Tasche
hole, hallt ein einzelner, lauter Schuss durch das Tal. Zufall?
Vermutlich. Doch daran glauben wir erst, als wir weit weg sind. Es
regnet in Strömen. Wir sind dreckig, übermüdet und nass. Aber ich weiß:
Katharina und ich können aufeinander zählen.
Katharina
Vom Zelten habe ich erstmal genug. Der prasselnde Regen stört mich
dafür gerade wenig. Ich bin froh über jeden Kilometer, den wir uns
entfernen. Später machen wir Pause in der Teebude einer Moschee, wärmen
Finger und Gemüt an einem Glas süßen Tees, während unsere Jacken am
Bollerofen trocknen. Ich bin stolz auf uns. Wir waren ein gutes Team!
10. November, Qifteler: Die politischen Ansichten gehen auseinander.
Christoph
In Eskisehir zu Gast
bei zwei Studenten: Dogucan und Dogukan. Der erste begeisterter
Radfahrer, beide begeisterte Gastgeber. Dogucan begleitet uns über 70
Kilometer bis nach Çifteler. An einer Tankstelle spricht er mit einem
Tankwart. Dann sagt er zu uns: „Das ist ein Freund. Bei ihm könnt ihr
übernachten.“ Harun ist ein Radfahrer, den Dogucan über eine
Facebook-Gruppe kennengelernt hat. Während Dogucan ein schniekes
Tourenrad hat, fährt Harun auf einem altersschwachen Drahtesel mit
bunter Knüpftasche quietschend seine Runden.
Katharina
Harun ist Ende Dreißig, Junggeselle und wohnt bei seiner Mutter. Wir
bekommen das Gästezimmer, setzen uns aber erstmal mit den beiden in den
Keller zum Holzofen. Es gibt weder Tisch noch Stuhl. Trotzdem ist es
gemütlich. Vielleicht liegt es an dem Tablett mit dem Teeservice. Oder
an der Gastfreundschaft. Noch bevor unser Glas leer ist, schenkt uns
Haruns Mutter nach. Wenn wir ein Wort nicht verstehen, wiederholt Harun
es drei, vier Mal. Dann schauen wir es im Wörterbuch nach. Später kommen
Nachbarn vorbei, die in Deutschland gelebt haben. Ein bisschen Deutsch
reden, Gebetskette in der einen, Tee in der anderen Hand. Klar gehen die
politischen Ansichten der Türkei und Deutschlands auseinander. „Aber
Mensch ist Mensch“, sagt der Nachbar.
13. November, Tuz Gölü: Der Salzsee sieht aus wie aus Blumenkohl.
Katharina
Wir fahren durch
eine Wüste zum Tuz Gölü, dem Salzsee. Er liegt da wie Blumenkohl in
Wasser. Dazu diese Weite, herrlich! Wenn ich Christoph wäre, ich würde
mich jetzt fragen, ob ich einen Antrag mache. Ich weiß, dass er das vor
hat. In Sarajevo hat er einmal im Internet nach Verlobungsringen
gesucht, als ich zur Tür rein kam. Ich habe natürlich abgestritten,
etwas gesehen zu haben. Nur: Wann fragt er denn endlich?
Christoph
70 Prozent des in der Türkei konsumierten Salzes kommen aus dem Tuz
Gölü, und auch wir füllen unseren Salzstreuer hier. Wir bewundern die
irrwitzigen Figuren, die sich aus Pflanzen und Salz gebildet haben, und
Katharina kann es nicht lassen zu sagen, dass man hier gut einen
Heiratsantrag machen könnte.
29. November, Ostanatolisches Hochland: Wir hören zwei glorreiche Halunken.
Christoph
Wir haben Alice
wiedergetroffen, die von England nach Australien will. Sie war mit uns
ein Stück nach Istanbul gefahren und will in Georgien überwintern. Wir
wollen Weihnachten in Teheran feiern. Einige hundert Kilometer können
wir zusammen fahren. Gestern haben wir neben einem halb zugefrorenen
Bach in den Bergen gezeltet. Am Morgen will der Spiritus nicht angehen,
weil er zu kalt ist. Also entfache ich ein Feuer aus Holz und Kuhfladen,
auf dem wir Porridge und Kaffee kochen. Der Wind kommt aus der falschen
Richtung, unsere Stimmung aber dreht sich. Auf den Rädern hören wir aus
einem Lautsprecher Chansons („Je vole“). Da wirft sich uns der Wind mit
voller Kraft entgegen. Musikwechsel: Italowestern, „Zwei glorreiche
Halunken“. Wir treten beschwingter. Als wir auf 2200 Metern den Pass
erreichen, fegt der Wind so wild, dass wir die Musik nicht mehr hören.
Egal - in der Wildheit des Windes fühlen wir uns lebendig.
Katharina
Alice ist eine wunderbare Reisekameradin! Ihr Humor, ihre
unerschütterliche Zuversicht. Außerdem ist sie ein prima
Windschattenspender. An Tagen wie diesen ist das die Rettung. Auch wenn
dabei die Landschaft aus dem Blick gerät, der nur noch zwischen Straße,
Hinterrad und Tacho pendelt. Die Tagesstrecke zerfällt in
Nachkommastellen. Wenn dann auch noch die Straße ansteigt, fragen die
Muskeln: „Warum tust du uns das an?“ Aber heute ist ein Tag, da können
wir über den Wind lachen, auch wenn er noch so stark bläst. Meter um
Meter nähern wir uns dem Pass. Als wir ankommen, sagt der Kopf zu den
Muskeln: „Darum!“
1. Dezember, Fahrt nach Erzican: Sachte lenken, wohldosiert bremsen.
Christoph
Der erste Schnee.
Knöchelhoch liegt er auf der Straße. „Wie lange bleibt der normalerweise
liegen?“, fragen wir die Lehrer in unserem Wohnheim. „Bis April.“ Die
Hauptstraße ist sicher frei, denken wir, und schlagen die Ratschläge der
Lehrer in den Wind. An der Hauptstraße sehen wir: Nichts ist geräumt.
Das war's!
Katharina
Als Christoph die
zugeschneite Hauptstraße sieht, will er umdrehen. Alice und ich wollen
es versuchen. Grummelnd fügt er sich. „Sachte lenken, wohldosiert
bremsen“, doziere ich. Langsam arbeiten wir uns voran. Die Reifen haften
gut auf dem Neuschnee. Plötzlich rumst es hinter mir. Alice liegt unter
ihrem Rad halb auf der Fahrbahn, und ein Lastwagen naht! Ich brülle:
„Lorry!“ Da erst bemerkt sie ihn. Ich bin zu weit weg, um zu helfen. Der
Fahrer hupt, fährt einen Bogen. Verdammt. Viel. Glück. Als wir
weiterfahren, sehe ich die Szene immer wieder vor mir. Ich hätte ihr
nicht helfen können.
2. Dezember, Fahrt nach Tercan: Das Hinterrad bricht aus.
Christoph
Wir genießen das
fast geräuschlose Dahingleiten im Schnee. Doch Jacke, Hose und Schuhe
sind durchweicht. An einer Tankstelle trocknen wir die Socken am
Holzofen. Der Tankwart lädt uns zu Tee ein und die Truckerfahrer zum
Frühstück. Wir kommen gut voran. Plötzlich ein Knall. Mein Hinterrad
bricht aus. Überraschend schnell habe ich es unter Kontrolle und stehe.
Der Mantel ist aufgeplatzt, der Schlauch hinüber. Während ich mein
Fahrrad im Schneegestöber auf den Sattel drehe, machen Alice und
Katharina schon Hampelmänner, um nicht auszukühlen. Schnell das Rad
lösen. Ratsch - plötzlich habe ich den Umwerfer in der Hand. Falsche
Schraube erwischt! Ich schraube ihn provisorisch fest. Als wir
weiterfahren, habe ich nur zwei von 27 Gängen, nicht viel Luft auf dem
Reifen, und im Dunkeln merke ich, dass meine Lampe nicht mehr
funktioniert. Die Temperatur fällt, der geschmolzene Schnee wird zu
Glatteis. Immer wieder schlittert einer. Im Schnee durch die Türkei?
Bescheuert!
Katharina
Heute Morgen noch alles
toll: Vor den verschneiten Bergketten wirken die einsam stehenden Häuser
hoffnungsvoll. Ich winke einem Zug, der durch das Tal rumpelt. Er grüßt
zurück mit zwei tiefen Huptönen. Nachmittags platzt Christophs Reifen.
„You never arrive before you arrive“, sagt Alice. Christoph dreht das
Rad um. „Fuck“, sagt er dann. Er hat den Umwerfer abgeschraubt. Ein
besserer Kommentar fällt mir jetzt auch nicht ein.
6. Dezember, Erzurum: Und wir hatten befürchtet, es wäre zu heiss
Katharina
Am Anfang der Reise
hatten wir befürchtet, es könnte in der Osttürkei zu heiß sein. Heute,
als Alice Richtung Georgien aufbricht, sind minus 15 Grad. Wir bleiben
noch, um Weihnachtskarten zu schreiben, Räder zu reparieren, bessere
Handschuhe zu kaufen und das Iran-Visum zu beantragen.
Christoph
Zum ersten Mal stehe ich in einem Konsulat, und der Beamte sagt:
„Setzen Sie sich doch!“ Auch vor dem Schalter stehen Sessel. Die Beamten
machen das Visum noch in ihrer Mittagspause fertig. Wenn es in Iran
auch so ist, hat sich alles gelohnt! Wenn man von West nach Ost durch
die Türkei fährt, reist man durch einen Trichter islamischer
Provinzialität. Je mehr Osten, desto weniger Varianz im gelebten
Glauben. Miniröcke in Istanbul, Wein in Kappadokien, in Erzurum: kein
Alkohol auf der Karte, viele Frauen ganz in Schwarz, im Restaurant
getrennte Sitzbereiche für Männer und Familien.
11. Dezember, Elesirt: Diese 700 Höhenmeter waren nicht vorgesehen.
Katharina
Gestern ein
Doppelzimmer für acht Euro über einer Teebude, in der unten Männer am
glühenden Bollerofen Karten spielten. Unsere Räder übernachteten in
einer Tankstelle, die soll ab acht Uhr auf haben. Hat sie aber nicht.
Erst um neun Uhr sind wir auf der Straße. Jetzt müssen wir uns beeilen.
Dann taucht ein Pass auf, den die elektronische Routenberechnung nicht
angegeben hat. Der Gedanke daran, Weihnachten in einer ollen Pension zu
feiern statt in Teheran, deprimiert mich, motiviert aber auch, die 700
zusätzlichen Höhenmeter hinter mich zu bringen. Noch länger als der
Anstieg dauert die Abfahrt. Auf Eis zu fahren habe ich im Berliner
Winter gelernt. Trotzdem durchschießt es mich wie ein Stromschlag, wenn
das Rad ausbricht. Christoph flucht und schiebt, schlägt sich aber
wacker. Warum aber fährt er so langsam, als der Berg vorbei ist?
Christoph
Hinter dem Pass sind von zwei Fahrbahnen höchstens anderthalb geräumt -
für uns und für Lastwagen aus beiden Richtungen. Am Rand gepresster
Schnee und verklumptes Eis. Mehr als einmal schlittere ich seitwärts.
Immer wenn ich neuen Mut gefasst habe, rutsche ich so unerwartet und
heftig, dass ich zu spüren meine, wie das Adrenalin meine Haarspitzen
weiß färbt. Oft wird es so eisig und eng, dass ich warten oder schieben
muss. In der Dämmerung radeln wir auf die einzige Stadt zu, die auf den
nächsten 40 Kilometern auf den Karten verzeichnet ist. Für mich ist
klar, dass wir hier übernachten. Für Katharina nicht. Wie kann sie jetzt
weiter wollen?
13. Dezember, Iranische Grenze: Wir tragen Bargeld für zwei Monate am Körper.
Nach unendlich viel
Neuschnee am Morgen sind mittags die Straßen gut befahrbar, später sogar
trocken. Glücklich jagen wir am Ararat entlang. Während man bei einem
schwimmenden Eisberg nur die Spitze sieht, sehen wir vom Ararat nur den
Fuß. Den Rest verhüllen Wolken. Dann die Grenze: Wir wollten eigentlich
erst morgen einreisen, um jeden Tag des Visums auszunutzen. Aber auf
türkischer Seite gibt es nur ein kleines Dorf ohne Hotel. Wir könnten
zelten, aber wir tragen Bargeld für zwei Monate am Körper. Und dass das
so ist, kann sich hier jeder ausrechnen. Also: Iran!
Katharina
Auf den letzten Kilometern vor der iranischen Grenze liegen Hunderte
leere Schnaps-, Bier- und Weinflaschen im Straßengraben. Mir aber bleibt
mein letztes Bier verwehrt. Alkohol kann man in der Türkei nur im
„Tekel“ kaufen. Schon in Erzurum gab es nur eine Handvoll dieser
dubiosen Kioske, in denen man sich fühlt, als hätte man nach einer
Pistole mit Schalldämpfer verlangt, nicht nach fünfprozentigem Alkohol.
An der Grenze lege ich ein Kopftuch an, wie es das iranische Gesetz
vorschreibt. Dauernd verrutscht es.
15. Dezember, Koschksaray: Es dauert nicht lange, bis wir eingeladen werden.
Christoph
Von so vielen hatten
wir es gehört: Iran übertrifft alles an Hilfsbereitschaft, was ihr
kennt. Wie zum Beweis hält schon am ersten Morgen ein Autofahrer, um uns
zum Übernachten einzuladen. Immer wieder fragt einer, ob wir Hilfe
brauchen. Heute ist der Schnee zurück - und wir müssen zehn Kilometer
zur Hauptstraße schieben. Das dauert. Vor allem, weil jeder Autofahrer
hält, um zu sagen, das sei nicht der richtige Weg. Wissen wir. Ist 'ne
Abkürzung. Wir zeigen die Karte. Er versteht nach einer Weile. Dann
weiter bis zum nächsten Hilfswütigen.
Katharina
Abends in Koschksaray gibt es keine Pension, aber es dauert nicht lange,
bis wir eingeladen werden. Unsere Gastgeberin ist Ende dreißig und
Lehrerin in Tabriz. Fürs Wochenende ist sie mit zwei Kolleginnen und
zwei Schülerinnen in ihre Heimatstadt gekommen. Sie trägt einen legeren
Schal im Haar, ihre Kollegin nimmt im Haus ihr Kopftuch ab, ihre Haare
sind kurz und blondiert. Nach der ersten Aufregung und einer köstlichen
Gemüsesuppe beginnt die Fragerunde: Dürfen Frauen in Deutschland mehrere
Männer haben? Kommt man ins Gefängnis, wenn man seinen Ehepartner
betrügt? Kann man als Ausländer ein Haus kaufen? Sie sind neugierig auf
alles. Und wir lernen, wie man einen Perserteppich knüpft, und dass man
Granatäpfel wie Capri-Sonne-Päckchen aussaugen kann, wenn man sie vorher
knetet.
17. Dezember, Bostanabad: Die Polizei stoppt uns auf der Autobahn.
Katharina
Vor Iran hatte ich
mir vor allem Gedanken gemacht übers Kopftuchtragen und den Umgang mit
Männern. Das Kopftuch und ich sind noch keine Freunde, aber auf der
Straße trage ich sowieso Sturmhaube und Mütze gegen die Kälte, wie
Christoph. Was die Männer angeht: In den ersten Tagen hatte ich das
Gefühl, dass mich trotz aller Gastfreundschaft die meisten Männer etwas
grimmig ansehen. Vielleicht, weil sie nicht gut finden, dass ich Rad
fahre (der religiöse Führer lehnt es schließlich ab); vielleicht, weil
es sich nicht schickt, fremde Frauen anzulächeln. Mittlerweile habe ich
aber viele Männer getroffen, die sich ganz selbstverständlich nicht nur
mit Christoph, sondern auch mit mir unterhalten. Manche geben mir sogar
die Hand. Und hinter Wohnungstüren ist sowieso alles nicht so
kompliziert.
Christoph
Wir wechseln auf die
Autobahn, weil die einen breiten Seitenstreifen hat. Katharina murrt.
Das sei bestimmt nicht erlaubt. Nicht, dass wir im Gefängnis landen!
„Das läuft hier nicht so“, sage ich und ignoriere die Verbotsschilder.
Aber als mich ein Polizist rauswinkt, wird mir doch mulmig. „Woher
kommen Sie? Wie ist Ihr Name?“ Und dann: „Möchten Sie einen Tee?“ Als
Katharina ankommt, strahle ich sie mit einer dampfenden Tasse in der
Hand an. Weitere Einladungen folgen: Mitten im Schneegestöber halten
Autos, ganze Familien steigen aus, die Kinder beobachten frierend die
vereisten Ausländer, die von den Eltern mit Schokoriegeln vollgestopft
werden. Abends in Bostanabad müssen wir Geld tauschen. Die Wechselstuben
haben schon zu. Ich frage auf Persisch herum. Schließlich führt mich
ein Schneider zu einem Krämer, der in seinem Telefonbuch eine Nummer
findet von einem, der den Kurs weiß, und der dann kommt, um bei Tee und
Gebäck zwischen Einlegesohlen und Schuhwachs das Geld zu tauschen.
20. Dezember, im Gebirge: Wir feiern die längste Nacht des Jahres.
Katharina
Wo bleibt Christoph?
Ein Auto hält an, und der Fahrer gibt mir einen Zettel: „Bitte
zurückkommen, habe einen Platten. Kuss.“ Der Schlauch ist schnell
gewechselt, aber beim Einbauen bricht die Achse. Kann man nichts machen,
Christoph muss trampen. Ich genieße es, mal wieder alleine zu fahren,
in dem Tempo, in dem ich will. In Zandschan lässt mich ein Junge das
Internet auf seinem Handy benutzen, und ich erfahre, dass Christoph bei
einer Familie auf mich wartet. Am Abend wird Yalda gefeiert, die längste
Nacht des Jahres. Bei den Eltern der Mutter tragen die Frauen Tschador,
ich rücke ständig mein Kopftuch zurecht, damit man keine Haare sieht.
Alle freuen sich, man sitzt entspannt auf dem Boden, den Arm auf ein
Kissen gestützt. Die Kinder rennen durch die Mitte, später wird dort ein
Tischtuch ausgerollt für die Speisen. Bei der Familie des Vaters steht
ein Kursi in der Mitte, ein beheizbares Gestell, über das eine riesige
Decke gelegt wird. Die ganze Großfamilie sitzt rings herum und steckt
bis zur Hüfte unter der Decke. Die jüngeren Frauen tragen hier ihre
Kopftücher wie ein Modeaccessoire, dazu enge Jeans und Blusen. Während
wir Wassermelone und Wackelpudding essen, werde ich zu ihrem
Lieblingsthema befragt: Männer und Frauen. „Wenn du in Iran Single bist,
dann bist du wirklich Single“, sagt eine. Naja, so ganz stimmt das
nicht, sagt sie dann. Sie selbst habe drei Jahre lang eine heimliche
Beziehung mit ihrem heutigen Mann gehabt.
Christoph
Die Autobahn führt durchs Gebirge abseits von Dörfern und Städten. Mal
schlafen wir in einer Erste-Hilfe-Station, mal in einer Raststätte.
Dazwischen: nichts. Katharina ist vorgefahren, da bemerke ich: Die Luft
ist aus dem Reifen. Später beim Trampen nimmt mich ein Vermessungstrupp
auf einem Pick-up mit nach Zandschan und sucht mit mir einen
Fahrradladen. Als alles repariert ist, gibt es Streit mit dem
Ladenbesitzer. Und zwar darum, wer mir die Reparatur schenken darf. Der
Besitzer bleibt hartnäckig: Weder von den Vermessern noch von mir will
er Geld! „Du bist ein Gast hier!“ Ich muss an meine Freundin Deniz aus
Istanbul denken. In München, wo sie geboren und aufgewachsen ist, hatte
ein Mitschüler zu ihr gesagt: „Deniz, du bist nur ein Gast in diesem
Land!“ Wie unterschiedlich Gäste doch behandelt werden. Dann lädt mich
der Chef des Vermessungstrupps ein, bei ihm zu Hause zu übernachten.
Seine Frau ist Englischlehrerin und schreibt in ihrer Freizeit religiöse
Bücher für Kinder. Ich plaudere lange mit ihr und ihrer Tochter. Sie
gibt mir nicht die Hand, hat aber keinerlei Scheu im Umgang. So eine
Familie hätten wir über Couchsurfing oder Warmshowers nie kennengelernt.
Bloß mit einem Fahrrad, das ich schon so oft verflucht habe.
22. Dezember, Qazvin: Wieder einen Platten, und wir finden kein Loch.
Christoph
Wieder einen
Platten. Wir finden kein Loch. Es bleibt nichts anderes übrig, als immer
wieder aufzupumpen. Erst alle 20 Kilometer, am Abend alle fünf. An
einer Baustelle am Eingang von Qazvin zwängt sich ein Rennradfahrer an
mir vorbei. 50 Meter weiter wartet er, aus Neugier. „I'm a cyclist“,
sagt er. Aha, schau an. Er fragt, ob er helfen kann. Nein. Ich will in
ein Hotel, den verdammten Reifen flicken und morgen früh weiter. Der
Zeitplan ist so vielleicht zu halten. Der Cyclist ist hartnäckig. Als
ich wieder aufpumpe, kommt er mit Katharina ins Gespräch. Sie verkündet:
„Er bringt uns zu einem Hotel.“ Das Hotel, das nach zwei Minuten
auftaucht, ist seiner Meinung nach „nicht gut“. Also weiter. Als ich zum
zweiten Mal neu aufpumpen muss, platzt mir der Kragen. „Wo ist das
verdammte Hotel?“ Er bleibt ruhig. „Ein Kilometer.“ Nach vier Kilometern
rolle ich mit plattem Reifen auf den Hof des Hotels, das viel zu teuer
aussieht, weit weg von unserer Route liegt - und ausgebucht ist.
Katharina spürt, dass ich explodieren könnte, der tumbe Radheld spürt
nichts. Bald wimmelt sie ihn ab. Dann finden wir eine günstige, nette
Herberge direkt an unserem Weg. Da hätten wir vor drei Stunden schon
sein können.
Katharina
Kurz vor Qazvin gesellt
sich ein Rennradfahrer zu Christoph. Der erste, den ich überhaupt sehe
in Iran. Während Christoph seinen Reifen aufpumpt, frage ich ihn aus. Er
fährt im iranischen Nationalteam. Leben kann er davon nicht. Sein Geld
verdient er als Sportjournalist. „Kann ich euch helfen?“, fragt er.
„Kennst du ein günstiges Hotel?“ Christoph rollt mit den Augen. Keine
Ahnung, warum die Frage falsch war. Bald kommen wir an einem Hotel
vorbei. „Das ist nicht gut“, sagt der Radler. Christoph mosert. Nach so
einem Hotel hatten wir gesucht. Aber ich bitte Christoph weiterzufahren.
Ich will nicht unhöflich sein, außerdem möchte ich mich noch weiter mit
dem Radfahrer unterhalten. Seine Frau fährt auch Rennrad. Es sei nicht
leicht für Frauen in Iran, Rad zu fahren. Es ist nicht verboten, aber
manche Männer fänden das nicht gut, sagt er. „Hatte Deine Frau schon mal
Probleme?“, frage ich. Ja, aber Genaues wisse er nicht. Das müsse ich
seine Frau fragen, sie könne auch besser Englisch. Wie gerne würde ich
das. Nur kommt er nicht auf die Idee, uns einzuladen. Und morgen müssen
wir weiter.
23. Dezember, Karadsch: Die Gastfreundschaft ist die schönste Sehenswürdigkeit.
Christoph
Morgens: ein platter
Reifen und eine Pumpe, die sich nicht mehr retten lässt. Weil Freitag
ist, haben fast alle Läden zu. Kein Schlauch in meiner Größe und nur
eine wackelige China-Pumpe, die entsetzlich quietscht. Ich tausche das
Ventil - liegt hier vielleicht das Problem? Doch nach 20 Kilometern ist
der Reifen platt. Ich muss wieder trampen. Weil wir vergessen haben,
Geld zu tauschen, frage ich abends im Hotel per Telefon bei der
Managerin nach, ob wir auch am Morgen zahlen können. Die Reaktion: Wir
müssen überhaupt nicht zahlen. Ich protestiere. Aber sie gibt den
Angestellten die Anweisung: bestes Zimmer, kein Geld. Ich bin gespannt,
was uns noch an kulturellen Reichtümern in Iran begegnet, aber ich
glaube, die Gastfreundschaft ist die schönste Sehenswürdigkeit.
Katharina
Ich rausche allein dahin. Auf einem Schild steht: Teheran 100
Kilometer. Die Autobahn wird voller. Ich nehme eine Abkürzung über die
Parallelstraße und schwimme bald im Strom unendlich vieler Autos mit.
Viele Menschen winken mir zu, halten den Daumen hoch, rufen „Welcome to
Iran!“, manche stecken mir durchs Fenster Orangen und Kekse zu. Ob sie
merken, dass ich auf der Zielgerade bin? Schade, dass Christoph nicht
dabei ist.
24. Dezember, Teheran: Ich steh' an deiner Krippe.
Katharina
Tatsächlich:
Teheran. Am Azadi-Turm, einem der wenigen bekannten Wahrzeichen der
Stadt, machen wir Erinnerungsfotos. Aber wo bleibt der Applaus von
gestern? Weil sonst niemand da ist, erzählen wir dem Parkwächter, dass
wir am Ziel sind. Er kann es kaum glauben und freut sich riesig. Zum
Weihnachtsgottesdienst müssen wir noch quer durch die Stadt. Es wird
knapp, aber wir schaffen es. In der Kirche strahlt der Herrnhuter Stern,
es riecht nach frischem Kaffee. Als wir das Lied „Ich steh' an deiner
Krippe hier“ singen, steigt Wärme in mir auf. Ein paar Tränen rollen
meine Wangen hinunter.
Christoph
Gruß vom
Murmeltier: ein platter Reifen! Es sind nur noch 50 Kilometer. Wenn es
nötig ist, trage ich dieses verdammte Höllen-Rad! Aber es läuft alles
glatt. Überraschend unspektakulär passieren wir die ersten Häuser von
Teheran. Nach knapp 7800 Kilometern und acht Monaten, nach Pistolenfeuer
und Schnee, nach sechs Stunden Stadtautobahn, Smog und Stau und mit nur
drei Minuten Verspätung klopfen wir an das Hoftor der evangelischen
Kirche. Der iranische Küster öffnet lächelnd. „Aus Deutschland?“ Wir
nicken. Aus dem Backstein-Glas-Bau hören wir den Chor singen. Wir
schleichen uns rein. Und sind da. Und sind glücklich. In Teheran. An
Weihnachten. Ein Wunder.
Quelle: Frankfurter Allgemeine Magazin
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