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Sagt they zu mir!

 Die Schüler entschei­den, mit welchem Pronomen sie angesprochen werden, die Lehrer tragen Regenbogenzeichen. Milo Chesnut und Devon Shanley haben die Brooklyn Collaborative School in New York reformiert. Um ein Vorbild zu sein, muss man sich nicht outen, finden sie.

Dieser Text ist in der Ausgabe 36/2018 der Wochenzeitung "der Freitag" erschienen

der Freitag: Milo, wurden Sie als Mädchen oder als Junge geboren?
Milo Chesnut: Bei der Geburt wurde mir das weibliche Ge­schlecht zugewiesen. Das bedeu­tet, dass ein Arzt anhand meiner äußerlichen Geschlechtsmerk­male bestimmt hat, dass ich ein Mädchen bin. Ich sage über mich, dass ich nicht geschlechts­konform und non­binär bin, das heißt, dass ich mich nicht in das traditionelle binäre System, das in Mann und Frau unterschei­det, einfügen möchte.
Stellen Sie sich Ihren Schüler*innen als Lehrer oder als Lehrerin vor?
Milo: Ich stelle mich als Milo vor. An unserer Schule sprechen die Schüler die Lehrer mit dem Vor­ namen an, deswegen stellt sich die Frage nach „Miss“ oder „Mis­ter“ nicht. Ich möchte aber nicht mit „she“ oder „he“ angespro­chen werden, sondern mit „they“.

Im Deutschen wäre das schwierig: das weibliche „Sie“ ist mit dem Mehrzahl-„Sie“, also „they“ identisch. Wir würden aber Lehrer*in schreiben ...
Milo: Das mit dem Sternchen gefällt mir sehr gut.

Devon, sind Sie als Mädchen oder als Junge geboren?
Devon Shanley: Ich bin als Mäd­chen geboren. Im College habe ich festgestellt, dass ich transgender bin. Die meisten Schüler wissen das nicht, sondern gehen davon aus, dass ich cisgender bin, also als Mann geboren und als Mann lebend.

Sie haben an Ihrer Schule einiges umgekrempelt, es gibt genderneutrale Toiletten, alle Lehrkräfte tragen ein Regenbogenzeichen und die Lernenden dürfen entscheiden, mit welchem Namen und welchem Personalpronomen sie angesprochen werden wollen. Wozu?
Milo: Kinder, die nicht in das bi­näre System passen, stehen in der Schule häufig sehr alleine da. Wir wollen überall zeigen, dass die Schule und die Lehren­ den hinter ihnen stehen und ihre Identität respektieren.

Und wie funktioniert das mit den Personalpronomen?
Milo: In unserer Schule gibt es Tutor*innen­Gruppen, die während der ganzen Schullauf­ bahn zusammenbleiben und sich einmal am Tag treffen. Die Schüler*innen können sagen, mit welchem Namen und Perso­nalpronomen sie angesprochen werden wollen und wie wichtig es ihnen ist, dass das auch einge­halten wird. Die Tutorin hat die Aufgabe, das an die Lehrenden weiterzugeben. Einige ändern ihre Personalpronomina mehrmals im Laufe ihrer Schulzeit. Erwach­sen zu werden heißt eben auch, zu experimentieren.

Gibt es da nicht viel Gekicher?
Devon: Nein, überhaupt nicht. Es lacht keiner, sondern die Schü­ler*innen merken, dass wir sie und ihre Persönlichkeit ernst neh­men. Außerdem wachsen die Kinder heute schon mit anderen Vorbildern auf. Ich fange zum Beispiel gerne damit an, dass ich die möglichen Personalprono­mina auf Karten schreibe und auf den Tisch lege. Einmal habe ich „they“ vergessen und ein Schüler sagte: „Da fehlt ,they‘!“ Dass er das kannte, liegt daran, dass es immer mehr berühmte Menschen gibt, die nicht geschlechtskonform leben.

Meinen Sie, dass mithilfe dieser Vorbilder mehr Kinder früher erkennen, wenn sie zum Beispiel im falschen Körper geboren wurden?
Devon: „Im falschen Körper geboren“, das ist so ein typisches Narrativ, das man den Transgen­dern aufdrückt. Warum sich das so etabliert hat, kann ich nicht sagen. Vielleicht, weil es dafür eine so scheinbar einfache Lö­sung gibt – dann macht man halt eine Geschlechtsumwandlung und dann passt es wieder ins binäre System. Eine Geschlechts­umwandlung ist aber meist nicht das Erste, was sich Transgender wünschen, viele wollen über­haupt erst einmal als Transgender anerkannt werden.

Werden wir also in Zukunft mehr Kinder haben, die genderfluid sind?
Milo: Ich finde es gut, dass es immer mehr Menschen gibt, die zeigen, dass sie genderfluid sind. Das sind gute Vorbilder.
Devon: Queere Schüler*innen fehlen häufiger in der Schule, schreiben schlechtere Noten, ha­ben häufiger Depressionen und höhere Suizidraten. Es wäre toll, wenn das aufhören würde, weil es normal ist, nicht cis­gender zu sein.

Ist Ihre Schule eine für nicht geschlechtskonforme Kinder?
Devon: Tatsächlich haben wir einige neue Schüler*innen bekommen, die nicht geschlechts­konform leben, nachdem bekannt wurde, wie wir arbeiten. Aber das ist nicht das primäre Ziel. Es geht darum, den Lernenden Grenzen sichtbar zu machen, die ihnen gesetzt werden, wenn die Gesellschaft von ihnen erwartet, dass sie sich auf eine bestimmte Art zu verhalten haben. Sich zu fragen, welche Genderidentität man wirklich hat, ist nur eine Art, diese Grenzen zu hinterfragen.
Milo: In vielen Schulen herrscht immer noch das binäre System. Dabei macht es aus pädagogi­scher Sicht keinen Sinn, Jungen oder Mädchen darin zu bestär­ken, sich so zu verhalten, wie man es von einem Jungen oder einem Mädchen erwartet.

Es gibt doch aber Verhaltensunterschiede. Mädchen verhalten sich eher regelkonform, Jungs sind eher ruppig, oder nicht?
Devon: Nein, ich bin überzeugt davon, dass in jeder und jedem von uns ein großes Spektrum an Charakterzügen steckt, weibli­che und männliche. Wenn man sagt: „Jungs sind ruppig“, dann bestätigt man sie in einem aggres­siven Verhalten, das gemeinhin Männern zugeschrieben wird. Wir haben in unserer Schule viele Schüler*innen aus Kulturen, in denen eher ein traditionelles Rollenverständnis gepflegt wird. Trotzdem haben wir keine Pro­bleme mit Gewalt. Facetten seiner Persönlichkeit nicht zeigen zu dürfen, sorgt für Frust, und das erzeugt Aggression.

Sind Sie der Meinung, dass Geschlecht keine Rolle in der Entwicklung von Kindern spielt?
Milo: Doch, es spielt eine große Rolle, weil wir in unserem tägli­chen Leben immer an diese tradierte Zweiteilung der Geschlech­ter erinnert werden. Und wir sind so geprägt von dieser Denke, dass wir jeden Menschen, dem wir be­gegnen, dahingehend abchecken.
Devon: Geschlecht ist Teil unserer Identität, aber nur ein kleiner Teil davon. Als Pädagoge oder Pädagogin hat man die Aufgabe, den Schüler*innen zu helfen, ihre eigene Identität zu finden. Unterrichte ich eine Klasse mit vor­ wiegend muslimischen Mädchen, dann lese ich zum Beispiel gerne Ms. Marvel, weil die Protagonistin eine muslimische Superheldin ist. Es gibt nicht „die“ eine Biogra­fie einer jungen muslimischen Frau, sondern jede Muslima muss sich für ihren eigenen Weg entscheiden.
Outen Sie sich vor Ihren Schüler*innen?
Milo: Bei mir passiert das auto­matisch, wenn ich sage, ich will mit „they“ angesprochen werden. Devon: Ich oute mich nicht im­mer. Ich habe in meiner Tutoren­gruppe eine Lehreinheit, bei der wir über Mut sprechen. Das ist ein guter Anlass, zu erzählen, dass ich mutig sein muss, um mich zu outen. Es kommt auf die Gruppe und die Situation an, ob ich das erzähle.
Müssten Sie sich nicht immer outen, um Vorbild zu sein?
Devon: Nein, das müssen wir nicht. Ich möchte Vorbild sein, aber für andere Dinge als meine Geschlechtsidentität. In meinem Klassenraum hängen politische Plakate, die viel über meine Hal­tung aussagen, ich hoffe, dass ich damit Vorbild sein kann.Milo: Vorbild zu sein, kann ja auch nicht allein die Aufgabe von LGBQ­T-Lehrern sein. Ich wünsche mir mehr, dass unsere Schule ein Vorbild für andere wird.

Das Gespräch führte Annick Eimer