Die Menschen im Westen Deutschlands sind immer stärker von Armut bedroht. Die sogenannte Armutsgefährdungsquote ist zwischen 2009 und 2019 in allen alten Bundesländern und in Berlin gestiegen.
Der Osten ist hingegen immer weniger gefährdet.
Woran liegt das?
Die Frage beantworten der Armutsforscher Professor Christoph Butterwegge, der bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln lehrte und der Arbeitsexperte Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), auf BILD-Anfrage.
Gefährdung in Bremen, Hessen und NRW besonders stark gestiegen
Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen: In Bremen hat sich der Anteil der von Armut bedrohten Menschen am stärksten erhöht. 2019 war hier fast ein Viertel (24,9 Prozent) der Bevölkerung armutsgefährdet – mehr als in jedem anderen Bundesland. 2009 hatte der Anteil der armutsgefährdeten Personen in Bremen noch gut ein Fünftel (20,1 Prozent) betragen.
Auch in Hessen (2019: 16,1 Prozent, 2009: 12,4 Prozent) und Nordrhein-Westfalen (2019: 18,5 Prozent, 2009: 15,2 Prozent) ist das Risiko, von Einkommensarmut bedroht zu sein, seit 2009 vergleichsweise stark gestiegen!
► Der Grund laut Experte Schröder vom IW: „In allen drei Ländern ist die Einkommensentwicklung unterdurchschnittlich.“ Gemessen am Landesmedian ist die Quote zwischen 2009 und 2019 in Bremen um 2,6, in Hessen um 2,2 und in NRW um 2,1 Prozentpunkte gestiegen und damit nicht viel stärker als im Durchschnitt der westdeutschen Länder.
Osten immer weniger von Armut gefährdet
In den östlichen Bundesländern, mit Ausnahme von Berlin, ist die Armutsgefährdungsquote im Zehnjahres-Vergleich währenddessen zurückgegangen. 2019 waren in Berlin 19,3 Prozent der Personen von Armut bedroht, 2009 waren es 19,0 Prozent.
Den bundesweit stärksten Rückgang verzeichnete Mecklenburg-Vorpommern, und zwar von 23,1 Prozent im Jahr 2009 auf 19,4 Prozent im Jahr 2019.
► Wichtig ist jedoch laut Schröder: „Im Durchschnitt ist die Armutsgefährdung in den westlichen Bundesländern noch immer niedriger als in den ostdeutschen.“
Warum nahm die Bedrohung im Osten ab?
„In den ostdeutschen Bundesländern hat die Armutsgefährdung deshalb abgenommen, weil sich die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns am 1. Januar 2015 positiv ausgewirkt hat“, sagt Professor Butterwegge.
Im Osten seien extreme Niedriglöhne vorher selbst in tarifgebundenen Branchen (zum Beispiel dem Friseurhandwerk) an der Tagesordnung gewesen.
„Dagegen haben sich prekäre Beschäftigungsverhältnisse in westlichen Bundesländern trotz der lang andauernden Hochkonjunktur ausgebreitet“, sagt Butterwegge. Dies gelte besonders für Regionen wie das Ruhrgebiet („heute das Armenhaus der Republik“), die von Deindustrialisierungsprozessen betroffen und vom wirtschaftlichen Strukturwandel gebeutelt sind.
Die Einkommen haben sich im Osten besser entwickelt als im Westen. Zudem ist in Ostdeutschland die Arbeitslosenquote stärker gefallen als in Westdeutschland.
Im Juni erschien Butterwegges Buch „Die zerrissene Republik: Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland“ im Verlag Beltz Juventa (24,99 Euro).
Was genau sagt die Armutsgefährdungsquote überhaupt aus?
Es gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat: Die Armutsgefährdungsquote ist somit ein Maß dafür, wie viel Prozent der Bevölkerung mit ihrem Einkommen weit von einem mittleren Einkommen entfernt sind.
Bei den Daten ist jedoch zu beachten, dass der Schwellenwert für Armut laut Mikrozensus in den zurückliegenden 10 Jahren um 34 Prozent gestiegen ist. Unter Berücksichtigung der gestiegenen Preise der Lebenshaltung bleibt noch immer ein reales Plus von über 17 Prozent.
► Schröder vom IW erklärt: „Jemand, dessen Einkommen also genau dem Schwellenwert für Einkommensarmut entspricht, kann sich also heute ein Sechstel mehr Güter kaufen als vor 10 Jahren.“
Menschen mit Migrationshintergrund gefährdeter
Ein Vergleich der Armutsgefährdungsquote nach Migrationshintergrund zeigt: Bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund war die Quote 2019 genauso hoch wie 2009 (11,7 Prozent). Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund beträgt der Anstieg 1,2 Prozentpunkte auf 27,8 Prozent. Der Anstieg bei der Gesamtbevölkerung beträgt in Deutschland dagegen 1,3 Prozentpunkte – also etwas mehr.
„Dies ist im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass Integration Zeit benötigt und die stark gestiegene Zahl der Menschen mit Migrationshintergrund zunächst zu einem Anstieg der Quote geführt hat“, sagt Schröder. Im Westen dürfte dieser Effekt stärker sein als im Osten, was somit eine weitere Erklärung für das Auseinanderlaufen der Quoten liefere.
Wie wird sich die Lage in den nächsten Jahren entwickeln?
Butterwegge zeichnet ein düsteres Bild: „Wenn die politisch Verantwortlichen nicht gegensteuern, wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen.“ Wegen der Corona-Pandemie, des Shutdowns der Wirtschaft und einer verteilungspolitischen Schieflage der Hilfemaßnahmen des Staates seien die Reichen reicher und die Armen zahlreicher geworden.
Schröder macht die Corona-bedingte Rezession ebenfalls Sorgen. Diese werde die Arbeitslosigkeit erhöhen. „Daher ist es wahrscheinlich, dass auch die Armutsgefährdungsquote steigt.“
Betroffen seien von der Krise auch mittlere Einkommen, sodass der Schwellenwert für Einkommensarmut zurückgehen könnte. „Das könnte den Anstieg der Quote dämpfen.“
Was muss sich politisch ändern?
Brutterwegges klare Forderung: „Nötig wären ein deutlich erhöhter Mindestlohn (12 Euro im ersten Schritt), eine Umwandlung der Mini- und Midijobs in versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, ein Verbot der Leiharbeit und der Werkverträge (nicht nur in der Fleischindustrie) und höhere Transferleistungen bei Hartz IV sowie der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung.“ Die Grundrente werde das Problem der Altersarmut nicht lösen.
Laut Schröder sind vor allem Maßnahmen wichtig, „welche die Startchancen-Gerechtigkeit fördern, die Bildung verbessern, die Integration stärken und die Arbeitsmarktbeteiligung erhöhen.“
Wohnen sollte erschwinglicher werden, Mittel der Regionalpolitik für personenbezogene Maßnahmen genutzt und Regionen innovationsorientiert gefördert werden.
So können Sie sich vor Armut schützen
„Aus der Erfahrung in der Vergangenheit wissen wir, dass Hochqualifizierte selbst in wirtschaftlich schwierigen Zeiten eher selten arbeitslos sind“, sagt Arbeitsmarkt-Ökonom Holger Schäfer vom IW auf BILD-Anfrage.
Das Problem: Qualifikation sei zwar ein Faktor, „aber natürlich auch keine Garantie. Technischer Fortschritt und Strukturwandel können Qualifikationen entwerten.“ Dann müsse man sich anders orientieren. „Insofern wäre vielleicht Flexibilität – berufsfachlich und örtlich – auch ein wirksamer Schutz gegen drohende Arbeitslosigkeit.“
► Butterwegge zieht jedoch ein ernüchterndes Fazit: „Arbeitslosigkeit und Armut können Menschen individuell häufig nicht verhindern. Dazu bedarf es struktureller Veränderungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat.“
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