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Der lange Schatten der Russischen Revolution

Russland feiert hundert Jahre Revolution. Doch das Land weiß nicht, wie es damit umgehen soll. Eine Podiumsdiskussion.


"Meine Generation ist ratlos, wie wir mit der Revolution umgehen sollen", sagte Leonid Klimov, Journalist aus Hamburg, am Donnerstagnachmittag bei der Podiumsdiskussion "(Alb-)Traum Neuer Mensch? Der lange Schatten der Russischen Revolution". In Russland werden in diesem Jahr hundert Jahre Revolution gefeiert. Aber eine Aufarbeitung derselben habe nie stattgefunden.

Klimov sieht das Land heute vor den selben Problemen wie vor hundert Jahren: Armut, Korruption, eingeschränkte Meinungsfreiheit, Autokratie. "Wir sind wieder da angekommen, wo wir losgefahren sind."

In den vergangenen Jahren wurden historische Jubiläen in Russland groß gefeiert: 2012 der Sieg über Napoleon, ein Jahr später das 400. Jubiläum der Romanow-Dynastie, dann der Beginn des Ersten Weltkrieges, 2015 der 70. Jahrestag des Sieges über den Faschismus. "Aber auf das Revolutions-Jubiläum ist man nicht vorbereitet", konstatiert Nikolaus Katzer, Leiter des Deutschen Historischen Institutes in Moskau. Ein realistisches Bild der Russischen Revolution von 1917 bis 1921 dringe erst langsam durch, es werde noch sehr lange dauern, bis man sich mit dem tragischen Erbe dieser Zeit eingerichtet haben wird.

Die Totalumwälzung von Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur durch die Revolution hat Spuren hinterlassen und Risse durch Familien gezogen. Damals kämpften Brüder in unterschiedlichen Parteien gegeneinander. "Man spürt das noch heute, in jeder Familie hatte jemand wegen der Revolution Angst um sein Leben", sagt Klimov.

Russisch-Orthodoxe Kirche in der Revolution

"Die Russisch-Orthodoxe Kirche begrüßte damals den Ausbruch der Revolution, auch wenn heute niemand mehr davon spricht", sagte die russische Kirchenhistorikerin Elena Beljakova. Aber dann wurde die Kirche verfolgt, die einstigen Kirchgänger wandten sich ab. "Das hat mit der traditionellen Religiosität zu tun, die es in Russland gibt", sagte Beljakova. Im Gegensatz zur protestantischen Wortkirche geht es in der Russisch-Orthodoxen Kirche um Traditionen und Rituale. "Die sechs Millionen Bauern, die im Zweiten Weltkrieg kämpften, haben dort ihren Glauben verloren", konstatierte Beljakova. Denn die Russische Orthodoxie ist eine traditionelle Religion, die an einen bestimmten Ort gebunden ist, wo alle dasselbe machen: ihre Kinder taufen, zum Gottesdienst gehen. Im Krieg war das so für die Bauern nicht umsetzbar. Der Glaube ist dem Krieg und der anschließenden Revolution zum Opfer gefallen.

Auch in der Kirche wurde die Revolution und die anschließende Verfolgung kaum aufgearbeitet. Mehr als 300.000 Geistliche wurden während der Revolution umgebracht, heute sind sie als Heilige anerkannt. "Aber über die anderen Opfer spricht niemand", sagt Beljakova.

Klimov weiß nicht, wie die Revolution aufgearbeitet werden könne. Schon das Wort "Revolution" sei schlecht belegt, auch wegen der Farbrevolutionen in anderen postsowjetischen Ländern. Aber die Aufarbeitung dürfe nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene stattfinden, sondern auch auf kultureller. Ein Beispiel könnte ein russischer Blogger sein, der vor einigen Jahren begann, die Geschichte seiner Vorfahren während der Revolution aufzuarbeiten und die Ergebnisse ins Netz zu stellen. "Aber die Regierung in Russland hat Angst vor einer neuen Revolution, deshalb wird die alte nicht thematisiert und aufgearbeitet", meinte Beljakova.


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