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Die Hauptstadt des Protestes

Kaum eine Woche vergeht ohne "Marcha" - die Argentinier protestieren viel, laut und oft kreativ

Zwischen Kochtöpfen und Strassenblockaden: In kaum einer Stadt wird so viel protestiert wie in Buenos Aires. Denn ohne Druck bewegt sich in Argentinien wenig.



Klonk, klonk, klonk. Jeder kennt das dumpfe Scheppern. Meist beginnt es leise und schüchtern, aus dem Halbschatten hinter einer Balkonbrüstung.

Wie ein Lockruf, der andere zum Mitmachen auffordert, damit sie aus ihren Häusern kommen und sich an der Strassenkreuzung versammeln. Sodass aus dem dumpfen Scheppern ein rhythmisches Klappern und Hämmern, Lärmen und Krachen wird: ein Cacerolazo, ein "grosses Topfschlagen". Kein Kinderspiel, sondern wütender Protest, der sagen will: "Es reicht! Die Töpfe sind leer!"

Grosses Topfschlagen

Weltweit bekanntgeworden sind Cacerolazos im Jahr 2001. Damals brach Argentiniens Wirtschaft zusammen, die Regierung erklärte den Bankrott und den Ausnahmezustand, Bankkonten wurden gesperrt und Supermärkte geplündert.

Zehntausende Menschen, vor allem aus der Mittelschicht, zogen mit Kochtöpfen, Pfannen und Schüsseln ins Stadtzentrum von Buenos Aires und riefen "Alle (Politiker) sollen abhauen!".

17 Jahre später strauchelt Argentiniens Wirtschaft erneut und so werden die Kochtöpfe wieder aus den Schränken geholt: gegen die Sparpolitik der Regierung und deren Entschluss, noch einmal den Internationalen Währungsfonds anzupumpen. Denn den machen die Argentinier mitverantwortlich für den schweren Crash 2001.

Protest gehört zum Alltag

Widerstand gehört in Buenos Aires zum Alltag. Er ist laut, massiv und gern auch kreativ. Der Name des themenspezifischen Protestes ergibt sich aus dem Anlass plus der Silbe "-azo", was ausdrücken will, dass der Ärger eine Masse an Menschen vereint.

Beim Pan-azo wird Brot (pan) aus Protest gegen die Preissteigerung verschenkt. Beim Milong-azo wird aus Protest gegen die Schliessung von Tango-Tanzlokalen (Milongas) auf der Strasse getanzt und beim Tet-azo lassen Frauen mitten im Stadtzentrum die Hüllen von ihren Brüsten (tetas) fallen, um gegen Oben-Ohne-Verbote an Stränden zu protestieren.

Berüchtigte Streiks

Weniger kreativ, dafür berüchtigt sind die grossen "Paros" (Streiks), bei denen die Gewerkschaften ihre Macht ausspielen. Dann legen Bus-, Metro- und LKW-Fahrer Stadt und Land lahm. Die Arbeitslosenbewegung und Bewohner von Armenvierteln setzten dagegen auf "Piquetes", Strassenblockaden.

Indem sie mit brennenden Autoreifen wichtige Strassen und Zufahrtswege sperren, machen sie auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Zum grossen Ärger von Pendlern und Produzenten.


Ohne Druck passiert nichts


Doch ohne Druck passiert in Argentinien oft nichts. Deswegen gibt es auch die "Vigilias", die Mahnwachen. Dabei werden etwa wichtige Entscheidungen des Kongresses von der Strasse aus begleitet.

Wie gerade wieder am 13. Juni, als in einer über 22 Stunden andauernden Marathonsitzung über die Legalisierung von Abtreibungen abgestimmt wurde. Hunderttausende Frauen und Männer lagerten die ganze Nacht rund um den Kongress bei etwa fünf Grad Kälte.

Wach hielten sie sich mit Lagerfeuern, Mate-Tee, Trommeln und Sprechchören wie "Aborto Legal, en el Hospital" (Legale Abtreibungen, im Krankenhaus!) oder "Abajo el Patriarcado, se va a caer, se va a caer" (Nieder mit dem Patriarchat, es wird fallen, es wird fallen!). Das Gesetzesprojekt erhielt schliesslich eine knappe Mehrheit - eine Revolution in der konservativen Heimat des Papstes.


Katharsis auf der Strasse


Zahlenmässig mobilisiert die Frauenbewegung in Argentinien mittlerweile genauso viele Menschen für ihre "Marchas" (Demonstrationszüge) wie die Menschenrechtsbewegung - deren Urheber ebenfalls Frauen waren: die Madres de la Plaza de Mayo, die Mütter, die während der argentinischen Militärdiktatur Aufklärung über das Schicksal ihrer verschwundenen Kinder forderten.

Heute ziehen am 24. März, dem Jahrestag des Militärputsches von 1976 rund eine halbe Million Menschen auf den zentralen Plaza de Mayo, den "Platz der Mütter und der 30'000", wie die Demonstranten singen. Sie erinnern so an die schätzungsweise 30'000 Verschwundenen während des brutalen Regimes und rufen "Nunca Mas! Nie wieder!"

Lieber laut als ignoriert

Zu jedem grossen Protest gehören Trommelgruppen und Sprechchöre. Derzeitiger beliebt sind Versionen des alten italienischen Partisanenliedes "Bella Ciao", die dann auf aktuelle Probleme umgedichtet werden. Buenos Aires ist eine Stadt des Protestes und des Widerstandes.

Wer sein Anliegen nicht lautstark kundtut, wird ignoriert - von den Medien, der Regierung, der restlichen Gesellschaft. Der Strassenprotest ist so auch eine Art Katharsis gegen all die Krisen und sozialen Ungerechtigkeiten, die die Menschen in Argentinien immer wieder durchstehen müssen.

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