Zuviel Hektik schadet dem Geschäft, findet Susanne Henkel und deshalb redet sie über das Jahr 2001 wie über einen Krisenfall. Das Jahr nach dem Milleniumswechsel war ein Boomjahr, die Nachfrage nach Handys ging durch die Decke. Eigentlich ein Glücksfall für ein Unternehmen wie die Richard Henkel GmbH, die auf die Beschichtung von Metallteilen spezialisiert ist. Der Umsatz wuchs in dieser Zeit um ein Viertel. "Wir sind mit der Produktion kaum nachgekommen", erinnert sich die Chefin des schwäbischen Unternehmens. "Wir mussten in drei Schichten arbeiten und trotzdem in die Lohnfertigung ausweichen."
Zur gleichen Zeit gab es auch Engpässe in der zweiten Abteilung des Unternehmens. Henkel stellt seit 60 Jahren Liegen für Bäder und Sanatorien her. Die Stahlliegen mit der Schnurbespannung sind längst ein Klassiker des Möbeldesigns. Vielerorts wurden Spaß- und Kurbäder gebaut oder renoviert. Und viele wollten ihre Wellnessoasen mit Henkel-Liegen ausstatten. Doch wegen der großen Nachfrage war Stahl weltweit knapp und teuer. Henkel konnte seine Lieferfristen und Preise nur noch mit Mühe einhalten.
Dazu kamen die innerbetrieblichen Wachstumsschmerzen. Henkel hatte alle Mühe, die drei Schichten mit zuverlässigen Mitarbeitern zu besetzen, überall mussten Löcher gestopft werden, überall wurde improvisiert. "Alle standen in dieser Zeit unter Stress, die Mitarbeiter und auch die Kunden", erinnert sie sich. "Wir hatten keine Zeit mehr für Gespräche zwischen den Mitarbeitern, aus denen ja oft neue Ideen entstehen." Es kommt in so einer Phase auch leicht zu Fehlern. Zum Glück, sagt die Chefin, habe es keine Pannen gegeben, die auch Kunden zu spüren bekommen hätten. Und als Susanne Henkel am Ende in die Kasse blickte, war das Ergebnis der ganzen Plackerei äußerst mager. Die Chefin beschloss: "So eine Wachstumsphase, die wollen wir nicht mehr."
Forchtenberg im Hohenlohischen. Eine ländliche Gegend zwischen Würzburg und Heilbronn, wo Franken auf Württemberg stößt. Susanne Henkel, 60 Jahre, schlichte Jeans, ein Bluse mit Füchsen darauf, die schulterlangen Haare offen tragend, steht mitten in der Fabrikationshalle und erzählt von ihrem unternehmerischen Annus Horribilis. Hinter ihr fahren Teile, die aussehen wie Bullaugen, in den Beschichtungsofen.
Bei der Kur stieß Gründer Henkel auf eine neue Geschäftsidee
Eigentlich kommt das Unternehmen aus der Textilindustrie, war einmal Hersteller von Lastwagen-Planen. 1922 gegründet, baute Richard Henkel bald die Gestänge für Planen gleich mit. Damit kam das Metall ins Unternehmen. Bei Luftfahrt- und Automobilzulieferern ist die Richard Henkel GmbH heute bekannt und geschätzt für ihr Know-how in der Pulverbeschichtung.
1948 erlitt der Firmengründer einen Herzinfarkt. Bei der Kur in Baden-Baden stieß er auf eine neue Geschäftsidee. Im Sanatorium, wo sich Henkel eigentlich erholen sollte, gab es damals nur Betten und Stühle für die Patienten. Was es nicht gab, waren Liegen, die etwas anderes als eine Schlafposition erlaubten. Richard Henkel wollte aber lesen. Wieder im Betrieb konstruierte er die erste Stahlliege, die ein halbaufrechtes rückenschonendes Liegen ermöglicht. Das Stahlgestell wurde mit Schnüren bespannt und erlaubte ergonomisches Liegen. Ein riesiger Markt im Kur- und Bäderbetrieb der Nachkriegszeit.
Die Liegen werden noch heute von Hand bespannt, alte Schnüre können inzwischen geschreddert und zu neuen Schnüren verarbeitet werden. Der Rahmen ist bis heute aus Stahlrohr, den sich der Kunde bei Henkel immer wieder neu bespannen lassen kann. Manche bringen ihre Liegen - oft Erbstücke - persönlich vorbei. "Wie zu einer Operation", erzählt Susanne Henkel. Dann trinkt man einen Kaffee, während dem guten Stück neue Saiten aufgezogen werden. All das ist Kundendienst, zwar nicht kostenlos, aber günstiger als ein neues Modell.
Nachhaltig ist die Reparatur alter Liegen, aber vor allem sei es ein stabil profitabler Teil des Unternehmens, sagt Susanne Henkel: "Ich muss keinen Stahl einkaufen, habe die Hälfte des Materialeinsatzes, meine Mitarbeiter werden beschäftigt und die Löhne bezahlt. Was will ich mehr?"
Dass die Reparatur zudem ein fast konjunkturunabhängiges Geschäft ist, hat die Unternehmenschefin erst im Krisenjahr zu schätzen gelernt. Denn das folgte direkt auf das Boomjahr. 2002 war der Markt der Handys plötzlich zum ersten Mal gesättigt.
Brauchen wir mehr Umsatz oder mehr Ertrag?
In der Beschichtungsabteilung, in der man gerade noch nicht wusste wohin mit der Arbeit, standen die Bänder jetzt an manchen Tagen still. Damals brach der Umsatz im gesamten Unternehmen plötzlich um 21 Prozent ein. Henkel musste Kurzarbeit anmelden. In allen Abteilungen des Unternehmens, nur nicht in der Liegenreparatur.
Nach diesen beiden extremen Jahren hat sich Susanne Henkel damals gefragt: Worum geht es denn in einem Unternehmen wirklich? Müssen wir noch die letzte Auftragsspitze in der Beschichtung mitnehmen? Müssen wir mit unseren Liegen unbedingt im letzten Winkel der Erde präsent sein? Oder sind wir mit dem Trend von Wellness, Spa und Kurzurlauben in Europa ganz gut aufgehoben? Was bleibt unterm Strich übrig? Brauchen wir mehr Umsatz oder mehr Ertrag?
Susanne Henkel ist eine selbstbewusste und energische Frau, die ihren Kunden auch schon mal die Meinung sagt. Eine, die sich nicht so leicht von ihrem Weg abbringen lässt, wenn sie ihn einmal für richtig befunden hat. Sie hat damals mit spitzem Bleistift gerechnet und ist zu dem Ergebnis gekommen: "Ich will anständige Löhne bezahlen. Und ich brauche Kapital für Forschung und Investitionen, denn das erwarten die Kunden von mir." Und dann sagt sie mit einem Lächeln, das einen zum Komplizen macht: "Und vielleicht brauchen wir alle auch ein freies Wochenende und Spaß bei der Arbeit." Umsatzwachstum sei jedenfalls kein Ziel mehr für sie und ihr Unternehmen.
"Eine Weltmarktführer-Region sind wir"
Als zwei Jahre nach der Finanzkrise 2009 wieder eine Wachstumsphase über sie hereinbrach, war Susanne Henkel vorbereitet. Im Unternehmen wurden diesmal keine drei Schichten mehr gefahren. Stattdessen hat die Chefin damals die Gelegenheit genutzt und das Portfolio bereinigt, lukrative Produkte weiter ausgebaut, andere eingestellt. Dabei habe man sich in der Beschichtung dann auch von dem einen oder anderen Kunden trennen müssen, sagt Susanne Henkel. Natürlich nicht, ohne ihm einen anderen Lieferanten zu empfehlen.
Nun gibt es auch ein paar ganz objektive Gründe, die die Richard Henkel GmbH daran hindern - oder wie Susanne Henkel sagen würde "davor bewahren" - mit den Aufträgen zu wachsen. Hohenlohe ist zwar ziemlich ländlich, aber mit vielen erfolgreichen Unternehmen gesegnet, Würth zum Beispiel. "Eine Weltmarktführer-Region sind wir", sagt Susanne Henkel. Bei weniger als vier Prozent Arbeitslosigkeit ist es nicht einfach, Stellen neu zu besetzen. Selbst Leiharbeiter für Auftragsspitzen seien in der Region kurzfristig nur schwer zu bekommen, klagt die Unternehmerin. Und so hat Henkel noch heute 50 Mitarbeiter. Genauso viele, wie zur Zeit der Firmengründung.
Auch deshalb verlagert sich das Unternehmen nun auf das, was Susanne Henkel inneres Wachstum nennt. Da sind etwa diese Haken. Einfache Mechanismen aus Metall, sogenannte Transportbleche. An ihnen werden die Industrieteile nach der Oberflächenbeschichtung in den Brennofen transportiert. Transportbleche müssen Lasten tragen können und große Temperaturunterschiede aushalten. Außerdem müssen sie fest und massiv sein, nicht gleich verschleißen. Bis zu zehn Millimeter sind sie deshalb normalerweise dick. Wenn die Transportbleche durch den Beschichtungsofen wandern, speichern sie viel Wärme. Das kostet Energie.
Die heilige Dreifaltigkeit nachhaltigen Wirtschaftens
"Unsere Transportbleche sind nur 2,9 Millimeter dick und hochfest", sagt Susanne Henkel triumphierend. Mit Hilfe solch innovativer Techniken sucht sie die Wertschöpfung nun im eigenen Unternehmen. Der eleganteste Weg sei das, findet Susanne Henkel: "Denn dann habe ich den Ertrag direkt."
Effizienz, Konsistenz, Suffizienz - das ist die heilige Dreifaltigkeit des nachhaltigen Wirtschaftens. Der geringere Einsatz von Ressourcen bei gleichem oder sogar höherem Ertrag, der Einsatz von geschlossenen Kreisläufen und das, was einem Unternehmer am schwersten fällt: der Verzicht. Also kein offensives Wachstum, keine neuen Vertriebskooperationen, um ein abstraktes Wachstumsziel zu erreichen. Und wenn Henkel dann trotzdem um 3,2 Prozent wächst, wie im vergangenen Jahr, freut sich die Chefin über ihren Bestandsmarkt, der ihr das ermöglicht.
Susanne Henkel reicht ein alter BMW als Dienstwagen. Der Drucker im Sekretariat wird nicht ersetzt, sondern von Mitarbeitern mit einem Ersatzteil repariert, das sie bei Ebay ersteigert haben. Und der Betriebsleiter muss mit der Enttäuschung klarkommen, wenn er anstatt eine neue Schweißmaschine zu bekommen nur eine neue Schweißtechnik anwenden soll, damit die Liegen stabiler werden.
Es ist die ganz persönliche Unternehmensphilosophie der Susanne Henkel, die ihre Mitarbeiterinnen gerne "meine Wickelschnuckis" nennt und im Betrieb Ermahnungen, das Licht auszumachen, mit lustigen Zeichnungen von Vögeln versieht. "Sie kennt sich in jedem Produktionsdetail aus", sagt eine langjährige Mitarbeiterin. "Und wenn ein Druckluftschlauch mal nicht richtig montiert ist und deshalb die Luft rausströmt, hört sie es als Erste."
Henkel verfolgt diese Philosophie weniger, weil sie glaubt, damit den Planeten retten zu können. Eher schon, weil sie es einfach für vernünftig hält. Immerhin gelingt es der Unternehmerin so, übertarifliche Löhne zu bezahlen und jährlich den Ertrag zu steigern. Über konkrete Zahlen möchte sie dabei aber nicht sprechen.
Bitte keine Expansion
Dass sie das Unternehmen eines Tages leitet, war nicht geplant. Eigentlich ist sie Juristin, hat in Mannheim studiert, wo auch Gert von Kortzfleisch, Mitglied des Club of Rome, lehrte. Seine Thesen haben sie beeinflusst, sagt sie, obwohl sie nie in der Umweltbewegung aktiv war. 1983, als auch ihr Vater einen Herzinfarkt erleidet und die Geschäfte nicht mehr führen kann, arbeitet sie schon in einer Anwaltskanzlei. Da aber der eine Bruder kein Interesse hat, der andere Bruder noch zu jung ist, übernimmt die Tochter das Familienunternehmen. Ganz Juristin sieht sie in dem Unternehmen nicht die Chancen, sondern zuerst die Risiken. Der Betrieb liegt in einem damals frisch ausgewiesenen Wasserschutzgebiet. Sie prüft, welche Umweltrisiken die Bearbeitung der Stahlliegen und vor allem die Metallbeschichtung bergen. Beschichtete Teile werden nach dem Brennen gewaschen. Sie führt einen geschlossenen Wasserkreislauf ein. Sie übernimmt ein Filtersystem aus der Milchindustrie, mit dessen Hilfe sie die giftigen Rückstände aus der Beschichtungsanlage auf ein Minimum reduziert. Alle Produktionsabläufe werden darauf abgestimmt.
Aber Susanne Henkel geht noch einen Schritt weiter. Sie verlangt von ihren Kunden, dass sie bei der Vorbehandlung der metallenen Oberflächen, die bei Henkel später beschichtet werden, nur Öle einsetzen, die auch zu der Umwelttechnik im Unternehmen passen. Daran halten sich die Kunden. Bei Richard Henkel spart diese Umwelttechnik bares Geld, Wasserkreislauf und Filter haben sich nach zwei Jahren amortisiert.
So innovativ die Unternehmerin technisch auch ist, so konservativ bleibt sie in der Strategie. Andere würden vielleicht auf die Idee kommen, das Risiko eines so kleinen Unternehmens zu streuen. Allein mit der Herstellung des hochfesten und leichten Materials ihrer Transportbleche könnte man wahrscheinlich ein neues Unternehmen aufbauen. Ein neues Produkt, ganz losgelöst vom alten Geschäft, das neue Zukunftsmärkte eröffnet und sich vielleicht auch international vermarkten lässt.
"Ja bin ich denn verrückt?", ruft Susanne Henkel. Die Richard Henkel GmbH hatte einmal zwei Tochterunternehmen. Die Chefin hat sie verkauft. "Es wurde uns zu viel." Ihr Großvater und ihr Vater hätten mehrere Herzinfarkte erlitten. Man könne sich also ihre Krankheitsprognose vorstellen.
Da vergibt sie schon lieber Lizenzen. So werden die Liegen in der Schweiz von einem Subunternehmer vertrieben und auch repariert. Das gleiche Modell inklusive Lizenzproduktion könnte sie sich auch für den US-Markt oder Fernost vorstellen. Oder für die Transportbleche. Da müsse man dann halt die Qualität kontrollieren.
Aber bitte keine Expansion. Bei Richard Henkel, sagt Susanne Henkel, da wolle sie sich beschränken. Und zwar auf das Wesentliche.
Dieser Text stammt aus dem Magazin "enorm - Wirtschaft für den Menschen".