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Wieso findet Europa keine Antwort auf das Sterben?

Die Nacht ist mondlos und sternenklar, als sich der mit Menschen überfüllte Fischkutter der Küste der italienischen Insel Lampedusa nähert. Nicht einmal mehr ein Kilometer, man sieht schon die Lichter im Hafen. »Wir waren glücklich«, wird ein Passagier später sagen. »Wir dachten, wir ­seien angekommen«, ein anderer. 

Dann fällt der Motor aus. Stille. Das Schiff ist jetzt manövrierunfähig, aus eigener Kraft kann es die Insel nicht mehr erreichen.


Ein Fischerboot nähert sich. Es fährt um den Kutter herum und dann weiter nach Lampedusa, um den frischen Fang abzuladen. Sie hätten die Schreie nicht gehört, die Notlage nicht wahrgenommen, werden die Besatzungsmitglieder später behaupten. 

Ein zweites Boot kommt heran. Und dreht ebenfalls ab. 

Inzwischen sind etwa zwei Stunden vergangen. Der Kapitän des Kutters, ein tunesischer Schlepper, tränkt ein großes Tuch mit Benzin und setzt es in Brand. Er habe das Schiff sichtbar machen wollen, wird er später den Ermittlern sagen. Doch die Flammen springen über auf das Vorderdeck, auf dem Treibstoff ausgelaufen ist. Und so nimmt an jenem 3. Oktober 2013 eines der schwersten Schiffsunglücke auf dem Mittelmeer seit dem Zweiten Weltkrieg seinen Lauf, rekonstruierbar durch Ermittlungsakten, Gerichtsgutachten und Zeugenaussagen.


Auf dem 18 Meter langen Kutter sitzen und stehen dicht gedrängt mindestens 520 Menschen. Viele im Bauch des Schiffes, andere oben an Deck, so wie Fanus Okbay, eine junge Frau aus Eritrea, damals 17 Jahre alt. Sie schläft, als der Motor ausfällt. Schläft, als das Feuer ausbricht. Erwacht, als Panik die Menge an Bord erfasst. Und stürzt ins Meer, als sich die Menschen verzweifelt nach hinten drängen, weg von den Flammen. 

Es ist kurz nach sieben Uhr morgens, als auf Lampedusa die Küstenwache Alarm schlägt. Pietro Bartolo macht sich sofort auf den Weg zum Hafen. Bartolo ist der Arzt von Lampedusa, eigentlich ist er zuständig für die rund 6000 Bewohner der Insel. Inzwischen aber kümmert er sich vor allem um die Menschen, die hier seit Wochen fast jeden Tag aus Nordafrika ankommen. Jetzt steht er in der Morgendämmerung am Kai, er erwartet das Schlimmste.


7300 Kilometer weiter westlich, in New York City, ist es noch stockdunkel, als Cecilia Malmströms Handy klingelt. In ihrem Hotelzimmer schreckt die schwedische Politikerin aus dem Schlaf hoch. Der Anrufer ist der italienische Innenminister, er ist aufgeregt, schreit fast ins Telefon, erzählt Malmström heute. Als EU-Kommissarin für Inneres ist sie damals für die europäische Migrationspolitik verantwortlich. Der Minister sagt, vor Lampedusa sei ein Boot gesunken, viele Tote, alles Flüchtlinge. »Es ist schlimm!«

Der Politikwissenschaftler Gerald Knaus erfährt von dem Schiffsunglück aus den Nachrichten, auf dem Weg nach Schweden. Er lebt damals in Paris und berät Regierungen in Fragen der internationalen Politik. Noch lässt sich bloß erahnen, dass Migration bald eines seiner wichtigsten Themen sein wird.


Ousman Sanneh arbeitet zum Zeitpunkt des Unglücks als Maler im westafrikanischen Gambia. Ein junger Mann, der die Schule abgebrochen hat, um nach dem Tod seines Vaters für seine Familie zu sorgen. Noch deutet nichts darauf hin, dass er eines Tages jenseits der Sahara in Tunesien leben und sein Geld damit verdienen wird, Menschen über das Meer nach Europa zu bringen.


Am 9. Oktober 2013, sechs Tage nach dem Unglück, trifft eine politische Delegation auf dem kleinen Flughafen von Lampedusa ein. Cecilia Malmström gehört zu der Gruppe, auch der italienische Innenminister und dessen Regierungschef Enrico Letta sowie José Manuel Barroso, der Präsident der EU-Kommission. Ein paar Inselbewohner und Aktivisten vom Festland warten schon auf sie. Sie recken Fotos von Ertrunkenen in die Höhe, ­schreien »Schande!« und »Mörder!«.


Die Gruppe betritt einen Hangar auf dem Flughafengelände. Darin stehen drei lange Reihen brauner Holzsärge und einige kleine weiße Särge, auf denen Teddybären sitzen. Es sind die Särge ertrunkener Kinder. Fernsehkameras filmen Barroso, wie er zu Boden blickt und lange aus­atmet. Noch sind nicht alle Toten geborgen, am Ende werden es 366 sein. 

Danach: Pressekonferenz. Barroso sagt, er werde den Anblick der Särge niemals vergessen. Und er könne versprechen, man werde alles unternehmen, um die Situation im Mittelmeer zu ändern. »Diese Art von Tragödie, die wir hier so nah vor der Küste erlebt haben«, sagt Barroso, »darf sich niemals wiederholen.«


Heute, genau zehn Jahre später, muss man feststellen: Sie hat sich wiederholt. So oft, dass diese Art von Tragödie zu einer Art europäischem Alltag geworden ist. Noch immer ertrinken jedes Jahr Tausende Asylsuchende im Mittelmeer. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2023 waren es 2517 Menschen, der höchste Wert seit 2017. Trotz aller ­Ideen und Konzepte, trotz aller Gipfeltreffen und Reformvorschläge, trotz aller Absichtserklärungen und Arbeitsgruppen – und trotz all der Ressourcen, die seither in die Überwachung der Migration flossen.


Warum findet Europa keine Antwort auf das Sterben?


Fanus Okbay sagt, sie könne sich an die Stunden nach dem Kentern nicht erinnern. Retter hätten ihr erzählt, sie habe sich an eine Leiche geklammert, habe es nicht einmal geschafft, den Rettungsring zu greifen, den ihr die Männer der italienischen Küstenwache zuwarfen. Einer sei ins Wasser gesprungen, um sie rauszuziehen. Okbay erwacht in der Notaufnahme auf Lampedusa, so zeigen es Filmaufnahmen. Neben ihr werden Körper, eingewickelt in Goldfolie, durch die Gänge geschoben. Fanus Okbay ist eine von 155 Überlebenden.

Das Dorf Arbrå liegt gut drei Stunden Autofahrt nördlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm, nicht weit vom Meer. In der Ortsmitte gibt es eine Pizzeria und einen Supermarkt. Es ist der Sommer 2023. Fanus Okbay ist mit ihren Kindern im Wald unterwegs. Der sechsjährige Sohn sammelt Blaubeeren in einem Plastikeimer. Die vierjährige Tochter läuft hinunter zum Fluss. Fanus Okbay sagt, sie liebe Schweden im Sommer. Die Winter hingegen ­seien dunkel und kalt und schwer auszuhalten.


Nach dem Schiffsunglück kam Okbay zuerst in eine Erstaufnahmeeinrichtung auf Lampedusa und später auf das italienische Festland. Von dort reiste sie weiter nach Schweden, weil sie gehört hatte, dass dort viele Eritreer leben. Einer von ihnen ist heute ihr Lebensgefährte. Gemeinsam mit den Kindern wohnen sie in einer Zweizimmerwohnung in Arbrå. An der Wohnzimmerwand hängen Fotos aus Fanus Okbays neuem Leben. Ihre Kinder als Babys. Sie selbst lachend in einem weißen Kleid.


Daneben: eine Collage aus ein paar Dutzend Gesichtern, manche Bilder sind aus einem Pass kopiert, andere sind Schnappschüsse, lachende Männer und ­Frauen. Sie alle sind bei dem Schiffbruch ums Leben gekommen. Mehr als 200 Verstorbene sind bis heute nicht identifiziert. Das Mittelmeer ist auch ein Grab der Namenlosen.


Ein anderes Bild an der Wand zeigt eine Gruppe junger Leute, in ihrer Mitte Papst Franziskus. Es sind Überlebende, fotografiert am 1. Oktober 2014 im Vatikan, auf dem Weg nach Lampedusa. Damals reiste auch Fanus Okbay für den ersten Jahrestag des Unglücks auf die Insel, um zu trauern, eine Hilfsorganisation bezahlte den Flug. Papst Franziskus schenkte jedem einen Rosenkranz aus weißem Plastik. Okbay bewahrt ihn in einer Tüte auf, zusammen mit einer Bibel auf Tigrinya, ihrer Muttersprache.


Auch in diesen Tagen im Jahr 2023, zum zehnten Jahrestag, ist sie wieder auf Lampedusa. Die Überlebenden versammeln sich an der Küste, beten und zünden Kerzen an. Sie fahren raus aufs Meer, dorthin, wo das Schiff sank, und ­streuen Blumen ins Wasser. Sie denken zurück an jenen Tag, der eine Zäsur markierte. In ihrem Leben, aber auch in der europäischen Wahrnehmung von Flucht und Migration.


Schon vorher waren Menschen ertrunken: 61 ­Frauen und Kinder bei einem Schiffbruch zwischen der Türkei und Griechenland im Jahr 2012, genauso viele ein Jahr zuvor in libyschen Gewässern. Doch der Aufschrei blieb aus. Dann kam Lampedusa. 366 Tote, direkt vor der Küste. Ein Schock.


Damals, Anfang Oktober 2013, ist Cecilia Malmström für eine Konferenz der Vereinten Nationen in New York. Es soll um Migration gehen, ausgerechnet. Am Vormittag des 3. Oktober tritt im holzvertäfelten Saal UN-Generalsekretär Ban Ki Moon an das Marmorpult. »Wir müssen nur auf die Schlagzeilen von heute Morgen blicken, um die Bedeutung unseres Treffens zu verstehen«, sagt er. »Ich spreche mein tiefempfundenes Beileid aus.«

Nach der Rede von Ban Ki Moon geben zahlreiche Vertreter verschiedener Länder kurze Sätze des Beileids an die Presse. Niemand kann das Thema mehr ignorieren. Malmström sagt, in diesem Moment sei etwas Großes losgetreten worden.

Sechs Tage später: Malmströms Lampedusa-Besuch, gemeinsam mit dem Regierungschef und dem Innenminister Italiens sowie dem EU-Kommissionspräsidenten. Die Särge. »Es war einer der schlimmsten Tage meines Lebens«, sagt Malmström. Bis heute, sagt sie, ließen sie die Bilder nicht los.


Nur zwei Tage danach, am 11. Oktober, sinkt erneut ein Boot vor Lampedusa. 268 Menschen sterben. Malmström sagt, sie habe damals täglich mit dem italienischen Innenminister telefoniert und kaum geschlafen.


Cecilia Malmström, heute 55 Jahre alt, hat Politologie studiert. Sie war lange Jahre Präsidiumsmitglied der schwedischen »Liberalen«, einer bür­ger­lichen Partei der Mitte. Nach dem Unglück von Lampedusa entwickelt Malmström ein Konzept, das aus drei Bausteinen besteht. Der erste: Überwachung. Die Grenzschutzagentur Frontex soll Bilder von Satelliten, Drohnen und Hubschraubern sammeln. Noch ist die Route zwischen Nordafrika und Italien ein blinder Fleck. Malmströms Kalkül: Wenn man es schafft, das Meer zu überwachen, kann man Schiffe in Seenot orten und das Ertrinken verhindern. Die Seenotrettung ist der zweite Baustein.


Der dritte besteht darin, Menschen die Möglichkeit zu geben, auf sicherem Weg das Meer zu überqueren. Sie sollen schon in Afrika darlegen können, warum sie schutzbedürftig sind – und dann, bei positivem Bescheid, per Schiff oder Flugzeug nach Europa gelangen. Sie sollen auf diese ­Chance hoffen, statt sich in die Hand von Schleppern zu begeben. Der Begriff dafür: Resettlement, Umsiedlung. Aber das funktioniert nur, wenn die einzelnen europäischen Länder bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen.


16. Oktober 2013: Malmström stellt der EU-Kommission ihr Konzept vor. Sie sagt, sie habe viel Zuspruch erhalten. Auch die Bundesregierung heißt ihre Arbeit gut, so erzählt es Gün­ther Oettinger. Der CDU-Politiker sitzt damals mit Malmström in der Kommission, zuständig für Energie, und berichtet regelmäßig nach Berlin. Am Telefon spricht er noch heute voller Respekt über Malmströms Arbeit.


18. Oktober 2013: Italien ruft den humanitären Notstand aus und schickt einen Teil seiner Militärflotte nach Sizilien. Die Operation heißt Mare Nostrum – Unser Meer. Von nun an sollen Hunderte Einsatzkräfte auf Marineschiffen verhindern, dass Menschen ertrinken. Flugzeuge können aus der Luft können Boote in Seenot erkennen. Italien will nicht auf die EU warten und nimmt damit den zweiten Baustein von Malmströms Konzept vorweg: Wer auf dem Mittelmeer in Not gerät, muss gerettet werden. Menschenrechtsorganisationen begrüßen, konservative Politiker kritisieren den Schritt. Ein Riss zeichnet sich ab. 

19. November 2013: ein Treffen der EU-Innenminister. Die britische Vertreterin wirft den Italienern vor, sie würden die Afrikaner mit Mare Nostrum nach Europa einladen, erzählt Malmström heute und fügt hinzu: Nach dieser Aussage habe sie den Raum verlassen. 

In ihrem Notizbuch hat Malmström eine Begegnung bei einem EU-Gipfel vermerkt, mit einem Vertreter der litauischen Regierung, den Namen des Politikers will sie nicht nennen. Er habe sie angesprochen und gesagt: »Wir nehmen keine Flüchtlinge auf. Das können Sie vergessen.«


Sie habe gefragt: »Können Sie wenigstens einige Hundert nehmen, um ein Zeichen zu setzen?«

Der Mann habe nur mit dem Kopf geschüttelt.


Malmström sagt, den letzten Notizbucheintrag für 2013 habe sie am 19. Dezember verfasst, nach einem Innenministertreffen. Er lautet: »Die Minister haben die Särge vergessen und konzentrieren sich nur noch darauf, illegale Migration zu stoppen.«

Fünf Monate später präsentiert die EU-Kommission ein Arbeitspapier. Darin stehen viele konkrete Vorschläge: Stärkung der Grenzschutzagentur Frontex, härteres Vorgehen gegen Schlepper. Umsiedlungen werden nur am Rande erwähnt, eine gemeinsame europäische Seenotrettung praktisch gar nicht mehr. 

»Wir hätten die Katastrophe vor zehn Jahren nutzen können, um eine wirklich umfassende, solidarische Antwort auf das Sterben im Mittelmeer zu finden«, sagt Malmström. »Doch Lampedusa wurde zum Symbol eines politischen Versagens.«

Man kann dieses Versagen in Zahlen messen. Seit 2014 sind laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) etwa 28.000 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Oder man kann Lampedusa besuchen, wo in diesem Spätsommer 2023 an manchen Tagen mehr Menschen ankommen, als die Insel Einwohner hat, 120 Boote in 24 Stunden ist der jüngste Rekord. Ende August ankert am Hafen ein Schiff der Küstenwache mit 98 Geretteten an Bord. Normalerweise werden sie auf dem Kai innerhalb einesMilitärgeländes abgesetzt, abgeschirmt durch eine bunt bemalte Mauer. Weil dort kein Platz mehr ist, liegt das Rettungsschiff CP285 nun direkt neben dem Touristenschiff Adriana. Rechts am Kai warten Feriengäste in Badekleidung darauf, an Bord zu gehen, für eine Tour um die Insel. Links ­kauern 98 Männer, ­Frauen und Kinder und warten darauf, an Land zu gehen, nach Europa. Sie kamen mit einem Schlauchboot aus Tunesien. 

Ein Kind im Schoß seiner Mutter wirkt wie weggetreten. Eine Schwangere kippt sich eine Flasche Wasser über den Kopf. Der Organisator der Bootstour brüllt die Küstenwache an: »Warum tragen diese Menschen keine Atemschutzmasken?« Er sagt, die Touristen hätten sich beschwert, sie fürchteten sich. 

Tags darauf sitzt Pietro Bartolo, der Inselarzt, heute 67 Jahre alt, auf einer Bank am Kai und sagt, hier ­seien sie damals, vor zehn Jahren, angekommen, die Überlebenden und die Leichen. Er erinnert sich noch an die erste Retterin, die mit ihrem Boot anlegt, eine junge Frau. Sie war mit Freunden auf dem Meer, 49 Personen nahmen sie an Bord. Die Frau weint, weil sie nicht mehr Menschen retten konnte. 

Das zweite Boot liefert 17 Personen ab. An Bord ist ein Freund Bartolos. Er sagt, die Menschen im Wasser ­seien zu glitschig gewesen vom Benzin, sie ­seien ihm aus den Händen geglitten. Es ist das erste Boot, das auch vier Leichen an den Kai bringt. Rettungshelfer packen ihre Körper in blaue Plastiksäcke, zum Abholen bereit, als Bartolo sagt, er wolle sich die Toten noch einmal ansehen. In den ersten drei Säcken liegen Männer, die Arme angewinkelt wie bei einem Klimmzug. Leichenstarre. 

Bartolo öffnet den vierten Sack. Eine Jugendliche, noch nicht starr. Vermutlich erst vor Kurzem gestorben. Oder? Bartolo greift ihren Arm. Ist da nicht noch ein schwacher Puls? Eigentlich unmöglich, wahrscheinlich Einbildung. Bartolo wartet, länger als eine Minute. Dann, tatsächlich: ein Herzschlag. Im Krankenhaus pumpen sie das Wasser aus der Lunge, und Bartolo kann zusehen, wie das Leben in den Körper des Mädchens zurückkehrt. Jahre später wird ihm eine junge Frau, Anfang 20, am jährlichen Gedenktag im Eingangsbereich des Flughafens entgegenlaufen und ihn, ihren Retter, um­armen.

Heute sagt Bartolo: »Ich weiß nicht, warum ich beschlossen habe, länger als eine Minute zu warten. Ich weiß es nicht, aber es ist passiert.« 

Pietro Bartolo wurde weniger dazu ausgebildet, Kinder zu retten, als sie auf die Welt zu bringen. Er ist Gynäkologe, wuchs auf Lampedusa auf. Er weiß, wie es sich anfühlt, fast zu ertrinken, seit er als Junge vom Fischerboot seines Vaters fiel. In all den Jahren am Kai hat er gelernt, alles gleichzeitig zu machen: die Lungen der Flüchtlinge abzuhorchen, Leichensäcke zu öffnen, mit Überlebenden in Kontakt zu bleiben, einen von ihnen hat er adoptiert. 

Bartolo sieht als Erster, wie es den Ankommenden geht, und er merkt auch, wenn sich etwas ändert. Nach Beginn der Operation Mare Nostrum stellt er bei vielen Menschen schwere Verletzungen fest: In der Vermutung, dass sie ohnehin gerettet würden, setzen viele Schlepper die Leute in billige Schlauchboote. Im Inneren mischt sich das Benzin aus lecken Kanistern mit Meerwasser und verätzt die Haut. Trotzdem wird Bartolo noch Jahre später für staatliche Seenotrettung kämpfen.

Im Jahr 2014 steigt die Zahl der Überfahrten weiter. Bis Ende August kommen in Italien 112.000 Menschen an, fünfmal mehr als im gesamten Vorjahr. Bis zum 3. Oktober, dem Jahrestag jener Katastrophe, die sich niemals wiederholen sollte, zählt die IOM für 2014 mehr als 3000 Ertrunkene und Vermisste. 

7. Oktober 2014: Mare Nostrum läuft in drei Wochen aus. Italien hat die monatlich 9,3 Millionen Euro für die Mission bisher fast allein gezahlt und fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Andere Mitgliedsstaaten haben eine finanzielle Unterstützung abgelehnt. Cecilia Malmström sagt in einem öffentlichen State­ment, die Italiener hätten einen »formidablen Job« gemacht. 

Kritiker dagegen fühlen sich von den hohen Zahlen bestätigt, auch das Bundesinnenministerium in Berlin. Helmut Teichmann leitet dort damals die Abteilung für »Angelegenheiten der Bundespolizei«. Er sagt, man habe Mare Nostrum von Anfang an skeptisch gesehen. Man fürchtete, die Rettungsschiffe könnten als sogenannter Pull-Faktor wirken: als Anreiz, die Überfahrt erst recht zu wagen. Teichmann erinnert sich an Besuche bei der italienischen Regierung in Rom, bei denen er für das Ende der Mission warb.

9. Oktober 2014: Die EU-Innenminister treffen sich in Luxemburg. Der Deutsche Thomas de Mai­zière beklagt: »Mare Nostrum war als Nothilfe gedacht und hat sich als Brücke nach Europa erwiesen.« 

1. November 2014: Die Operation Triton der Grenzschutzagentur Frontex beginnt. Flugzeuge, Hubschrauber und Schiffe patrouillieren nur noch in der 30-Seemeilen-Zone vor der Küste Italiens. In internationalen Gewässern gibt es keine staatliche Rettungsmission mehr. All jene, die in der Seenotrettung einen Pull-Faktor sehen, gehen davon aus, dass die Flüchtlingszahlen nun wieder sinken – was sich jedoch bald als Trugschluss erweisen wird.

Mare Nostrum ist Vergangenheit. Aber wie geht es weiter? »Man hat sich immer darauf zurückgezogen: Na ja, wir arbeiten an einer gemeinsamen europäischen Idee«, erinnert sich Helmut Teichmann. »Aber das war mehr dahingeredet, als dass man konkret irgendetwas vor Augen hatte.« 

Die gemeinsame europäische Lösung. Bis heute ist das die meistzitierte Utopie der Migrationsdebatte – und eine der beliebtesten Ausreden für politische Untätigkeit. Vielleicht, weil es für Regierungen bequem ist, nach einer europäischen Lösung zu rufen und gleichzeitig möglichst wenige Flüchtlinge aufzunehmen. 

Genf, September 2023. Am Hauptsitz der Welthandelsorganisation (WTO) scheint die Spätsommersonne durch das Glasdach. Kurz vor 15 Uhr schickt Cecilia Malmström eine E-Mail: »Ich stehe im Atrium. Ich trage ein langes pinkes Kleid. Wo treffen wir uns?« 

Malmströms politische Karriere ist vorbei. Sie arbeitet jetzt für eine amerikanische Denkfabrik zu Fragen der Weltwirtschaft. Bei der WTO in Genf wird sie über Handel, Klima und Nachhaltigkeit sprechen. Sie schlägt vor, sich auf die Terrasse zu setzen, direkt am Ufer des Genfer Sees. Sie sagt, sie sei oft hier gewesen, auch als Innenkommissarin, bis sie das Amt vor neun Jahren abgab und Handelskommissarin wurde. 

Warum ist seither so wenig passiert? 

Weil Migration eines der komplexesten Politikfelder sei, antwortet Malmström. Weil es unfassbar schwer sei, zu sagen, was man tun solle. Mehr Menschen vor dem Tod retten, natürlich, der Meinung sei sie bis heute. »Aber was dann?« In den Booten kämen ja einerseits Verfolgte im klassischen Sinne des Asylrechts. Aber andererseits auch Menschen, die nicht vor Krieg und Unterdrückung fliehen, sondern vor Armut und Hunger und damit nicht unter die Asylparagrafen fallen. »Selbst mit dem größten Herzen der Welt könnten wir nicht alle von ihnen in Europa empfangen«, sagt Malmström. 

Kürzlich hat die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der sehr vertraut klingt. Da ist die Rede von einer »Intensivierung der Grenzüberwachung auf See und aus der Luft«, von der »Bekämpfung des Menschenschmuggels« – aber auch von einer »Entwicklung von Alternativangeboten wie der Aufnahme aus humanitären Gründen und legalen Einreisewegen«. Das stand alles, noch viel ausführlicher, schon in dem Arbeitspapier, das Malmström vor zehn Jahren vorlegte. Zehn verlorene Jahre.

12. April 2015: Ein Schiff kentert auf dem Weg von Libyen nach Italien. Geschätzt 400 Menschen ertrinken. 

18. April 2015: Ein Fischkutter, aus der Nähe der libyschen Hafenstadt Tripolis kommend, setzt einen Notruf an die italienische Küstenwache ab. Die bittet einen portugiesischen Frachter, den Migranten zu helfen. Es ist Nacht, stockfinster, so wird es der Kapitän später schildern. Die Schiffe kollidieren, der Kutter mit mehr als 800 Menschen an Bord sinkt, nur 28 überleben. Wieder ist Europa geschockt. 

23. April 2015: Der neue EU-Kommissionspräsident Jean-­Claude Juncker hält eine Rede vor dem Europaparlament in Straßburg. Er sagt: »Die Mission Mare Nostrum einzustellen war ein schwerer Fehler. Er hat Menschenleben gekostet.« Juncker fordert, den Rettungsbereich der Operation Triton zu erweitern. Die Mitgliedsstaaten, die das zuvor blockiert haben, willigen ein, auch Deutschland. Marineflotten rücken aus, mit ähnlicher Kapazität wie bei Mare Nostrum. Nur diesmal im Auftrag der EU. Wäre die europäische Migrationspolitik ein Schiff, dann folgte es einem Zickzack-Kurs.

Im Sommer 2015 sind es die Namen zweier Kinder, die die Debatte prägen. Da ist Sophia. Geboren am 24. August 2015 als Tochter einer Somalierin auf dem Mittelmeer, an Bord der Fregatte Schleswig-Holstein. Benannt nach dem Funkrufzeichen des Schiffes, »Sophie X«. Die Mission Eunavor MED, die das Kind rettete, heißt schon bald: Eunavor MED Operation Sophia.

Und da ist Alan Kurdi. Gestorben am 2. September 2015, angespült an einen Strand im türkischen Bodrum. Das Foto geht um die Welt. Es wird zum Symbol für jenen Sommer, in dem Hunderttausende mit Schlauchbooten auf griechische Inseln übersetzen, eine weitere tödliche Fluchtroute. 

In ihrer Wohnung in Schweden greift Fanus Okbay zu ihrem Handy, öffnet Whats­App, drückt auf das Profilfoto eines jungen Mannes. Kurz klingelt es, dann sieht man sein Gesicht.

»Hallo, Zegab.«

»Hallo, Fanus, wie geht es dir?«

»Gut, danke, und dir? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.«

Zegab war mit Okbay auf dem Kutter, auch er stammt aus Eritrea. Er war damals 13, heute lebt er in Eutin, in Schleswig-Holstein, und verpackt Schuhe für einen Online-Versandhandel. Er sagt, er spreche nicht gerne über den 3. Oktober 2013, zu schmerzvoll. So hört man es auch von anderen Überlebenden. 

Fanus Okbay war 13 Jahre alt, als ihre beste Freundin das Dorf in Eritrea verließ, in dem sie beide damals lebten. Okbay sagt, die Polizei habe sie deshalb unter Druck gesetzt: »Ich durfte das Dorf nicht mehr verlassen.« Eritrea gilt als eine der brutalsten Diktaturen der Welt, als Willkürregime, das seine Bürger zur Zwangsarbeit einzieht. Ein UN-Sonderbericht beschreibt Versklavung und systematische Überwachung. Mindestens jeder fünfte Eritreer lebt inzwischen im Ausland, insgesamt mehr als eine Million Menschen. 

Drei Jahre nach dem Weggang ihrer Freundin brach Fanus Okbay selbst auf. Eine spontane Entscheidung, sagt sie. Im Dorf wurde eine Hochzeit gefeiert, die Leute waren abgelenkt, also spazierte sie einfach die Straße entlang in Richtung Grenze. Ohne Gepäck, ohne Rucksack. Nur nicht wie ein Flüchtling aussehen. Ein Schmuggler habe sie im Dunkeln über die Berge nach Äthiopien gebracht. Über den Sudan erreichte sie Libyen, wo sie gefoltert und vergewaltigt wurde, ein Gericht auf Sizilien verurteilte später ihren Peiniger, der selbst als Flüchtling über das Meer gekommen war. In Schweden erhielt Okbay bereits nach zwei Monaten politisches Asyl.

Gemessen an seiner Einwohnerzahl beheimatet Schweden mehr Eritreer als jedes andere europäische Land. Anders als Fanus Okbay mussten viele von ihnen nicht den gefährlichen Weg übers Mittelmeer nehmen. Sie kamen mit dem Flugzeug – über Umsiedlungsprogramme der Vereinten Nationen für besonders schutzbedürftige Menschen. Die Aufnahmestaaten bieten freiwillig Kontingente an. Schweden war, neben Kanada und den USA, lange Vorreiter, holte neben Eritreern, die nach Äthiopien geflüchtet waren, auch somalische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Somalia und verfolgte Kurden aus dem Irak ins Land. Inzwischen aber hält sich auch Schweden zurück. Die Regierung in Stockholm, gestützt von den rechtspopulistischen Schwedendemokraten, will die Zuwanderung möglichst stark reduzieren.

Umsiedlungsprogramme waren einst der dritte Baustein von Cecilia Malmströms Migrationskonzept. Das, was die Vereinten Nationen im Kleinen praktizierten, wollte sie im größeren Stil in ganz Europa durchsetzen: Menschen sollen nicht erst ihr Leben riskieren müssen, um Asyl beantragen zu können. Anfangs schien das nicht unrealistisch. Mit dem Aufstieg der Rechtspopulisten jedoch hat sich die Stimmung in Europa gedreht. Erst waren da Viktor Orbán in Ungarn und die PiS in Polen, dann die Lega Nord in Italien und die FPÖ in Österreich. Inzwischen regieren Rechtspopulisten auch in Finnland, die dänischen Sozialdemokraten setzen ebenfalls auf Abschreckung, und in den Niederlanden zerbrach die Regierungskoalition am Streit um eine strengere Migrationspolitik. In Italien regiert die Postfaschistin Giorgia Meloni, in Griechenland spielen offensichtliche Menschenrechtsverletzungen an der EU-Außengrenze, verantwortet durch die konservative Regierung, politisch kaum noch eine Rolle. 

Und in Deutschland? »Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration er­mög­lichen«, so haben es die Ampel-Parteien in ihren Koalitionsvertrag geschrieben. Das war vor zwei Jahren. Gelungen ist es bisher nicht. 

In der Praxis ist ein Pakt, geschlossen am 18. März 2016 in Brüssel, die einzige politische Maßnahme, die dem Umsiedlungsprinzip zumindest nahekommt, auch wenn er nie so funktionierte wie gedacht: die EU-Türkei-Erklärung.

Sie besagt: Die EU nimmt der Türkei per Umsiedlung syrische Flüchtlinge ab. Sie zahlt der Regierung in Ankara außerdem eine Mil­liar­den­sum­me für die Versorgung der Syrer. Im Gegenzug kann sie jeden Syrer, der auf anderem Weg nach Griechenland gelangt, zurück in die Türkei abschieben. 

Sieben Jahre danach sitzt der Mann, der als Architekt dieses Abkommens gilt, in einer Strandbar am Atlantik. Santander in Nordspanien. Hohe Wellen, weiße Strände, grasbewachsene Felsen. Es ist schon dunkel, Gerald Knaus wird am nächsten Vormittag mit der senegalesischen Außenministerin auf einem Podium sitzen. »Quo Vadis, Europa?« heißt die Konferenz. 

Auf der Bühne will er der Ministerin einen Vorschlag machen, der die Idee des Türkei-Abkommens auf eine andere Fluchtroute überträgt: Der Senegal soll seine Staatsbürger zurücknehmen, die über den Atlantik auf die Kanarischen Inseln kommen. Dafür könnte das Land Stipendienprogramme für junge Senegalesen, ein Kontingent für Arbeitsmigranten und einfacheren Zugang zu Schengen-Visa erhalten.

Knaus leitet die Europäische Stabilitätsinitiative, einen gemeinnützigen Verein, finanziert von politischen Stiftungen und europäischen Regierungen. Er ist 53 und stammt aus Österreich, den Verein gründete er 1999 mit Freunden im bosnischen Sarajevo, unter dem Eindruck der Balkankriege. Ihre Arbeit besteht darin, geopolitische Konzepte zu entwickeln und bekannt zu machen. Ministerien zu besuchen, Politiker zu beraten. Wenn es gut für ihn läuft, greift eine Regierung die ­Ideen auf. 

Knaus wird auf dem Podium 15 Minuten Zeit haben, seinen Vorschlag zu präsentieren. »Es ist einen Versuch wert«, sagt er.

Warum ausgerechnet der Senegal? Warum ein Land, das für die tödlichste Fluchtroute, das zentrale Mittelmeer, kaum eine Rolle spielt? 

Knaus sagt, es gehe darum, dass die Politik beweise: Es gibt eine Möglichkeit, die Migration auf eine humane Art zu kontrollieren. Wenn das funktioniere, könne man nach ähnlichem Prinzip eines Tages vielleicht auch verhindern, dass Menschen den Weg über das zentrale Mittelmeer auf sich nehmen. Und jene, die tatsächlich ein Anrecht auf Asyl haben, per Umsiedlung nach Europa holen. 

Es ist eine Hoffnung, die beim EU-Türkei-Pakt nicht aufging: Nur 38.000 Syrer gelangten durch Umsiedlung nach Europa. Kritiker bemängelten, die EU lagere ihre Verantwortung an ein autokratisches Re­gime aus. Seit der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan im März 2020 die Grenzen nach Bulgarien und Griechenland öffnete und zugleich Zugeständnisse im Syrien-Krieg einforderte, gilt der Pakt als gescheitert. 

Wer hingegen auf die stark gesunkene Zahl der Ankünfte blickt, kann ihn als Erfolg verbuchen, weil tatsächlich weniger Flüchtlinge das Meer überquerten. Hinzu kommt: In den zwölf Monaten vor dem Abkommen starben 1185 Menschen in der ­Ägäis – nur 85 waren es in den zwölf Monaten danach.

Und im zentralen Mittelmeer? Dort werden 2016, im Jahr drei nach der Katastrophe vom 3. Oktober, so viele Menschen gerettet wie nie zuvor. Es sterben aber auch so viele wie nie zuvor, nämlich 4581. 

Die Konzepte für Migrationsabkommen lassen sich grob in zwei Kategorien aufteilen. Bei der ersten, bislang sehr selten verwirklichten Kategorie geht es darum, legale Migration zu ermöglichen und jene abzuschieben, die nicht über die vorgesehenen Routen einreisen, so wie bei der EU-Türkei-Erklärung. Bei der zweiten Kategorie geht es schlicht darum, Migration zu reduzieren. Sprich: Staaten dafür zu bezahlen, dass sie Menschen aufhalten. 

In diesem Sinne trafen sich die Außen- und Innenminister der EU im November 2014 mit Vertretern afrikanischer Länder in Rom. Gemeinsam verkündeten sie den Start des Khartum-Prozesses, benannt nach der Hauptstadt des Sudan. Gegen dessen damaligen Präsidenten Omar al-Baschir liegt ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs vor. Der Vorwurf: Völkermord. Die EU-Staaten hindert das nicht daran, mit Al-Baschir zu verhandeln. Sie wollen jetzt mit den Herkunfts- und Transitländern entlang der Routen von Afrika nach Europa zusammenarbeiten. 

Im Jahr 2015 reist Helmut Teichmann zweimal nach Kairo, wo sich ein Militärregime an die Macht geputscht hat. Der deutsche Beamte hat einen Vorschlag dabei: ein Rückführungsabkommen. Ägypten könnte Migranten aufnehmen, die über das Mittelmeer nach Italien kommen. Auch eine Region hat Teichmann schon im Blick: Zwischen dem dicht besiedelten Nil-Delta und der Grenze zu Libyen liegen Hunderte Kilometer fast unbebautes Land. Vielleicht ließen sich dort Auffanglanger errichten, in denen die Menschen ihr Asylverfahren durchlaufen. Um danach, sofern sie schutzbedürftig sind, in Europa verteilt zu werden. Die Idee ähnelt dem bald darauf beschlossenen Pakt mit der Türkei. 

Teichmann sagt, was er leider nicht dabeigehabt habe, sei ein Angebot. Ein paar Tausend Ausbildungsvisa für junge Ägypter. Oder ein paar Millionen Euro für die Armee. Irgendeine konkrete Summe. »Ich bin dann brachial gescheitert.« 

Cecilia Malmström sagt, sie habe dieses Konzept immer für unrealistisch gehalten. Was würde aus den Menschen in diesen Lagern werden, wenn kein europäischer Staat sie aufnimmt? Stecken sie dann in Ländern fest, in denen Menschenrechte noch weit weniger gelten als in überfüllten Lagern auf griechischen Inseln? 

Ende 2016 ein weiterer Versuch. Die gleiche Idee: Asylverfahren in Auf­fang­lagern, diesmal in Tunesien. Teichmann wirbt in Italien und bei der EU-Kommission für den Plan, wieder wird nichts daraus. Obwohl das Land, mit dem die EU sieben Jahre später doch noch einen Migrationspakt schließen wird, damals als Hoffnungsträger gilt, als einzige Demokratie, die vom Arabischen Frühling übrig blieb.

Denn es läuft so, wie es in Europa oft läuft, wenn es um Migration geht: Nationalstaaten suchen sich ihre eigenen Lösungen. Und Italien möchte statt mit Tunesien lieber mit Libyen kooperieren. 

Keine zwei Monate später, im Februar 2017, steht eine gemeinsame Absichtserklärung: Die libysche Küstenwache soll Migranten aufhalten und dafür mit mehreren Dutzend Millionen Euro unterstützt werden. Umsiedlungen sind, anders als beim deutschen Tunesien-Konzept, nicht vorgesehen. Dass Asylsuchende in Libyen in Lagern eingesperrt und gefoltert werden, dass sich in dem Bürgerkriegsland oft kaum unterscheiden lässt zwischen Milizen, Menschenschmugglern und Küstenwache, dass man die Boote mit Waffengewalt zum Umdrehen zwingt, wird in den nächsten Jahren immer wieder berichtet werden. Dennoch ist die italienische Regierung damals bereit, mit libyscher Unterstützung dafür zu sorgen, dass weniger Menschen es über das Mittelmeer schaffen. Und tatsächlich: Als das Abkommen in Kraft tritt, bricht die Zahl der Ankünfte in Italien ein.

1. Juni 2018: In Italien bildet sich eine neue Regierung. Die populistische Fünf-Sterne-Bewegung koaliert mit der rechtsnationalen Lega Nord.

31. März 2019: Die Operation Sophia zieht alle Schiffe zurück und läuft nur mit Flugzeugen weiter. Die Rettungsmission wird zur Überwachungsmission. Monatelang hat der italienische Innenminister Matteo Salvini gefordert, die Geretteten auf andere Staaten zu verteilen, vergeblich. Nun sorgt das Veto Italiens für das Ende der staatlichen Seenotrettung im Mittelmeer. Die Krise der europäischen Mi­gra­tions­poli­tik, sie ist auch das Produkt zerstrittener Mitgliedsstaaten mit wechselnden Regierungen.

12. Juni 2019: Das zivile Rettungsschiff Sea-Watch 3 nimmt 40 Menschen in Seenot an Bord, aber Italien verweigert ihm die Einfahrt. Nach 17 Tagen des Wartens steuert die deutsche Kapitänin Carola Rackete das Schiff trotzdem in den Hafen von Lampedusa. Sie wird kurzzeitig festgenommen, der Minister Salvini nennt sie eine »Kriminelle«, die das Geschäft der Schleuser besorge. Er wirft den zivilen Rettern vor, die Migranten auf das Meer zu locken. 

Da ist sie wieder: die These von der Seenotrettung, die einen Anreiz für die Überfahrt schafft. Einen wissenschaftlichen Beleg dafür gibt es bis heute nicht. Eine Studie aus dem August 2023, veröffentlicht im renommierten Magazin Nature, widerspricht dieser These deutlich: Seenotrettung habe keinen nachweisbaren Einfluss auf Migrationsbewegungen. Entscheidend sei die Situation in den Herkunftsländern. Kriege, Klimafolgen, Rohstoffpreise.

Im spanischen Santander hat Gerald Knaus auf der Bühne Platz genommen. Neben ihm: Josep Borrell, der die jährlich stattfindende Konferenz seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert, früher als Uni-Professor, inzwischen als EU-Außenbeauftragter. Dazu ein Experte für die Kanaren – und die Außenministerin des Senegal, Aïssata Tall Sall. 

Knaus trägt sein Konzept vor. Er sagt Sätze wie: »Es könnte die Debatte über Migration komplett verändern.« Oder: »Es gibt eine Alternative. Lassen Sie uns den Vorschlag ausprobieren.« Die Außenministerin nickt. Als Knaus ge­endet hat, klatscht sie, schüttelt ihm die Hand. Während nun der Kanaren-Experte spricht, tuscheln die beiden und tauschen Visitenkarten aus.

8. Juni 2023: In Luxemburg einigen sich die EU-Innenminister auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Kritiker sagen, es gehe fast nur noch um Abschottung. Besonders umstritten: die Grenzverfahren. Wer aus einem Land kommt, dessen Staatsbürger in weniger als 20 Prozent der Fälle einen Schutzstatus erhalten, soll ein Schnellverfahren an der EU-Außengrenze durchlaufen. 

14. Juni 2023: Vor der griechischen Küste sinkt ein Boot mit bis zu 750 Menschen an Bord. Nur 104 überleben. Die schwerste Schiffskatastrophe seit 2015. Recherchen internationaler Me­dien ergeben, dass der Kutter schon früh von Frontex-Flugzeugen gesichtet wurde, ohne dass ihm die griechische Küstenwache zu Hilfe kam – dass er also überwacht, aber nicht gerettet wurde.

16. Juli 2023: Ursula von der Leyen reist nach Tunis, zusammen mit der italienischen Ministerpräsidentin Meloni und dem niederländischen Regierungschef Mark Rutte. Die EU und Tunesien verkünden eine Absichtserklärung: Tunesien soll gegen Schlepper vorgehen, die Küstenwache soll Boote aufhalten. Im Gegenzug verspricht die EU vor allem Wirtschaftshilfen. Auch von legaler Migration ist die Rede, allerdings ohne konkretes Konzept. Parallel verbreitet sich die Nachricht, tunesische Behörden hätten Hunderte Migranten in der Wüste ausgesetzt. Das Foto einer Frau von der Elfenbeinküste geht viral: Sie liegt im Sand, das Gesicht nach unten, neben ihr die sechsjährige Tochter. Sie sind tot, verdurstet.

Ein paar Hundert Kilometer weiter, im Norden des Landes, ein Lokal aus der Hochphase des tunesischen Massentourismus in den Neunzigern. Verblichene Gardinen versperren den Blick aufs Meer. Hier fühlt sich Ousman Sanneh sicher, auch wenn er auffällt: ein muskulöser Mann in ärmellosem Shirt, kurzen Shorts und ­neuen Sneakern. Sanneh sagt, seit sich die EU und Tunesien geeinigt hätten, sei seine Arbeit deutlich schwieriger geworden. Die Polizei suche ihn, immer häufiger gebe es große Razzien. Also sei er weitergezogen. Von Sfax, der tunesischen Hafenstadt, wo die meisten Boote nach Lampedusa ablegen, weiter nach Norden, wo er nun jeden Abend in diesem verrauchten Café sitzt. 

Ousman Sanneh ist 34 Jahre alt, er heißt eigentlich anders, auch sein genauer Aufenthaltsort soll nicht genannt werden. Sanneh ist Schlepper. Er selbst sagt, er helfe seinen Kunden, das Meer zu überqueren. Sanneh stammt aus Gambia in Westafrika. Seit knapp einem Jahr ist er in Tunesien und bringt Migranten auf Boote, so erzählt er es. Seine Geschichte lässt sich nicht im Detail überprüfen, deckt sich aber mit dem, was über das Schlepper-Geschäft in Tunesien bekannt ist. 

Sanneh erzählt, er habe ein Netz aus Mitarbeitern aufgebaut: Fahrer, die die Kunden an der algerischen Grenze abholen und in eine seiner drei Mietwohnungen bringen. Andere, die Boote ­bauen oder ihn informieren, wenn ein guter Moment zur Überfahrt da ist, wettertechnisch oder wegen der Kontrollen der Sicherheitskräfte. »Am Anfang war es nicht leicht, Kunden zu bekommen«, sagt Sanneh. »Aber als die ersten sicher auf Lampedusa ankamen, haben sie mich weiterempfohlen.« 

Sein Vater starb, als er acht Jahre alt war, Sanneh musste sich früh um die Familie kümmern. Nach der zehnten Klasse bricht er die Schule ab. Sanneh wird Maler und erweist sich als geschäftstüchtig. Er baut ein eigenes kleines Unternehmen auf, arbeitet bald auch als Innenausstatter. 2017 sei er nach Algerien gereist, um sich weiterzubilden, erzählt er. Von da an fuhr er häufiger nach Norden, so kam er auf seine heutige Geschäftsidee. Als sich abzeichnete, dass Tunesien das neue Transitland für die Route über das zentrale Mittelmeer werden würde, habe er sich entschieden, für längere Zeit herzukommen. 

Sanneh sagt, er habe dafür eines seiner zwei Grundstücke in Gambia verkauft, aber seine Firma laufe weiter. »Ich berate Kunden bei der Farbauswahl, setze die Preise fest, meine Mitarbeiter kümmern sich um die Umsetzung.« Auf Face­book zeigt er Fotos: Einfamilienhäuser, öffentliche Gebäude, selbst für Ministerien habe er in seiner Heimat gearbeitet. 

3000 Dinar, rund 900 Euro, nimmt Sanneh für eine Überfahrt nach Europa. Doppelt so viel, wie Migranten aus Subsahara-Afrika an andere Schlepper zahlen. Sanneh sagt, sein hoher Preis sei gerechtfertigt, denn er wähle das Material selbst aus, kontrolliere die Boote vor der Abfahrt, packe Benzinreserven an Bord, verwende Motoren mit 60 statt 40 PS und nehme maximal 35 Personen mit. Bis jetzt ­seien alle seine Boote sicher angekommen. Nur einmal habe er ein schlechtes Bauchgefühl gehabt. »Mein Herz war unruhig, da habe ich ihnen gesagt, sie sollen umkehren, als sie schon 20 Kilometer unterwegs waren.« 

Während des Gesprächs drückt Sanneh etliche Anrufe weg. Inzwischen, sagt er, stehe sein Telefon kaum noch still. »Da ruft dann etwa ein Vater aus dem Senegal an, der seinen Sohn nach Europa schicken will. Oder irgendjemand aus Guinea, Kamerun oder Burkina Faso.« 

Die meisten Menschen, die in diesem Jahr auf Lampedusa ankommen, stammen aus Westafrika. Sie fliehen nicht vor Krieg, sondern vor Armut und Klimakrise, wenige vor politischer Verfolgung. Andere sind schon länger in Tunesien, haben dort gearbeitet oder studiert und wollen jetzt wieder weg. Weil das Land in einer schweren Wirtschaftskrise steckt, weil sich rassistische Übergriffe häufen. Weil der Präsident gegen Menschen aus Subsahara-Afrika hetzt und von einem geplanten »Bevölkerungsaustausch« raunt. Und vermutlich auch, weil sie fürchten, dass es die letzte ­Chance sein könnte, ehe der Deal mit der EU sie aufhält. 

Nach einem Pakt mit dem Folterstaat Libyen gibt es nun also einen Pakt mit einem Mann, der die Menschen aufs Meer treibt. Das ist die Lage in der europäischen Flüchtlingspolitik, zehn Jahre nach Lampedusa. Für den Kern des Problems aber gibt es weiter keine Lösung: Immer noch nehmen Tausende Menschen den Weg übers Mittelmeer. Und immer noch sterben viele dabei. 

Pietro Bartolo, der Inselarzt, entschloss sich vor vier Jahren, in die Politik zu gehen. Für die italienischen Sozialdemokraten zog er ins EU-Parlament ein. Er hat das Libyen-Abkommen kritisiert, obwohl seine Partei es unterstützte, obwohl er, wie er sagt, nicht grundsätzlich dagegen sei, mit afrikanischen Staaten zu kooperieren. Bartolo klingt resigniert, wenn er sagt: »Das einzige Mal, dass ich stolz war auf das, was wir tun, war während Mare Nostrum.« Bei der Europawahl im kommenden Sommer wird er nicht wieder antreten. Er will zurück, als Arzt nach Lampedusa.

Gerald Knaus sagt, es gebe gute und schlechte Migrationsabkommen und der Pakt mit Tunesien sei ein schlechtes. Die Bundesregierung müsse sich dringend für bessere Lösungen einsetzen. Nur so lasse sich verhindern, dass irgendwann endgültig die Rechtspopulisten darüber bestimmen, wie Euro­pa seine Grenzen sichert. 

Cecilia Malmström sagt, sie sei froh, heute nicht mehr für das Thema Migration verantwortlich zu sein. Warum? Damals habe es noch eine gewisse Aufnahmebereitschaft gegeben. Heute sagten immer mehr Leute: »Halten wir die Menschen fern. Nicht unser Problem.« 

Ousman Sanneh sagt, für ihn sei jetzt das Wichtigste, nicht übermütig zu werden. Einige Schlepper aus Subsahara-Afrika säßen für zehn Jahre in Haft. »Das ist der Preis der Gier«, sagt er. Noch zwei, drei Monate, dann werde er nach Gambia zurückkehren. 

Fanus Okbay erzählt, zwei ihrer Geschwister ­seien inzwischen nach Israel geflohen, zwei andere nach Norwegen. Ein Bruder lebt in Schweden, nur wenige Kilometer entfernt. Er hat sich als Letzter auf den Weg gemacht. Okbay sagt, als sie erfuhr, dass er übers Mittelmeer fliehen wolle, habe sie tage­lang geweint, so groß sei die Angst um ihn ge­wesen. Am Telefon habe sie ihm gesagt: Komm nicht.

Er wollte nicht hören. Okbay sagt: »Man kann sich den Schrecken nicht vorstellen, bis man ihn selbst erlebt.«


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