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Reportage spécial

Alte Mode, neues Geld

Der Online-Shop Vestiaire Collective handelt sehr erfolgreich mit Luxuskleidung aus zweiter Hand. Die Fashion-Industrie sorgt für stetigen Nachschub – ein lukrativer Kreislauf.

Das Seidenpapier raschelt und schmiegt sich um die kleine schwarze Gucci-Tasche mit Bambus-Griff, die behutsam mitsamt ihrer Papier-Umhüllung im versandfertigen Karton bereit liegt. Der Deckel schließt sich, und wenige Minuten später ist die Luxusbag auf dem Weg zu ihrem neuen Besitzer. Delphine aus Frankreich, die Frau, der einst die Tasche gehörte, freut sich zur gleichen Zeit über 500 Euro auf ihrem Konto. Wird sie den Erlös des Verkaufs in eine neue Tasche investieren? Vielleicht. 

Designer-Ware zu kaufen und wieder zu verkaufen, liegt heute im Trend. Der Grund ist so einfach, wie banal: Wir haben alle viel zu viel. Unsere Schränke sind übervoll. Jede deutsche Frau besitzt laut einer Studie von Greenpeace durchschnittlich 118 Kleidungsstücke. Rund ein Drittel der Frauen hat mindestens doppelt so viele Teile, und jede Woche kommen zirka fünf neue hinzu. Mode ist zum schnelllebigen Konsumgut geworden: Fastfashion-Anbieter wie H&M, Zara oder Mango beliefern ihre Filialen jede Woche mit neuer Ware, Designer entwerfen vier bis sechs Kollektionen pro Jahr. Kaum noch jemand trägt seine Schuhe länger als ein Jahr, das Trend-Top hat sogar schon nach drei Monaten ausgedient. 40% unserer Kleider, so schätzt die Studie, tragen wir selten oder gar nicht. 

„Der Anteil der ungetragenen Kleider ist noch viel größer“, schätzt Sébastien Fabre. Der 46-jährige Franzose muss es wissen. Er ist Mitbegründer des Online-Shops Vestiaire Collective und hat aus dem Handel mit verschmähten Kleidungsstücken ein Businessmodell gemacht. Die Website ist als „Online-Marktplatz“ aufgebaut, auf dem sich in professionellem Rahmen private Verkäufer und Käufer von Designer-Mode und Accessoires finden können. Die Aufmachung des Online-Angebots unterscheidet sich optisch kaum von anderen E-Shops für Designerware: Jedes zum Verkauf stehende Produkt ist detailliert beschrieben und in Fotos abgelichtet. Die Regeln des Verkaufs, wie auch die Preise sind vorab festgelegt. Mit dieser sehr gehobenen und professionellen Aufmachung ist dem 2009 gegründeten Pariser Startup gelungen, in wenigen Jahren zum europäischen Marktführer für Luxus-Second-Hand aufzusteigen. Im Jahr 2015 setzte Vestiaire Collective 78 Millionen Euro um, der Erlös wächst jedes Jahr um 70 Prozent. Fünf Millionen Mitglieder, zu denen sich jeden Monat 100.000 neue dazu gesellen, und 63 Millionen Euro akquiriertes Investitions-Kapital sprechen für sich. 

Von solchen Erfolgszahlen ist im Headquarter wenig zu spüren. Vestiaire Collective verkauft zwar Chanel-Taschen und Gucci-Loafers am laufenden Band und einmal sogar eine Birkin-Bag von Hermès aus Krokodil-Leder und mit Saphir-Verschluss für 18 5000 Euro. Aber die Zentrale der Firma sitzt wenig glamourös in einem hässlichen Beton-Klotz im Südwesten von Paris. Vor dem Eingang verläuft eine mehrspurige Ausfall-Straße, drinnen herrscht noch immer Start-up-Atmosphäre: Unter einer schlichten weißen Kastendecke mit Neonbeleuchtung erstrecken sich spärlich möblierte Großraumbüros. Kreuz und quer in den Räumen stehen graue Plastikkisten voller Taschen, Schuhen und Accessoires. Auf Kleiderständern hängt die bereits verkaufte Ware: Pelzstolas, Kaschmirmäntel, Abendkleider oder High-Heels mit 14 Zentimeter-Absatz. Alles ist fein-säuberlich verpackt in durchsichtige Plastiktüten, die mit einem Logistikzettel versehen sind.

Fabre schätzt, dass weltweit in den Kleiderschränken Mode im Wert von 200 Milliarden Euro schlummert. Über die in den Medien kolportierten sieben Milliarden, auf die allgemein der Markt mit Vintage-Mode geschätzt wird, kann der Geschäftsführer nur schmunzeln. Mit Jeans, T-Shirt und modernem Hipster-Bart unterscheidet er sich modisch kaum von seinen 250 Mitarbeitern. „Der Luxusmarkt hat selbst die besten Voraussetzungen geschaffen, damit das Geschäft mit Second-Hand-Ware blüht. Designer-Produkte sind im höchsten Maße begehrlich und die Konsumenten werden von den Marken regelrecht verführt“, sagt Fabre. Der Vestiaire-Collective-Chef ist sich sicher, dass der Konsum in den kommenden Jahren weiter steigen wird. „Es gibt immer mehr Influencer und neue Kommunikationsmöglichkeiten in der Mode. Soziale Medien wie Instagram oder Snapchat werden in Zukunft einen viel größeren Einfluss auf unser Konsumverhalten nehmen, als wir es heute abschätzen können.“ 

Doch zwischen dem Begehren, dem Besitz und der Nutzung der Designerware besteht eine große Diskrepanz. „Ich habe es bei meiner Ex-Frau selbst miterlebt: Sie kaufte sich ständig neue Designer-Taschen, die dann zuhause in ihrem Schrank blieben, während sie täglich mit ihrem abgenutzten Shopper von GAP durch die Gegend lief. Ich finde, wir haben fast schon eine ethische Verantwortung, diese ungenutzten Pretiosen wieder in den  Umlauf zu bringen“, sagt Fabre. Das Motto der Pariser Firma heißt deshalb auch: „You buy, you wear, you sell, you share.“ Auf Deutsch: Du kaufst, du trägst, du verkaufst und du teilst. 

Der CEO betont, dass er mit Vestiaire Collective keinen Parallelmarkt zur Luxusindustrie aufmachen wollte, sondern einen Sekundärmarkt. „Viele Designermarken haben uns anfangs mit Argwohn beachtet, weil sie Angst hatten, dass wir ihnen Käufer abspenstig machen. Dabei ist genau das Gegenteil eingetreten: Wir haben das Klientel verjüngt. Eine junge Frau, die sich eine Chanel-Tasche wünscht, kauft zuerst bei uns eine gebrauchte. Sie wird damit viel früher an die Marke gebunden und wird sich zu einem späteren Zeitpunkt eher eine neue Tasche bei Chanel kaufen, weil sie deren Qualität und Mehrwert kennt.“ 

Dass die Luxusmarken ihre Vorurteile gegenüber den Second-Hand-Händler aufgegeben haben und heute eng mit dem Pariser Startup zusammenarbeiten, hat zwei Gründe: Erstens ist die Instanz für Luxus, der US-amerikanische Condé Nast Verlag (Vogue, Glamour, Architectural Digest) 2012 als Investor bei den Parisern eingestiegen. Zweitens unterzeichneten die Second-hand-Spezialisten im gleichen Jahr die Charta der französischen Regierung zum Kampf gegen Raubkopien. Vestiaire Collective sitzt nun also mit anderen Marken wie z.B. Céline, Dior, Burberry oder Yves Saint Laurent in einem Boot. 

In der Praxis bedeutet dieses Engagement, dass jedes Teil vor dem Verkauf überprüft wird. Die Kontrolleure, die über Taschen, Schuhe, Pelzmäntel oder Seidenblusen zu Gericht gehen, sitzen ein Stockwerk unter der Chef- und Marketing-Etage. Gerade holt eine Mitarbeiterin eine kleine, kanariengelbe Kelly-Bag aus einer der grauen Plastikkisten. Sie führt sie als erstes an die Nase und schnuppert. Dann geht sie mit der Tasche zu ihren beiden Kolleginnen, die bereits das Maßband in der Hand haben. Die Kelly wird vermessen, danach von allen Seiten kritisch beäugt. Eine Mitarbeiterin nickt, die andere tippt die Eckdaten in den Computer, die dritte verpackt die kleine Hermès-Pretiose in eine der durchsichtigen Plastiktüten und hängt sie an die Kleiderstange für die versandfertigen Produkte. „Es gibt zwei Kontrollen“, erklärt der Firmengründer. „Die erste überprüft die Qualität, also ob Fäden abstehen oder Kratzer im Leder sichtbar sind. Die zweite überprüft die Authentizität der Produkte, also ob die Prada-Schuhe auch wirklich von Prada sind. Dafür haben wir extra Experten aus Auktionshäusern abgeworben. Die kennen die geheimen Details, auf die es ankommt und die ein echtes Stück ausmachen.“ Bleibt bei der Kontrolle trotz des Know-hows ein Rest-Zweifel, wird sogar der Hersteller zu Rate gezogen. „Aber das kommt nur in 0,5% der Fälle vor.“ 

Die Abwicklung ist aufwendig, aber sie macht das Image und Ruf der Firma aus. Dass man bei Vestiaire Collective mit absoluter Sicherheit ein Original bekommt, zieht die richtigen Verkäufer an. So wie Antonio, der gleich mehrere Rolex-Uhren im Wert von 5000 bis 15000 Euro auf den Online-Marktplatz gestellt hat. Oder wie Alessandra aus Italien, die gerade ein Wollkleid von Valentino für 845 Euro anbietet. Oder wie Aurelie aus Frankreich, die ihren Isabel Marant Poncho für 460 Euro loswerden möchte. Alle drei hätten in einer normalen Second-Hand-Boutique niemals so hohe Preise für ihre gebrauchten Kleider oder Uhren verlangen, geschweige denn beim Verkauf die entsprechenden Erlöse mitnehmen können. Eine normale Vintage-Mode-Boutique nimmt 50% Marge auf die in Kommission verkauften Produkte, Vestiaire Collective im Durchschnitt 25%. 

„Bei den meisten Second-Hand-Läden hat man den Eindruck, mit seinen gebrauchten Kleidern eine Art Schulprüfung ablegen zu müssen. Gut behandelt wird man selten“, berichtet der Chef aus eigener Erfahrung. Dabei sei doch gerade der Anbieter des Luxusproduktes essentiell wichtig für das Geschäft: Er ist die Quelle, die womöglich die Gucci-Loafers, die derzeit überall ausverkauft sind, in der richtigen Größe im Schrank liegen hat, oder die Hermès-Kelly in der Krokoversion sofort liefern kann – auf die man beim Neukauf sonst mehrere Jahre warten müsste. „Derzeit sind alle ganz verrückt nach Loewe wegen des neuen Designers J.W.Andersen. Nur leider vertreibt Loewe viele seiner Produkte nur im Heimatland Spanien. Es ist ziemlich schwierig, an die begehrten Stücke heranzukommen. Außer bei uns: Wir aber haben gerade rund 2000 Produkte vom Loewe im Angebot“, erzählt Fabre.

Die Italiener sind derzeit die eifrigsten Verkäufer, die erst vor einem Jahr dazu gekommenen Amerikaner kaufen vor allem französische Marken –  allen voran Isabel Marant – und für die Deutschen, eine sehr starke Käufergruppe, hat Vestiaire Collective erstmalig auch die Marke Hugo Boss mit ins Angebot aufgenommen. „Wir gehen bei der Auswahl unseres Katalogs keine Kompromisse ein. Ins Angebot kommt nur, was uns gefällt. Und wir akzeptieren ausschließlich Marken, die gerade im Trend liegen oder in einem Land besonders nachgefragt werden.“ Rund ein Drittel der angebotenen Waren wird aussortiert. Dieses rigorose Auswahlverfahren zahlt sich aus: 40% der Waren verkaufen sich in weniger als einer Woche. Der schnellste Verkauf war eine Louis Vuitton Tasche, die in nur vier Sekunden den Besitzer wechselte. 

Die Produkte kommen derzeit aus 20 Ländern und werden in 49 Länder verkauft. Sébastien Fabre sagt: „70% der verkauften Waren passieren eine Landesgrenze. Das spiegelt genau die aktuelle Realität des Modebusiness wieder. Unser Ziel ist, Produkte überall auf der Welt aufzustöbern, um sie danach in eine andere Ecke der Welt zu vertreiben und dort die glücklich zu machen, die schon lange danach gesucht haben.“ Genau das gefällt Fabre an seinem Job so sehr: Er will die Schätze finden, die überall in den Tiefen der Kleiderschränke vor sich hinschlummern.