Felix Leitmeyer

Journalist | Journalistenschüler an der ems (rbb-getragen)

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Interview

»Ich kämpfe für das, was ich liebe« – Kaufhaus in der Krise

Bensheim, Hessen, ein Freitagmorgen. In der Altstadt steht das Kaufhaus "Ganz". Gerade noch war die Chefin, Tatjana Steinbrenner, gut gelaunt ins Freie spaziert. "Ist es nicht schön hier?", hatte sie gefragt. Nun beißt sie sich beim Blick auf die Hausfront auf die Lippe. Sie zeigt auf eine Stelle zwischen Schaufenster und Wandfliesen: Zwei riesige Dellen ruinieren dort das sonst makellos rote Vordach.

Tatjana Steinbrenner: Gleich zwei Lieferwägen sind hier in den letzten Wochen hängen geblieben. Das passiert andauernd, weil dieses Vordach so eine unpraktische Höhe hat. Und wissen Sie was? Ohne die hohe Inflation wäre das Dach schon weg.

DIE ZEIT: Was hat denn die Inflation mit dem Vordach zu tun?

Steinbrenner: Schon vor der Corona-Pandemie haben wir geplant, die Front neu bauen und verglasen zu lassen, viel Licht ins Innere zu lassen. Ein neues Café sollte her, ein Secondhandbereich. Aber wegen der großen Unsicherheit aufgrund der Preissteigerungen, der aktuell insgesamt schwierigen Situation und der Corona-Monate haben wir unsere Investitionen erst mal auf Eis gelegt.

Dieser Artikel stammt aus der ZEIT Nr. 43/2022. Hier können Sie die gesamte Ausgabe lesen.
Die große Drehtür trennt Herbstluft und Raumduft. Hinein in den Alles-Laden. Seniorinnen mit Hut. Aufsteller mit Markenkleidern. Dazwischen tobende Kinder.

Steinbrenner: Sehen Sie? Wie schön wäre es, wenn wir hier einen lichtdurchfluteten Eingang hätten.

ZEIT: An Ihrer Werbetafel draußen muss das Licht als Folge der Energiesparregeln die meiste Zeit über aus bleiben. Die Automatikscheiben vor der Drehtür dürfen gesetzlich auch nicht mehr dauerhaft offen stehen. Das hat die Regierung entschieden. Was halten Sie davon?

Steinbrenner: Natürlich nehmen wir die Situation sehr ernst. Und natürlich sind die neuen Verordnungen wichtig, um gemeinsam die Energiekrise anzugehen. Aber die Innenstadt darf nicht dunkel und zu einem Angstraum werden. Die nächtliche Beleuchtung hat Menschen zu uns gebracht, die offenen Türen sahen einladend aus. Verhältnismäßigkeit ist angesagt und keine Symbolpolitik!

ZEIT: Wollen Sie keine Energie sparen?

Steinbrenner: Im Gegenteil. Wir sparen im Handel, wo wir nur können, beleuchten etwa die Schaufenster freiwillig weniger, allein schon wegen der Kosten. Dass uns die Politik so wenig vertraut, enttäuscht mich. Wir sind Unternehmer und selbst verantwortlich für unser Handeln.

ZEIT: Trotzdem scheint hier viel los zu sein. Vor Ladenöffnung standen einige Kunden Schlange.

Steinbrenner: Ich bin froh, dass meine Kunden weiterhin zahlreich kommen. Aber sie kaufen seit der hohen Inflation leider weniger. Gleichzeitig steigen unsere Ausgaben enorm.

ZEIT: Seit wann kaufen die Kunden weniger?

Steinbrenner: Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Verkaufszahlen gesunken. Als dann im Sommer die hohe Inflation eingesetzt hat, sind sie noch weiter nach unten gegangen.

ZEIT: Bei welchen Produkten spüren Sie das?

Steinbrenner: Bei so ziemlich allem, was die Menschen nicht akut benötigen: Schmuck, schöne Kleidung, ein neues Teeservice, Spielsachen ...

ZEIT: Und daraufhin haben Sie die Investitionen ins Gebäude gestoppt?

Steinbrenner: Ja. Ich habe die Planung ab dem März nicht weiter nach vorne getrieben, da mir der Mut in der aktuellen Zeit leider fehlt.

Vorbei an Print-T-Shirts und einem Reisebüro. Steinbrenner begrüßt Stammkunden. "Das 'Ganz' ist der Mittelpunkt der Stadt", sagt die 76-jährige Karen Krämer, die mit ihrer Freundin Bärbel Hartmann, 75, gekommen ist. "Man trifft sich. Wir kaufen oft Postkarten."

ZEIT: Ist der Umbau jetzt für immer abgeblasen?

Steinbrenner: Nein, irgendwann machen wir das noch. Wir Unternehmer sind auch in der Pflicht, bald wieder richtig Geld zu investieren. Sonst rutschen wir alle so richtig in die Rezession.

"Ich erwarte keine Erholung vor 2024"

ZEIT: Was glauben Sie, wann wird die Lage wieder besser?

Steinbrenner: Ich erwarte keine Erholung vor 2024. Ich sehe eher jeden Tag, wie alles schwieriger wird.

ZEIT: Wo zum Beispiel?

Steinbrenner: Da stelle ich Ihnen mal eine Expertin vor. Sie kann das am besten beantworten.

Die Rolltreppe hinauf, an der Damenkleidung vorbei. Zwischen Dosenöffnern und Gusseisentöpfen steht in der Haushaltswarenabteilung die Verkäuferin Inge Bösel, 57. In der Hand hält sie eine Klarsichthülle mit kleinen Zetteln.

ZEIT: Hallo, Frau Bösel, was machen Sie da?

Inge Bösel: Wir führen 300.000 Artikel, andauernd steigen die Preise. Ich bin nur noch am Umetikettieren.

ZEIT: Mehr als sonst?

Bösel: Ich habe mit 16 Jahren angefangen, hier in der Porzellanecke zu arbeiten. 41 Jahre. Aber so etwas habe ich noch nie erlebt.

ZEIT: Wie reagieren die Kunden auf die Inflation?

Bösel: Manche bezeichnen uns als Wucherer, etwa weil der Preis des Apfelweinglases von 3,29 Euro auf 4,99 Euro erhöht wurde. Das ist in Hessen ein Kulturgut. Aber alles aus Glas wurde teurer, um bis zu 30 Prozent. Die meisten Kunden haben aber Verständnis, wenn ich es erkläre. Wir machen die Preise ja nicht selbst.

Kundschaft kommt, die Arbeit ruft, Inge Bösel verabschiedet sich.

ZEIT: Frau Steinbrenner, wer macht die Preise, wenn nicht Sie?

Steinbrenner: Wir können alle Preise händisch ändern. Meistens haben wir unverbindliche Preisempfehlungen. Wenn Erhöhungen beim Hersteller anfallen, passen wir die Preise bei uns an.

ZEIT: Profitieren die Produzenten von der Krise?

Steinbrenner: Es gibt bestimmt einige, die diese Situation ausnutzen. Aber auch die Produzenten kämpfen – teilweise sind die Rohmaterialien um ein Vielfaches teurer geworden.

ZEIT: Verdienen Sie nicht auch an der hohen Inflation? Etwa wenn Sie Waren teurer verkaufen, die Sie bereits im Vorjahr eingekauft haben?

Steinbrenner: Dass wir noch Ware auf Lager hatten, wirkte sich kurz positiv aus. Das hat sich aber schnell wieder ausgeglichen: Da die Produkte beim Nachkaufen auch für uns teurer wurden und alle Kosten stiegen, wird das aktuelle Gewinnergebnis nicht das beste werden. Genau wie bei Corona sind wir die Verlierer der Inflation.

Die Rolltreppe hinunter, hinein in das Herz des Kaufhauses: die Abteilung für teurere Accessoires. Zarte Goldkettchen und Ringe liegen in Vitrinen aus. An der Wand hängen schlichte, pastellfarbene Handtaschen.

ZEIT: Luxus ist ja offenbar trotz Inflation gefragt: Prada konnte seine Europa-Absätze im ersten Halbjahr 2022 um 89 Prozent erhöhen. Läuft es hier auch so gut?

Steinbrenner: Beim High-End-Luxus ja. Bei Mainstream-Ware, etwa einer Handtasche für 100 bis 150 Euro, ist es schwieriger. Bei einem großen Teil unserer Kunden schlägt die aktuelle Situation stärker zu als bei anderen.

"Kurzwaren sind unsere DNA"

ZEIT: Wäre es eine Lösung, teurere Marken aufzunehmen, um auf Reichere zu setzen?

Steinbrenner: Nein. Wir sind ein Kaufhaus für alle. Wir haben hier eine Versorgungsfunktion. Natürlich müssen wir uns weiterentwickeln und auch mal neue Dinge ausprobieren. Oft ist es aber Bewährtes, das plötzlich schwächere Bereiche ausgleicht.

ZEIT: Zum Beispiel?

Steinbrenner: Aktuell verkaufen wir sehr erfolgreich Koffer und Reisegepäck. Die Kunden berichten mir: Sie verzichten auf so ziemlich alles, aber sie reisen weiter, flüchten in eine heile Welt. Es gibt weitere Boom-Abteilungen, ich zeige Ihnen eine.

Steinbrenner schreitet voran – und wird gestoppt. Eine kleine Schlange hat sich vor einer Kasse inmitten von Wolle, Garn und Bastelbedarf gebildet. Die Verkäuferin fehlt. "Ich muss schnell", sagt Steinbrenner und übernimmt die Kasse. Biep, biep, Lächeln, fertig.

ZEIT: Haben Sie zu wenig Personal, Frau Steinbrenner?

Steinbrenner: Wir haben 52 Mitarbeiter, während Corona haben auch wir Personal verloren. Und es wird immer schwieriger, neue Leute zu kriegen.

ZEIT: Wie wollen Sie das lösen?

Steinbrenner: Meine Mitarbeiter sind meine zweite Familie, und natürlich verdienen sie im Einzelhandel nicht so viel wie in anderen Branchen. Wir haben trotz der gestiegenen Kosten die Gehälter angepasst. Vorher lagen sie im Schnitt bei 2250 Euro, heute 150 Euro höher. Ich versuche die Mitarbeiter aber auch zu fördern, ihnen Freiheiten zu geben und ihre Arbeit wertzuschätzen. Ohne sie wäre auch ich nicht erfolgreich.

ZEIT: Und bis dahin springen Sie ein?

Steinbrenner: Klar, das lag auch an der Abteilung, die ist wichtig. Kurzwaren sind unsere DNA. Das hat letztens eine Befragung bestätigt. Alles, was wärmt, Wäsche oder Socken, läuft gerade auch. Das liegt an der Angst der Menschen vor einem kalten Winter, die in anderen Bereichen für Flaute im Verkauf sorgt. Aber auch schon vorher haben wir von Textilien gelebt, besonders Damenkleidung und -wäsche bringen Geld ein. Ach, hallo, Brigitte!

Die Stammkundin Brigitte Spyrka, 64, grüßt freundlich. Sie ist gekommen, um neue Socken zu kaufen. "Meine Eltern und Großeltern waren hier schon Stammkunden", erzählt sie.

Steinbrenner: 70 Prozent unseres Umsatzes machen wir durch Stammkunden mit Kundenkarte. Das sind 23.000 Menschen, halb Bensheim. Auch wenn alles schlechter läuft – durch sie geht es uns verhältnismäßig gut.

ZEIT: Kommen Sie mit diesem Kundenstamm sicher durch die Krise?

Steinbrenner: Nur wenn die Kunden bleiben. Bald bringen wir eine App heraus, damit wir noch mehr Menschen ansprechen. Die kann als Ersatz für die Kundenkarte benutzt werden – und wir können mit ihr personalisierte Werbung ausspielen.

ZEIT: Wie gewinnt man heute neue Kunden?

Steinbrenner: Wir setzen auf Events und auf Marken für junge Leute, machen bei Stadtaktionen mit und entwickeln beispielsweise gemeinsam mit Studenten neue Konzepte für den Eingangsbereich.

ZEIT: Greifen Ihre Strategien?

Steinbrenner: Die Kundenkarten werden mehr. Insgesamt muss der Einzelhandel die Krisen aber geeint stemmen: Ich setze mich dafür ein, dass er mehr Unterstützung von der Politik bekommt.

"Die Zukunft wird gut"

ZEIT: Sie sitzen neben großen Handels-CEOs in einem Beratergremium des Bundeswirtschaftsministeriums, engagieren sich in Verbänden.

Steinbrenner: Ich kämpfe für das, was ich liebe, auch wenn meine Arbeitswoche dadurch noch länger wird. Es ist wichtig, aus der Praxis zu berichten, die Probleme und Herausforderungen zu benennen.

ZEIT: Mit Erfolg?

Steinbrenner: Die Politik hat uns oft überraschend gut zugehört, etwa bei den Corona-Hilfen. Momentan klappt das noch nicht so gut. Trotzdem glaub ich: Der Einzelhandel hat noch viel vor.

ZEIT: Dafür muss er die Krisen überleben – und gegen Online-Händler bestehen. Glauben Sie wirklich, dass Sie gegen Amazon und Co. ankommen?

Steinbrenner: Wir haben selbst zwei Online-Shops. Allein damit können wir den großen Rivalen zwar nichts entgegensetzen, mit der Kombination aus Online und Handel vor Ort jedoch schon. Einen der Shops haben wir bei Zalando eingerichtet, da wird fleißig online bestellt. Wichtiger ist unser eigener: Hier sehen die Kunden im Netz, was es gibt – und kommen dann vorbei, um sich beim Kauf beraten zu lassen.

Auf dem Weg zum Ausgang, ein Abstecher zu Anna Sophie, 24. Sie betreut die Kaufhaus-Instagram-Seite. "Die Zukunft wird gut", glaubt sie. "Trotz Krise sehen immer mehr junge und alte Leute Waren – und seien es nur Handtücher – auf Insta und kommen gezielt vorbei."

ZEIT: Sorgen Sie sich darum, dass die Fußgängerzone und die Innenstadt nach all den Krisen weniger belebt sind oder gar aussterben?

Steinbrenner: Während der Lockdowns hatten wir uns große Sorgen gemacht, ob die Leute in die Einkaufsstraßen zurückkehren. Seither engagieren wir uns, auch gemeinsam mit dem Land und der Stadt, gezielt in die Zentren zu investieren. Die Angst war aber vorerst unbegründet: Die Menschen sind ja wieder in die Innenstädte zurückgekommen.

ZEIT: Und Sie glauben, das wird auch in Zukunft so sein?

Steinbrenner: Auf jeden Fall! Die Leute kommen und sind gerne hier.

ZEIT: Aber sie kaufen weniger.

Steinbrenner: Das stimmt. Dafür, dass sie in der Innenstadt nicht nur spazieren gehen, sondern auch Geld ausgeben, müssen wir stärker kämpfen denn je.

ZEIT: In Zeiten steigender Preise könnten die Menschen entscheiden: Ich kaufe nicht, wo es schön ist, sondern wo es günstig ist.

Steinbrenner: Das ist doch keine Entweder-oder-Entscheidung. Die Leute wollen alles: billig im Netz, schön vor Ort, am besten billig und schön überall. Ich bin mir sicher: Der Markt ist groß genug für Kaufhäuser und Amazon, trotz aller Probleme.

ZEIT: Was machen Sie, falls sich die Welt und der Handel irgendwann beruhigen?

Steinbrenner: Kräftig in meine Mitarbeiter investieren, der Fachkräftemangel wird Dauerkrise bleiben. Das Vordach endlich loswerden. Und ein großes Fest feiern.