Felix Schilk

Soziologe, Freier Journalist, Dresden

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Artikel

Gecancelt zu werden, will gelernt sein

Als es noch keine »Cancel Culture« gab. Protest gegen den »Radikalenerlass« und Berufsverbote im Öffentlichen Dienst, 7. Oktober 1978

Die Freiheit der Wissenschaft ist weltweit gefährdet. Dem "Academic Freedom Index" der Organisation Scholars at Risk und der Denkfabrik Global ­Public Policy Institute zufolge, die im vergangenen März gemeinsam einen neuen Bericht vorlegten, hat sich die Lage von Wissenschaftlern in den ­vergangenen Jahren weltweit stark verschlechtert.

In der Türkei wurden beispielsweise nach dem Putschversuch von 2016 Tausende Hochschulmitarbeiter aus poli­tischen Gründen entlassen. In Ungarn wurde 2017 das Hochschulunterrichtsgesetz geändert, um die liberale, privat betriebene Central European University aus Budapest zu vertreiben.


In Deutschland, wo die Wissenschaftsfreiheit durch Artikel 5 des Grundgesetzes geschützt wird, ist man von Zuständen, wie sie in manchen anderen Ländern herrschen, weit entfernt. Gefahr für die freie Forschung geht hier­zulande vor allem von der wachsenden Abhängigkeit von Drittmitteln und den strikten Befristungen der Stellen aus. Nachwuchswissenschaftler, die auf Anschlussverträge und neue Projektstellen hoffen, sind gezwungen, sich den Moden des Marktes zu unterwerfen, die Relevanz der eigenen Forschung möglichst überhöht darzustellen und Marketing in eigener Sache zu betreiben.


Von den ökonomischen Zwängen, die vor allem den sogenannten Mittelbau betreffen, sprechen die 70 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, zum großen Teil Lehrstuhlinhaber, die Anfang Februar als "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" vor die Presse getreten sind, jedoch nicht. "Wir beobachten, dass die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit von Forschung und Lehre zunehmend unter moralischen und politischen Vorbehalt gestellt werden soll", heißt es in ihrem Manifest. Laut einer Pressemitteilung hätten "Cancel Culture" und "Political Correctness" die freie und kontroverse Debatte an den hiesigen Universitäten vielerorts zum Verschwinden gebracht. Unter Verwendung des Modebegriffs "Cancel Culture" wird kritisiert, dass Personen aufgrund ihrer Meinung sozial geächtet werden.


Im Deutschlandfunk sagte eine der Initiatorinnen, die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, die "Cancel Culture" trete vor allem bei gewissen "Reizthemen" auf: bei Gendersternchen, der "unbegrenzten Zuwanderung", den Ursachen des Klimawandels oder der Kritik am Islam. Zwar sei das Engagement gegen Sexismus und Rassismus grundsätzlich "politisch-moralisch gut", statt jedoch Argumente vorzubringen, würden häufig unliebsame Positionen durch sozialen Druck an den Rand gedrängt.

Konkrete Beispiele für die Vorwürfe sucht man aber im Manifest des Netzwerkes vergeblich. Stattdessen dominieren die Selbstdarstellung als Opfer und ein staatstragender Tonfall. Opfern der "Cancel Culture" bietet das Netzwerk seine Unterstützung an und fordert Respekt für kontroverse Positionen ein, solange sie sich im Rahmen von Gesetz und Verfassung bewegen.


In anderen Interviews haben die Initiatoren auf die Frankfurter Kopftuchkonferenz verwiesen. 2019 wurden der Organisatorin Susanne Schröter "Islamfeindlichkeit" und Rassismus vorgeworfen, weil sie Kritiker des politischen Islam zu einer Podiumsdiskussion eingeladen hatte. Die Vorwürfe wurden in den deutschen Medien fast einhellig als Hetzkampagne entlarvt, die Konferenz war dagegen ein großer Erfolg (Jungle World 20/2019). Auch Schröter gehört zu den Unterzeichnerinnen des Netzwerks.


Zu einer fünfköpfigen Steuerungsgruppe gehören unter anderem die Migrationsforscherin Sandra Kostner, die Politologin Ulrike Ackermann und der Historiker Andreas Rödder. Das ostentative Bekenntnis zur Freiheit und die Warnung vor politischer Instrumenta­lisierung der Wissenschaft sollten nicht über die politischen Interessen mancher Netzwerkmitglieder hinwegtäuschen. Einige der vorgebrachten Argumente erinnern zudem an die in den siebziger Jahren vom "Bund Freiheit der Wissenschaft" vorgebrachten: Dessen Positionen wurden von Erzkonservativen wie sozialdemokratischen Verfolgten des Naziregimes vertreten und richteten sich explizit gegen die damalige Studentenbewegung.


Ackermann, die bis 2014 den Schwerpunkt "Freiheitsforschung und Freiheitslehre" in Heidelberg gelehrt hatte, sitzt dem neoliberalen Verein John-Stuart-Mill-Institut für Freiheitsforschung vor. Ihr Verein kooperiert unter anderem mit Denkfabriken wie der Hayek-Gesellschaft, dem US-amerikanischen Cato Institute und dem kanadischen Fraser Institute, die vor staatlicher Regulierung warnen. Letztere unterstützen auch Klimawandelskeptiker wie den Agrarklimatologen Patrick Michaels. Unterzeichner wie der Historiker Jörg Baberowski haben in der Vergangenheit ihre wissenschaftlichen Netzwerke genutzt, um Druck gegen Kritiker aufzubauen. In der vorigen Woche schilderte der Geschichtsprofessor Jan Plamper in der Zeitschrift Merkur aus eigener Erfahrung, wie Baberowski versucht hatte, ihn aus dem Herausgebergremium einer wissenschaftlichen Buchreihe für Osteuropageschichte herauszudrängen, nachdem er Baberowskis Äußerungen zur Asylpolitik kritisiert hatte. Auch der emeritierte Leipziger Philosophieprofessor und Mitunterzeichner Georg Meggle, der für seine Unterstützung der antisemitischen BDS-Kampagne (Boycott, Divestment and Sanctions) bekannt ist, fürchtet wohl Protest gegen derartige Veranstaltungen. Der Jüdischen Allgemeinen ­zufolge hat sich Meggle in der Vergangenheit selber dafür eingesetzt, Auftritte zu "canceln": 2011 unterzeichnete er einen offenen Brief, in dem BDS-­Anhänger die Berliner Schaubühne aufforderten, aufgrund der "israelischen Apartheidspolitik" einen Gastauftritt in Jerusalem abzusagen.


Auch wenn man beim Blick ins aufgeregte Feuilleton einen anderen Eindruck bekommt, ist die "Cancel Culture" kein neues Phänomen, sondern eine Begleiterscheinung des auf persönliche Konkurrenz orientierten Wissenschaftssystems.

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