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Ungelenke Journalisten erklären der Welt das Leben im Rollstuhl | Übermedien

Es war bereits spät am Abend, als Twitter mir einen Tweet empfahl. Den Absender kannte ich nicht. Er stammte, wie ich später erfuhr, von dem 20-jährigen Schüler Marlon, der wie ich Rollstuhlfahrer ist. Gerichtet war er an die Redaktion von WDR360, einem YouTube-Projekt des WDR. In einer Reihe von Tweets versuchte der Schüler der Redaktion sehr eloquent zu erklären, warum ihr Film, den sie auf Twitter verbreitet haben, unmöglich ist.

Sehr problematisches Video. Stereotype baut man nicht mit dem Stellen von Suggestivfragen und dem damit verbundenen Drängen in eine Rolle, die Niklas als inspirierendes Opfer darstellt, ab. Gerade DAS ist das Stereotyp, mit dem sich viele Rollstuhlnutzer_innen täglich herumärgern

- Damaged Drummer (@DamagedDrummer) 10. Januar 2018

„Wie ist das Leben im Rollstuhl?" heißt der Film. Journalist Tim Schrankel wird darin gezeigt, wie er gemeinsam mit dem richtigen Rollstuhlfahrer Niklas einen Tag im Rollstuhl verbringt.

Schrankel ist nichtbehindert und kann, das wurde gleich in den ersten Sequenzen klar, sehr schlecht Rollstuhl fahren. Er wirkte wie ein Journalist mit Schuhcreme im Gesicht, der herausfinden will, wie das Leben als schwarzer Mensch in Deutschland ist. Eine solche Reportageidee würde man in den meisten Redaktionen als absurd abweisen; bei behinderten Menschen gibt es da nach wie vor weit weniger Skrupel.

Der schlechte, schwere Rollstuhl, den die Redaktion besorgt hat, lässt jeden, der ein bisschen Ahnung von der Materie hat, sofort erahnen, wie der Film verlaufen wird. Ein ungelenker Journalist erklärt der Welt, wie schwer das Leben im Rollstuhl ist. Das Grundkonzept des Filmes ist keineswegs neu, vor allem von Rollstuhlfahrern viel kritisiert, was aber Medienmacher nicht davon abhält, die gleichen Fehler immer wieder zu machen und Journalisten und Praktikanten, in Rollstühlen durch Städte zu schicken, um mal zu sehen „wie das denn so ist". So jetzt eben auch der WDR.

Unprofessionell und hemdsärmlig

Herausgekommen ist ein unsensibel produziertes, klischeebelastetes Stück, das damit beginnt, dass der Journalist erstmal wieder aus dem Rollstuhl aufsteht, weil er nicht ins Haus kommt. Wer wie ich täglich im Rollstuhl unterwegs ist, für den sind solche Situationen Alltag. Der Unterschied ist: Ich kann nicht so einfach aufstehen und mal eben den Rollstuhl hochziehen wie der Journalist. Ich muss mir was anderes einfallen lassen. Anrufen zum Beispiel oder eine Nachricht schicken, damit jemand kommt und mir hilft oder man gar nicht erst dorthin muss, wo die Stufe ist.

Aber der Journalist zog es vor, das Projekt - kaum hatte es angefangen - auch schon wieder zu unterbrechen. Hat man sich vorher wirklich nicht überlegt, wie man sich in solchen Situationen verhält? Wie wahnsinnig unprofessionell und hemdsärmelig das aussieht, wenn man erstmal wieder läuft und wie das vor allem auf behinderte Zuschauer wirkt?

Allein an der ersten Szene des Films hätte die Redaktion merken können, wie sinnlos ihr Projekt werden wird. Es basiert auf falschen Voraussetzungen und Vorstellungen, gepaart mit der Unfähigkeit, sich wirklich auf die Situation einzulassen. Mit dem Leben eines Rollstuhlfahrers haben die Erlebnisse des Journalisten wenig zu tun, denn die meisten sitzen nicht in Krankenhausrollstühlen und müssen sich damit alleine durch die Stadt bewegen. Und das Wichtigste: Wir können alle besser Rollstuhl fahren. Tim Schrankel kippt an jeder Kante fast aus dem Rollstuhl, nimmt zwischendurch sogar die Beine zur Hilfe, um Balance zu halten.

Es geht nur um den Journalisten

Wer einen Film erwartet hat, der jetzt einen Rollstuhlfahrer zu Wort kommen und einfach mal erzählen lässt, hat nicht mit der Unsicherheit und der Befangenheit des Journalisten gerechnet. Das hätte vorausgesetzt, dass der Journalist sich im Film zurücknimmt. Aber leider geht es nur um ihn, nicht um den richtigen Rollstuhlfahrer. Der darf nur versuchen, die Vorstellungen des Journalisten, die er per Suggestivfragen darlegt, zu widerlegen.

Dennoch hat man ständig das Gefühl, Niklas müsse sich für sein Leben rechtfertigen und ein Vorurteil nach dem anderen aus dem Weg räumen. Frei reden und mal erzählen, was ihm eigentlich wichtig ist, darf er kaum.

Niemand, der sich einen Tag in einen Rollstuhl setzt, erfährt, wie es ist, ein Rollstuhlfahrer zu sein. Das überhaupt zu suggerieren, ist unseriös. Es wird fast immer nur die Perspektive des Journalisten vermittelt, der diese für ihn neue Situation als furchtbar wahrnimmt. Die meisten Rollstuhlfahrer aber lieben ihr Leben und haben ganz andere Probleme. Der WDR vermittelt mit dem Film, dass das Leben im Rollstuhl furchtbar ist, weil der unerfahrene Reporter das so empfindet.

„Willst du denn auch mal Sex haben?"

Dann passiert in dem Film noch etwas Bemerkenswertes. Als die beiden in einem Café sind, fragt Schrankel den richtigen Rollstuhlfahrer Niklas: „Willst du denn irgendwann auch mal Sex haben? Oder kannst du das haben?" Das war der Zeitpunkt, an dem ich den Film gestoppt und die Webseite des WDR aufgerufen habe, um eine Programmbeschwerde einzureichen.

Aufgabe des WDR ist es nicht, anmaßende Fragen, die behinderte Menschen sowieso schon genug gestellt bekommen, jetzt auch noch einmal vor einem großen Publikum zu stellen. Damit werden Grenzüberschreitungen und Distanzlosigkeit als normal suggeriert, wenn der andere behindert ist.

Natürlich kann man dieses Thema im Fernsehen diskutieren, aber nicht zwischen Tür und Angel und wenn es eigentlich um etwas anderes geht. Der Film bedient nur Klischees, drückt den richtigen Rollstuhlfahrer in eine Nebendarstellerrolle, der sich intime Fragen aber dennoch gefallen lassen muss, und degradiert ihn am Ende auch noch zu einem Inspirationsobjekt, während der Journalist den Tränen nahe ist. Wer wie der WDR die UN-Behindertenrechts­konvention in seinen Programmrichtlinien erwähnt und davon spricht, dass „die Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen" im Programm eine Querschnittsaufgabe darstellt, der muss sich auch daran messen lassen.

Dieser Film baut keine Barrieren ab. Er baut sie in den Köpfen des Publikums geradezu wieder auf. Die UN-Behindertenrechtskonvention geht vom Prinzip der Inklusion behinderter Menschen in der Gesellschaft aus. Oder anders gesagt: Es ist normal, verschieden zu sein. Der WDR hingegen nutzt aber einen behinderten Teenager und einen untalentierten Nicht-Rollstuhlfahrer, um zu zeigen, wie furchtbar schwer das Leben im Rollstuhl ist und alles andere als normal. Ursachenforschung für etwaige Barrieren wird keine betrieben. Schuld ist immer der körperliche Zustand des Rollstuhlfahrers, nie die Umwelt.

„Inspiration Porn"

Für das, was der WDR da gemacht hat, gibt es einen Begriff: Inspiration Porn. Geprägt hat ihn die verstorbene australische Journalistin Stella Young, die selbst Rollstuhlfahrerin war. Der Begriff beschreibt das Phänomen, eine Gruppe von Menschen zu Objekten zu machen, um einer anderen Gruppe von Menschen etwas Gutes zu tun.

In diesem Fall geht es also darum, einen behinderten Menschen zu einem Objekt der Bewunderung zu machen, damit nichtbehinderte Menschen, die den Film schauen, sich inspiriert fühlen, um so ein wohliges Gefühl aufkommen zu lassen: „Ganz egal wie schlecht mein Leben ist, es könnte noch schlimmer sein", formulierte es Stella Young. „Ich könnte diese Person sein." Es gibt einen sehr guten TED-Talk von ihr zu dem Thema, den wirklich jeder, der über behinderte Menschen berichtet, mal gesehen haben sollte, um zu verstehen, warum solche Darstellungen oft scharf kritisiert werden.

Wer heute immer noch über behinderte Menschen berichtet wie zu Zeiten, als die Aktion Mensch noch Aktion Sorgenkind hieß, der darf sich also nicht wundern, dass die Community der behinderten Zuschauer laut wird. Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen meldeten sich zu Wort und empörten sich über den Film und den WDR auf Twitter.

Mein Vorschlag an @WDR_3sechzich & @aktuelle_stunde. Schickt Reporter, die noch nie in Frankreich oder Italien waren dorthin und berichtet wie über MmB. „Esst ihr eigentlich immer Käse?" „Macht ihr den ganzen Tag Amore?" „Kennt ihr Autos oder fahrt ihr überall hin mit Gondeln?"

- Mela Eckenfels (@Felicea) 13. Januar 2018

Hey @WDR_3sechzich, 4 X unterstellt @timschrankel dem Rollstuhlfahrer, dass sein Leben mit Behinderung nicht vollwertig ist. Fragt, ob er Sex will, obwohl es darum nie ging. Parallel spielt ihr traurige Musik. Ihr wisst nicht was dieser Film anrichtet... https://t.co/XCu1z2MgSN

- Michel Arriens (@RollerUndIch) 11. Januar 2018

Der Sender rechtfertigt sich

Man muss dem Team von #WDR360 zugute halten, dass sie schnell reagiert haben. Es gab am Donnerstagabend einen Facebook-Livestream, zu dem die Kritiker eingeladen wurden. Auch Marlon, den Schüler, über dessen Tweet ich überhaupt auf den Film aufmerksam wurde, traf ich dort im Chat. Was dann allerdings kam, waren in erster Linie Rechtfertigungen des WDR, warum das doch alles okay war. Auch in der „Aktuellen Stunde" des WDR-Fernsehens wurde am Freitag auf das Thema eingegangen, aber wieder sehr selbstgefällig. Man hat ja nichts falsch gemacht. Nur den behinderten Zuschauern will das servierte Essen irgendwie nicht schmecken.

Und als ich den Beitrag der „Aktuellen Stunde" sah, in dem auch noch die Aktion Mensch befragt wurde - eine Soziallotterie also, kein Behindertenverband - wurde mir klar: Die wissen es wirklich nicht besser. Und sie haben es auch nicht recherchiert oder sich vorher mal vernünftig beraten lassen. „Wir fahren da einfach mal hin und drehen irgendwas" war noch nie ein besonders gutes journalistisches Konzept. Auch nicht auf YouTube.

Der WDR führte im Facebook-Livestream an, man habe den Film nicht skripten wollen. Das müssen sie auch gar nicht. Sie müssen einfach die Menschen zu Wort kommen lassen, ohne ihre eigene Vorbelastung dem Film aufzudrücken. Oder sie müssen sich zumindest bemühen, die Community, ihre Geschichte, ihr Selbstverständnis überhaupt einmal zu verstehen, bevor man ihnen eine Kamera ins Gesicht hält.

Man muss sich dafür auch nicht selbst so in den Mittelpunkt stellen. Sie hätten einfach dem Rollstuhlfahrer Niklas eine Kamera an den Rollstuhl schrauben können und ihn seinen Alltag filmen und kommentieren lassen. Oder offene Fragen stellen, wie das sonst im Journalismus auch zum Handwerkszeug gehört.

Wie es besser geht

Ich bin nach dem Livestream mit Marlon ins Gespräch gekommen. Es hat mich gefreut, mit jemandem zu sprechen, der 20 Jahre jünger ist als ich und Behinderung schon ganz anders denkt als die Mehrheit meiner Generation. Er sieht den gesellschaftlichen Kontext bei dem Thema und welche Rolle die Medien dabei spielen. Er hat ebenfalls einen Film gedreht für „Funk" von ARD und ZDF. Der ist nicht länger als der WDR-Film, aber erheblich lehrreicher und mit einer starken Botschaft, weil die Moderatorin es schafft, sich selbst zurückzunehmen und nur Impulse zu geben.

Wer wirklich wissen möchte, wie behinderte Menschen leben und was ihnen wichtig ist, der muss sie selbst zu Wort kommen lassen und die eigenen Vorurteile beiseite legen.

Der Aktivist Raul Krauthausen hatte dem WDR übrigens empfohlen, Marlon in die „Aktuelle Stunde" zu schalten. Der WDR hat abgelehnt, ausgerechnet mit der Begründung, man könne über ihn nichts im Internet finden. Die Telefonnummer der Pressestelle der Aktion Mensch ist eben einfacher zu finden als Vertreter einer Gruppe, die viel zu selten selbst zu Wort kommt.

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