Manche schalten ihr Smartphone beim sogenannten digitalen Entgiften für längere Zeit aus. Andere schweigen im Kloster oder wandern, um ruhig zu werden. SN-Redakteurin Angelika Wienerroither probiert alles auf einmal aus - auf einer südnorwegischen Insel bei Dauerregen.
Die Fähre legt ab, bahnt sich ihren Weg durch die kleinen Inseln hinaus aufs Meer. Der Fährmann sieht mich fragend an. "Finnøya", sage ich. Es wird das letzte Wort sein, das ich in den kommenden 24 Stunden spreche.
Finnøya liegt vor der südnorwegischen Küste. Es ist eine kleine Insel, die durch eine Brücke mit der größeren Nachbarinsel Harøya verbunden ist. Finnøya ist der Ort, an dem ich Ruhe finden will. Ich will schweigen, das Smartphone auf Flugmodus schalten, die Insel erkunden und in fünf Rundgängen immer wieder Neues entdecken. Die Übung soll meine Aufmerksamkeit schulen.
Meinen Rucksack werfe ich auf das Bett im Hotel. Ich will hinaus, meine Umgebung erforschen. Kaum öffne ich die Tür zur Straße, spritzt mir der Wind den Regen ins Gesicht. Die Tropfen schießen waagrecht über die Insel. Ich ziehe die Kapuze meiner Winterjacke über den Kopf und hülle mein Gesicht in den Schal ein. Ich stapfe die Straße entlang, den Kopf Richtung Asphalt gesenkt. Dennoch bemerke ich: Es gibt keine Steilküsten, an denen man von oben das rauschende Meer bewundern kann. Es gibt keine Häfen, in denen bunte Fischerboote schaukeln. Es gibt nur die Straße, Einfamilienhäuser mit gestutztem Rasen und mit Moos bewachsene Steine. Die Insel ist einfach nur irgendein Ort im europäischen Nordmeer.
Ich denke an die Stille, die mich vergangenes Jahr bei meinem Urlaub in Nordnorwegen empfangen hat. Sie dringt in die Fischerhütten ein, verlangsamt die Gedanken. Deswegen bin ich hier. Ich will diese Ruhe spüren, die sich anfühlt, als würde sich mein Körper ausdehnen. Ich will dieses Gefühl verstärken, indem ich mich durch nichts ablenken lasse. Kein Handy. Keine Gespräche.
Der norwegische Autor Erling Kagge schreibt über diese Stille, die ich meine. Sie niste sich in ihm ein und zwinge ihn, die Gedanken weiterzudenken, die ihm bereits im Kopf herumgingen. Und schlimmer noch, seinen Gefühlen nachzuhängen. Doch irgendwann lösen sich Gedanken und Gefühle auf. Was er suche, sei nicht die Stille außen. Sondern die Ruhe in ihm.
Ich will mit der Stille außen anfangen. Doch der Sturm pfeift, der Regen durchnässt meine Hose. Jeder Tropfen fühlt sich nun an, als würden sich kleine Eispickel in meine Haut bohren. Ich atme tief durch, hebe meinen Blick kurz vom Asphalt. In einem Häuschen aus Beton sind die Postkästen der Familien untergebracht. Ein kleiner Tritthocker steht unter einem Kasten, damit Kinder die Briefe nach Hause bringen können. Ich fotografiere es. Es braucht Überwindung, im Regen das Schöne zu sehen.
Ich atme aus. Dann öffne ich die Tür von meinem Hotel und halte meine Kapuze fest. Runde zwei. 16 Minuten dauert es, die Insel längs abzugehen. Kurz nach dem Ortsschild fällt mir ein kleines Häuschen auf, das viel zu klein für das umliegende Feld ist. Minigolf steht darauf. Den passenden Platz dazu sehe ich nicht.
Ein Radfahrer mit Regenhose überholt mich. Er sieht die zwei Plastiksackerl, die ich mir als Regenschutz in den Hosenbund gesteckt habe. Plötzlich durchfährt mich der Gedanke, dass er mich für verrückt halten könnte. Wer stapft bei strömenden Regen über die Insel, immer und immer wieder? Wird der Radfahrer die Polizei rufen? Und gibt es hier überhaupt Polizisten? Ich könnte mein Vorhaben nicht erklären, ohne mein Schweigen zu brechen.
Mir fällt ein, dass ich gar nicht weiß, wie viele Einwohner diese Insel hat. Ich zähle die Häuser. In den Fenstern ist niemand zu sehen. Bei 63 bin ich wieder beim Hotel - und entdecke die Sauna. Als ich mit dem Holzlöffel das Wasser über die Steine gieße, zischt es nicht. Ich könnte jemanden fragen, wie man den Ofen heißer stellt. Doch ich mache es nicht. Ich könnte googeln, wann der Regen aufhört. Doch ich mache es nicht. Ich bleibe liegen, lasse meine Augen über das von der Hitze dunkel gefärbte Holz gleiten. Wer schweigt ist dankbar für das, was sie bekommt.
53. Die Zahl kreist in meinem Kopf. 53 Mal am Tag entsperren wir unser Smartphone, schreibt Alexander Markowetz, der über eine App anonym Daten dazu gesammelt hat. Er rechnet auch die Zeit auf, die wir mit WhatsApp, E-Mails und Instagram verbringen: 2,5 Stunden am Tag. Bei mir sind es sicher mehr. Als ich zuletzt durch meine Heimatstadt Salzburg spaziert bin, habe ich Nachrichten an Freunde geschrieben. Wenige Sekunden später vibrierte die Antwort in meiner Hand. Ich wäre fast gegen ein Baugerüst gestoßen, Kopf voran, der war ja über das Smartphone gebeugt.
Nun höre ich keine Vibration. Mir fehlt sie auch nicht. Es ist schön, nicht erreichbar zu sein. Die Zeit ist wie ein kleines Geheimnis, nur für mich, eingepackt in dieser kleinen Sauna in Südnorwegen. Ich warte, bis sich feine Schweißperlen auf meiner Haut bilden.
Mein Tisch in der Ecke ist der einzige, der gedeckt ist. Das Kerzenlicht flackert über die weiße Tischdecke, den Spitz der Serviette. Es riecht nach dem Holz, das das Restaurant verkleidet. An den Wänden hängen alte Fotografien der Insel.
In der Fensterscheibe spiegelt sich die Silhouette des Kellners, der näher kommt. Er werde heute Krabbensuppe, Lammkotelett, Maracujamousse als Dinner servieren. Was ich zu trinken wünsche? Fragende Blicke auf beiden Seiten. Er weiß von meinem Schweigen nichts. Schließlich zeige ich auf mein Weinglas, das der Kellner mit weißem Wein befüllt.
Meine Schultern ziehen sich nach oben, meine Bauchmuskeln spannen sich an. Ich drehe meinen Oberkörper weg vom Restaurant, blicke aus dem Fenster. Der Kellner stellt die Krabbensuppe vor mich hin, es ertönt kein Laut. Sein Oberarm ist tätowiert. Der Impuls, danke zu sagen, ist so stark, dass ich die Lippen aufeinander presse. Ich denke über die Erwartung anderer nach. Es ist unangenehm, sich dem nicht zu beugen.
Normalerweise bin ich gut darin, Gespräche zu verknappen. Beim Arzt trage ich eine Checkliste mit Fragen bei mir. Im Zug schirmen mich geräuschreduzierende Kopfhörer vom Gelaber der Menschen gegenüber ab. Telefonwerber haben keine Chance bei mir. Und wer mich foltern will, bindet mich auf einen Stuhl vor einem Fernseher fest, in dem eine Talk Show läuft. Ich hasse sinnlose Worthülsen und Reden, die sich im Kreis drehen.
Im Alltag suche ich die Stille. Doch nun will ich nichts lieber, als mit dem Kellner zwei Worte zu wechseln.
Ich werde mir meiner Körpersprache bewusst. Meinen Oberkörper drehe ich gerade, ich richte mich auf. Als der Kellner aus der Küche kommt, lächle ich ihn an. Ich merke, dass ich die Situation durch kleine Signale entschärfen kann.
Die Insel schrumpft. Beim ersten Rundgang hat es eine Ewigkeit gedauert, bis ich am Anfang der Brücke stand, die von der Insel wegführt. Beim dritten Mal kenne ich aber bereits die alte Scheune am Straßenrand, deren winzige Fenster wie zwei traurige Augen aussehen. Ich weiß, wo die Baumwurzeln übereinander gestapelt sind und wann ich auf das Haus treffe, vor dessen Eingang Gartenzwerge ihre Hüte lüften. Das Bekannte lässt die Welt kleiner erscheinen. Mir fällt es schwer, Neues zu entdecken.
Es nieselt. Von oben. Unten bilden sich Pfützen. Ein Auto fährt vorbei und spritzt mir das Wasser ins Gesicht. Eine Mischung aus Dreck und Regenwasser läuft meine Wangen hinab. Mein Blick streift einen Strauch, der Wind hat ihn gebeugt. Er wächst zwischen Steinen, nahe am Meer. Du siehst so aus, wie ich mich fühle, denke ich.
Der Himmel färbt sich dunkel. Zwei Straßenlaternen werfen Licht auf den Asphalt vor dem Fährenhäuschen, neben dem ich am Morgen die Insel betreten habe. Im Häuschen brennt Licht. Vielleicht, denke ich, vielleicht geht es bei der Übung auch darum, einfach einmal etwas auszuhalten.
Ich liege im Bett und höre der Lüftung beim Lüften zu. Es ist kurz nach Sonnenaufgang am Tag zwei. Ich denke an eine Freundin, die mir vom Tauchen erzählt hat. Wenn sie im Wasser schwebt, lauscht sie ihrem Atem. Und dem Pochen in ihrem Körper, das ihr Herz klopft. Sie sagt, es ist, als würde sie das Leben hören. Draußen verziehen sich die Wolken. Die Sonne beleuchtet die unterste Schicht, sie erscheint ganz hell. Die weißen Wolken spiegeln sich im Meer und lassen die Wellen glitzern. Eine Möwe steigt auf, lässt sich wieder fallen.
Auf den ersten paar Metern des vierten Rundgangs wirkt es, als würde die Sonne die Wolken durchbrechen. Ich kann beinahe ihre Strahlen spüren. Ich sehe ein verwittertes kleines Häuschen an der Küste, dahinter ein Band aus Licht. Ich trödle, bleibe stehen, achte auf die Geräusche. Ohne den Wind höre ich die Wellen, die sich zurückziehen und neu aufbäumen. Und ich bemerke die Vögel, die hier balzen. Ich schließe Frieden mit dieser Insel.
Bis es zu nieseln beginnt.
Die Straße beginnt dort, wo die Fähre anlegt. Sie führt quer über die Insel, eine Brücke verbindet sie mit der größeren Nachbarinsel. Von dort kommt man ohne Boot aber nicht weg. Es ist eine Straße vom Nirgendwo ins Nirgendwo, denke ich.
Eine alte Frau im Auto nickt mir zu. Vermutlich gehöre ich schon zum Inventar. Verhaften wollte mich bisher keiner. Dann fällt mir die Motorsäge auf, die auf einem Baumstamm liegt. War sie gestern auch schon da? Oder am Morgen? Ich habe doch von einem Fall gelesen, bei dem ein Mörder im Internet nach dem besten Ort gesucht hat, um Leichen zu verstecken. Dadurch ist ihm die Polizei auf die Spur gekommen. Hinter dem Baumstumpf ist ein kleiner Wald. Wäre es sinnvoll, Leichen zu zerstückeln und im Wald zu vergraben, wo das Meer doch so nahe ist? Vermutlich ist die See hier nicht sonderlich tief. Der Körper würde angeschwemmt werden.
Das große weiße Gebäude kommt mir bekannt vor. Es erinnert an das alte Foto, das ich beim Frühstück im Restaurant entdeckt habe. In der Mitte lagen zwei Wale, Menschen standen um die Tiere herum. Zwei Männer hatten etwas in der Hand, das wie ein Speer aussah. Ist der Platz vor dem weißen Gebäude der, auf dem die Wale geschlachtet wurden? Meine Fantasie spinnt Geschichten mit harten Seemännern, hohe Wellen, Walen und der Frage, wie man den riesigen Fisch an Land zerrt.
Ich versuche näher an das Gebäude heranzukommen. Ein Schild zeigt eine Hand, die durchgestrichen ist. Es ist Firmengelände, hier werden Propeller für Schiffe gefertigt. Ich gehe ein paar Meter weiter auf einen Hügel hinauf, kehre aber wieder um: Ein Mann starrt mich durch ein Fenster des Firmengebäudes an. Ich muss runter von dieser Insel, denke ich.
Der Fährmann geht auf mich zu. Ich sage den Namen des Ortes, in dem mein Mietauto parkt: "Aukra". Es ist das erste Wort, das ich innerhalb von 24 Stunden gesagt habe. Es ist schön, den Klang meiner Stimme zu hören.
Hinter der Geschichte
Die Idee zum Artikel kam der Autorin, als sie vergangenes Jahr zum ersten Mal in Norwegen war. Ihr fiel dort die Stille auf, die sie als überreizter Stadtmensch nicht mehr gewohnt war. Sie fragte beim Tourismusbüro Fjordnorway an, auf welcher Insel sie in der Nebensaison eine Nacht bleiben konnte.
Finnøya gehört zur Gemeinde Sandøy. Die Kommune besteht aus mehreren Inseln vor der südnorwegischen Küste und hat eine gesamte Fläche von 19 Quadratkilometer. 1251 Menschen leben dort. Wie groß nur Finnøya ist, hat niemand erfasst. Die Autorin ist die Straße Fv207 abgegangen, die sich längs über die Insel zieht. Von der Fährenanlegestelle bis zur Brücke zur Nachbarinsel Harøya sind es 1,7 Kilometer. Sie zählte 63 Häuser auf der Insel, was ungefähr 150 Einwohner bedeuten könnte. Nach Finnøya fährt eine Fähre von Aukra aus, diese Insel ist ebenfalls per Fähre vom Ort Molde erreichbar.
Das Hotel Finnøy Havstuer ist das einzige auf der Insel. 50 Zimmer verteilen sich auf drei Gebäude. Die Redakteurin war in Holmen untergebracht, dem neueste Haus. In dem Gebäude, in dem sich das Restaurant befindet, wurde früher Fisch gesalzen und getrocknet. In einem Nebenhaus gibt es eine Bar, die auf den norwegischen Schnaps Aquavit spezialisiert ist. Gäste können den alten Fischershop besichtigen, den der Betreiber Classic Norway erhalten hat, und im neu errichteten Hallenbad mit Blick auf das Meer schwimmen. Es gibt dort eine Sauna. Die Autorin hat lange überlegt, ob sie sich per Mail beim Kellner für ihr Schweigen entschuldigen und ihm den Hintergrund des Artikels erklären sollte. Die Antwort kam schnell und war kurz: "Ist okay."
Das Smartphone der Autorin war für 26 Stunden und 55 Minuten im Flugmodus. Auswirkungen des Digital Detox spürte sie kaum, weder fühlte sie sich einsam noch hatte sie ein nervöses Zucken im Finger. Sie wollte nur unbedingt den Wetterbericht googeln. Kaum hatte das Handy Netz, gingen 85 WhatsApp-Nachrichten, drei SMS und 18 E-Mails ein. Der Vorsatz, in Ruhepausen künftig nicht durch den Instagram-Feed zu wischen, hielt für 1,5 Stunden.