Immer mehr Fehltage im Job werden durch psychische Erkrankungen verursacht. Das liegt vor allem daran, dass der Berufsalltag vieler Menschen belastender geworden ist, sagt Arbeitspsychologin Dr. Christien Zedler. Im GQ-Interview erklärt sie, wie Arbeitnehmer und Arbeitgeber gegensteuern können - und dafür sorgen, dass aus dem Büro ein Glücksort wird.
Die mentale Gesundheit von Beschäftigten ist eines der großen Themen in der Arbeitswelt. Laut der europäischen Kommission waren 2016 allein in der EU fast 84 Millionen Menschen von psychischen Problemen betroffen. Das ist jeder Sechste! Manchmal ist ihr Leid so groß, dass sie das Haus nicht mehr verlassen. Andere können die Beschwerden verhältnismäßig schnell überwinden, wenn sie sich psychologische Hilfe suchen. Eines haben jedoch viele von ihnen gemeinsam: Der Auslöser besteht oft in belastenden Arbeitsbedingungen. (Lesen Sie auch: Jungpolitikerin Noreen Thiel: "Es sollte im Job und in der Politik normal sein, zu sagen: Ich habe Depressionen")
Mental Health: Psychische Leiden verursachen auch hohe wirtschaftliche SchädenVonseiten der Vorgesetzten bekommen Betroffene nicht immer die nötige Unterstützung. Dabei leiden nicht nur die Arbeitnehmer unter den Folgen mentaler Probleme. Die Fehltage der Mitarbeiter mit psychischen Erkrankungen kosten die Wirtschaft extrem viel Geld: Die dadurch verursachten Produktionsausfälle lagen laut der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin allein im Jahr 2019 bei 14,4 Milliarden Euro. Die Brutto-Wertschöpfung brach durch die Krankschreibungen um 24,5 Milliarden Euro ein: 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens. Insgesamt liegen die Krankheitsosten für psychische Leiden laut dem Statistischen Bundesamt bei 13,1 Prozent und 44,4 Milliarden Euro im Jahr.
Wie dieser Mental-Health-Katastrophe entgegengewirkt werden kann - und wodurch sie befeuert wird - erklärt Dr. Christien Zedler im Interview mit GQ. Die Psychologin und Wirtschaftswissenschaftlerin leitet das Institut für Arbeitspsychologie, Organisation und Prozessgestaltung (IAOP) in Berlin. Als Beraterin kennt sie das Thema mentale Gesundheit aus der Praxis: Sie sah zahlreiche Firmen von innen und sprach mit unzähligen Beschäftigten. (Lesenswert: Kein Stress mehr: Diese 5 Strategien bewahren Sie vor Burnout)
GQ: Laut einer Studie der DAK ist die Anzahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen zwischen 1997 und 2019 um 239 Prozent gestiegen. Und das trotz weitgehend rückläufiger Krankenstände. Wird unsere Psyche immer kränker?
Christien Zedler: Die psychischen Belastungen in der Arbeitswelt haben zweifellos zugenommen, wodurch auch mehr Berufstätige mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Der Grund dafür ist meist ihre Arbeitssituation. Die Schlüsselwörter in diesem Zusammenhang heißen: Arbeitsverdichtung und Effizienzerhöhung. Weniger Arbeitskräfte müssen mehr Arbeit leisten - und das in so gut wie allen Branchen. Stress und Druck steigen. Außerdem müssen viele ihre Arbeitsleistung stärker rechtfertigen, zum Beispiel durch messbare Leistungsindikatoren oder umfassende Dokumentation. Bei dauerhafter Überlastung kann das auf lange Sicht zu psychischen Erkrankungen führen. Diese stressigere Arbeitskultur führt dazu, dass Menschen mit mentalen Problemen oft einfach gezwungen sind, sich krank zu melden: Während betroffene Kollegen früher oft eine Zeit lang mitgetragen werden konnten und etwa mehr Pausen oder weniger Aufgaben bekamen, sind anderen Kollegen heute einfach selbst belastet genug.
Eine weitere Erklärung für die höherer Zahl der entsprechenden Arbeitsausfälle könnte aber auch lauten: Die Menschen benennen mentale Probleme häufiger als solche. Ist da was dran?Eine solche positive Entwicklung ist tatsächlich zu beobachten - und wirkt sich auch auf die Statistiken aus. Die Diagnosen für psychische Erkrankungen werden akzeptierter, differenzierter und damit auch häufiger gestellt. Viele Hausärzte sind für eine mögliche psychische Erkrankung heute besser sensibilisiert als noch vor 20 oder 30 Jahren. Die Behandlungsmöglichkeiten durch Psychotherapeuten sind besser. Wer heute zum Therapeuten geht oder einen Aufenthalt in einer Klinik für psychische Beschwerden hat, gilt nicht mehr gleich als "geistesgestört", "in der Irrenanstalt" oder bei Männern als "unmännlicher Schwächling". Und trotz allem ist ein wichtiger Grund für die höheren Arbeitsausfall-Zahlen, dass unsere aktuelle Arbeitswelt viele krank macht.
Sie sprechen unsere Arbeitswelt an. Ist die aus psychologischer Sicht eine Fehlkonstruktion?Für einige Menschen mag das derzeitige System gut funktionieren. Der Berufsalltag vieler Menschen im Dienstleistungssektor ist jedoch so konzipiert, dass er auf längere Sicht zu psychischen Beschwerden führen kann. So ist die Präsenzkultur, wie sie in vielen Betrieben vorherrscht, für viele Mitarbeiter ein Belastungsfaktor, wenn gleichzeitig nicht auf die Einhaltung von Arbeitszeitgrenzen geachtet wird. Es ist oft gewünscht, dass Arbeitnehmer viel vor Ort sind - selbst wenn das den Ertrag ihrer Arbeit nicht zwingend steigert. So werden oft noch immer diejenigen in Führungspositionen befördert, die einfach physisch und auch zu Randzeiten im Unternehmen sichtbar anwesend sind. In Start-ups ist oft Teil des Deals, dass man auch über längere Zeit mal 60 Wochenstunden vor Ort ist - und wenn überhaupt mit Obstschale, Kickertisch oder hippen Getränken belohnt wird. Gleichzeitig gibt es auch noch Belastungsfaktoren außerhalb des Jobs. So arbeiten mittlerweile viele Eltern in Vollzeit, müssen aber gleichzeitig für die Kinderbetreuung sorgen und werden zuhause gebraucht. Wo dieser Spagat besonders schwierig zu leisten ist, kommt es zu erheblichen psychischen Belastungen, die früher oder später zu gesundheitlichen Problemen führen können. (Lesen Sie auch: Stress besser abbauen: Die 4 besten Anti-Stress-Tipps für mehr Gelassenheit)
Wer sich seine Arbeit völlig frei einteilen kann, ist oft ebenfalls unglücklich.Menschen, die zuhause oder in Gleitzeit arbeiten, haben oft ähnliche Probleme wie Nine-to-Five-Angestellte im Büro mit vielen Überstunden. Welche der beiden Arbeitsformen mir besser bekommt, hängt von meiner Mentalität ab. Eines ist jedoch bei allen wichtig: Die Arbeitszeit sollte in irgendeiner Form begrenzt sein. Am besten sollte es eine klare Struktur geben - und irgendwann sollte auch Feierabend sein. Bei den meisten verschwimmen Arbeit und Freizeit jedoch immer mehr miteinander. E-Mails werden auch noch nachts im Bett abgerufen oder sogar beantwortet, es kommt zur Entgrenzung, man kann nicht mehr gut abschalten. Dauerstress hat ungesunde körperliche und psychische Folgen, da ist sich die Wissenschaft einig.
Viele Menschen sagen, dass sie ihr Glück aus dem Beruf ziehen. Der Job als Therapie: Kann dieses Konzept funktionieren? Oder redet man sich das ein?Der richtige Beruf kann definitiv einen erheblichen Beitrag zum Lebensglück leisten. Der Mensch hat einige Grundbedürfnisse. Zu ihnen zählen laut den Psychologen Edward Deci und Richard M. Ryan Autonomie, soziale Eingebundenheit und Kompetenzerleben. All das kann ich im Berufsleben leichter erlangen als als Arbeitsloser im Privatleben. Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen ohne Erwerbs-, Care- oder ehrenamtliche Arbeit oft in eine Art passiver Resignation verfallen. Sowohl extreme Belastungen als auch Unterforderung können zu Problemen führen - die richtige Balance sorgt für Glück und Menschen mit gesunder Psyche.
"Die eigenen Träume und Wünsche zu ignorieren ist wie eine Anleitung zum Unglücklichsein"
Und wie finde ich zu dieser Balance, die zu Glück und mentaler Gesundheit führen soll?Der erste entscheidende Schritt ist - wenig überraschend - bereits die Wahl unseres Berufs. Glücklich ist zum Beispiel oft, wer eine Tätigkeit findet, bei der die eigenen Fähigkeiten und das Anforderungsniveau der Arbeit perfekt zusammenpassen. Ist das der Fall, kann es sein, dass wir völlig in unserer Tätigkeit aufgehen. Dieser Zustand wird Flow-Erlebnis genannt. Solche Arbeit fördert dann unsere Persönlichkeit und die Chancen stehen gut, dass wir wir besser vor mentalen Problemen geschützt sind. In der Arbeitspsychologie wird bei Tätigkeitsanalysen beispielsweise danach unterschieden, wie anforderungsreich eine Tätigkeit ist, also ob man zum Beispiel sich selbständig Ziele oder Teilziele setzen kann, die Handlungen selbst vorbereiten und durchführen beziehungsweise entsprechende Hilfsmittel selbst auswählen kann. Besonders zufrieden machen oft Tätigkeiten, die intellektuell anforderungsreich sind, bei denen wir selbst Pläne entwerfen sowie ausführen können und bei denen es viele unterschiedliche Teilaufgaben zu erledigen gibt.
Mindestens genauso wichtig ist aber auch das soziale Umfeld in der Arbeit, also ob ich mich gut eingebunden fühle in den Kreis der Kollegen und ob ich mit meinem Vorgesetzten zurecht komme. Im Übrigen ist es auch völlig in Ordnung, Sicherheit erstmal wichtiger zu finden, als Dauerspaß im Job - und dafür dann für diesen Dauerspaß voll in der Freizeit aufzugehen. Es hilft außerdem enorm, nicht nur die Erwartungen anderer zu erfüllen, zum Beispiel der Eltern, die sich vielleicht erträumen, dass man Arzt oder Rechtsanwalt wird, obwohl man am liebsten Goldschmied wäre. Nur nach den Erwartungen der anderen zu gehen und die eigenen Träume und Wünsche zu ignorieren ist wie eine Anleitung zum Unglücklichsein.
Viele arbeiten allerdings bereits in einem Beruf, der sie unglücklich oder gar krank macht. Wie können diese Menschen vorgehen?Im Laufe des Berufslebens hilft es, einen guten Zugang zu sich selbst zu haben und zu merken, wann man unzufrieden oder unglücklich mit dem Job ist. Die wichtigste Frage lautet: Handelt es sich um einen temporären Zustand oder eine grundlegende Erschöpfung? Deshalb sollte ich nicht einfach impulsiv kündigen, sondern meine Tätigkeit vielleicht mal über längere Zeit beobachten. Ich wünsche mir im Sommer etwas anderes als im Winter, bildlich gesprochen. Präferenzen wechseln. Ein Rundum-sorglos-Paket gibt es nicht. Über mehrere Wochen - etwa in Abgabephasen - gestresst zu sein, ist völlig in Ordnung. Aber wenn Probleme über einen längeren Zeitraum auftreten, sollte ich vielleicht etwas grundlegend ändern.
Oft entpuppen sich Jobs erst nach mehreren Jahren als subjektiv ungesund. Viele Menschen haben nach dem Studium einen Hunger auf ein besonders spannendes Berufsleben. Sie wollen zum Beispiel Consultant werden, leben einige Zeit ein Leben zwischen Fünf-Sterne-Hotel, Flughafen und nächtlichen Büro-Sessions. Irgendwann merken sie dann, dass sie der Job erschöpft, dass sie auf diese Art von Berufsleben keine Lust mehr haben, dass es sie unglücklich oder gar krank macht - und sie eigentlich mehr Sicherheit, Freizeit, Ruhe und Planbarkeit brauchen. Sie suchen sich dann einen bodenständigeren Job und schon geht es ihnen besser. (Lesen Sie auch: Mental Health Day - darf man einfach zu Hause bleiben, wenn es einem psychisch nicht gut geht?)
In vielen Fällen bleibt also nur der Jobwechsel. Wie schaffe ich es, dass ein solcher nicht zur zusätzlichen Belastung wird?Wichtig ist, mir zuerst Einblick in ein berufliches Alternativszenario zu verschaffen. Beispielsweise Praktika oder ein Sabbatical können einem zeigen, wie die Arbeit und das Leben anderswo aussieht. Damit vermeide ich, vom Regen in die Traufe zu kommen. Wenn ich beispielsweise vom Journalisten zum Pressesprecher werde, heißt das nicht zwingend, dass mein Arbeitsalltag ruhiger wird. Möglicherweise muss ich noch viel härter arbeiten, immer erreichbar sein und trage mehr Verantwortung. Um dem auszuweichen, muss ich mir ein Bild davon machen, was bei verschiedenen Tätigkeiten auf mich zukommt.
"Irgendwann geben sich Mitarbeiter nicht mehr mit dem Obstteller oder Tischkicker im Büro zufrieden"
Das klingt, als wäre es eine glückliche Ausnahme, wenn meine Gesundheit auf der Arbeit ernst genommen wird. Eigentlich müsste doch mein Arbeitgeber dafür sorgen, dass meine Psyche nicht unter dem Job leidet.Zu der Grundverantwortung durch den Arbeitgeber gehört tatsächlich eine sogenannte psychische Gefährdungsbeurteilung. Diese ist im Arbeitschutzgesetz festgelegt. Dabei muss festgestellt werden, welche psychischen Belastungsfaktoren mit einer bestimmten Tätigkeit einhergehen und damit zu einer psychischen Gefährdung führen können.
Gesündere Mitarbeiter würden auch den Arbeitgebern zugutekommen: So viele der anfangs besprochenen Mitarbeiterausfälle würden wegfallen, Fluktuation könnte vermieden werden. Ein funktionierendes System der psychischen Gefährdungsbeurteilung könnte dabei helfen, neue Mitarbeiter anzuziehen, vor allem in Berufen, die für ihre hohen psychischen Belastungsfaktoren bekannt sind, etwa in der Pflege. Manchmal sind die Lösungen auch leicht und naheliegend: In meiner Rolle als Beraterin schlug ich einer Firma einmal ein etwas anderes Schichtmodell und eine systematische Stellvertreterregelung vor. Beides zusammen verbesserte zielgerichtet einen aus Mitarbeitersicht bestehenden Hauptbelastungsfaktor. (Auch interessant: Mental Health Day: So nutzen Sie die Auszeit richtig)
Wo liegt dann das Problem? Bisher scheint es den Arbeitgebern ja nicht ausreichend zu gelingen, psychische Erkrankungen ihrer Mitarbeiter zu verhindern.In vielen Betrieben wird das Thema einfach ignoriert. Es gibt selbst in jeder Verwaltungsbehörde einen Beauftragten für diese Thematik - der leider oft unzureichend für das Thema psychische Belastungen ausgebildet ist. Außerdem müsste man den Mitarbeitern zuhören. Hier scheitern jedoch einige Arbeitgeber. Von mancher Führungskraft höre ich den Satz: "Die Mitarbeiter jammern ja immer. Das gehört zum Grundrauschen." Dann brauchen sie sich aber auch nicht wundern, wenn die sich irgendwann nicht mehr mit Obstteller und Tischkicker im Büro zufrieden geben - und fordern, dass ihre Psyche endlich ausreichend geschützt wird.
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