Dann ist es plötzlich Winter. Der rüstige Sessellift tuckert tapfer durch den Fichtenwald, als es scheint, ein Bildschirm würde zu flackern beginnen. Wind peitscht traubengroße Flocken in mein Gesicht, zersetzt das Braun des Waldbodens mit einem frischen, herrlichen Weiß. Während meine Sicht allmählich verschwimmt, fühle ich mich zurückversetzt - in meine Kindheit in den Neunzigerjahren, in das Nachbardorf, zu diesen endlosen Sesselliftfahrten, bei denen die Finger gefroren. Die Winter waren kalt, der Schnee lag meterhoch, Lifte sprinteten noch nicht so rasant den Berg herauf, es gab keine Sitzheizungen, keine Plexiglasscheiben, die vor Wind und Schnee schützten.
Wer sich fühlen will wie zu einer Zeit, als Skifahren noch seine Unschuld hatte, der muss nach , an den Millstätter See.
Der Zug dorthin hält in Spittal an der Drau. Ein Bahnhofsshuttle fährt mich dem Skigebiet entgegen. Im Tal glitzert der See, nach einer halben Stunde komme ich in Bad Kleinkirchheim an. Umrahmt wird das Dorf von den Nockbergen. Sie sind anders als die Berge der großen österreichischen Winterdestinationen in Tirol oder dem Salzburger Land. Nicht felsig, kantig, gewaltig, nein, sanft geschwungen und voller Nadelwälder. So lieblich wie die Nockberge ist auch Bad Kleinkirchheim. Die Häuser sind sparsam gestreut, viele Wiesen unbebaut. Passanten sagen "Griaß di", reichen den Arm, um über das Glatteis zu helfen, drinnen duftet es nach Zirbe, jenem Holz, das überall verbaut ist. Die Wärme des Ortes entspringt in den Bergen: Thermalwasser, 36 Grad. Um die Quelle herum wurde die Krypta der Kapelle St. Kathrein gebaut. Auf etwa 1700 Einwohner kommen zwei Thermalbäder, dazu etliche Hotels mit Wellnessbereich.
Eigentlich hat mich der Zufall nach Bad Kleinkirchheim verschlagen. Ich wollte nach Oberbayern, genauer: Lenggries. Am Brauneck fuhr ich als Jugendlicher mit meinen Eltern, schmale, etwas holprige Abfahrten, überschaubare 34 Pistenkilometer. Nicht ohne Neid hörte ich meine Klassenkameraden von Kitzbühel, Ischgl oder dem Arlberg erzählen, Skigebieten mit sehr viel mehr Abfahrten. Doch jetzt, Jahre später, das Gas ist knapp, die Folgen des Klimawandels sind offensichtlich, da dachte ich: Vielleicht ist es ja genau das, was wir brauchen, um das Skifahren noch zu retten - Bescheidenheit.
Zwei Tage vor meinem Aufbruch dann der Anruf: Der Betrieb in Lenggries wird vorerst eingestellt, zu warm draußen. Ja, auch das gehört zur Bescheidenheit, man will es nicht mit Kunstschnee erzwingen. Und so bin ich stattdessen zum Millstätter See aufgebrochen, in eine Region, die etwas höher und deshalb schneesicherer liegt, sonst aber ähnlich ist - wenige, kleine Skigebiete mit Retro-Liften, dazu die Nockberge, die von der Unesco als Biosphärenpark ausgezeichnet wurden, was so viel heißt wie: Hier lebt und wirtschaftet man im Einklang mit der Natur.
Am Morgen spucken schwere Wolken kalten Regen aus, der die Reste an Harschschnee auswäscht. Auf dem Weg zum Skiverleih stürze ich fast. Ich bin aufgeregt: Seit meinem Umzug nach Hamburg vor vier Jahren stand ich nicht mehr auf der Piste. Beim Verleih treffe ich Miro. Er wird mich einen Tag begleiten und mir das Skigebiet in Bad Kleinkirchheim zeigen. Er ist Anfang 40, groß und kräftig, ergrauter Bart. Ursprünglich komme er aus Kroatien, sagt er, wobei er mit so viel Nachdruck spricht, dass es mir manchmal so vorkommt, als brülle er mich an. Wir nehmen Platz auf einem Sessellift, Miro erzählt, er habe als Skilehrer auch in der Schweiz und am Arlberg gearbeitet, aber in Bad Kleinkirchheim fühle er sich am wohlsten, die Pisten seien leerer als woanders, die Schlangen an den Liften kürzer, und eigentlich scheine immer die Sonne, nur eben heute nicht. Ich blicke über das Skigebiet, sehe altersmüde Sessellifte wie diesen und viele Schlepper. Ja, alles hier wirkt nett und bescheiden. Und obwohl ich deshalb hier bin, kommen mir doch Zweifel: Sind das wirklich die richtigen Kriterien, wenn es um Skifahren geht? Oder verkenne ich, verblendet von politischer Korrektheit, dass sich Spaß und Vernunft nun mal schlecht vertragen?
Oben am Berg hat es aufgehört zu regnen, vor uns liegt eine fast unberührte Piste, vereinzelte Spuren ziehen sich durch ein pulvriges Weiß. Die Winterferien in Deutschland sind inzwischen vorüber, also ist Nebensaison. Die wenigen Stimmen, die wir vernehmen, sprechen Italienisch, Serbisch, Slowenisch, Kroatisch. In zwei Stunden ist man in Udine oder Ljubljana, in Zagreb in dreieinhalb.
Wir stürzen den Hang hinab. Unter unseren Skiern knarzt der Schnee. Ich muss daran denken, wie mir kürzlich jemand erklärt hat, so höre es sich an, wenn Schneekristalle brechen. Wie schön das ist! Ich brauche nicht lange, um mich wieder an das Gefühl auf Skiern zu gewöhnen. In kurzen Schwüngen tänzele ich den Berg hinunter, wirble Wölkchen auf.
Unten sagt Miro, der Schnee sei echt, kein Kunstschnee, sie hätten heute Morgen nicht beschneit, bei dieser Höhenlage reiche es, zu präparieren. So machten sie das hier: Am Anfang des Winters schaffe man mit der Schneekanone eine Grundschicht, anschließend werde Kunstschnee nur sporadisch eingesetzt, ab Februar gar nicht mehr, um die Almen im Sommer besser beweiden zu können. Kunstschnee lasse weniger Sauerstoff durch, was dem Boden letztlich nicht guttue. Wenn der Schnee ab Februar ausbleibe, müsse man das Skigebiet schließen. Seit Miro hier arbeitet, sei das noch nie passiert.