Felix Leitmeyer

Journalist | Journalistenschüler an der ems (rbb-getragen)

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Bundestagskandidatin Noreen Thiel: “Es sollte im Job und in der Politik normal sein, zu sagen: Ich habe Depressionen”

Die Politikerin Noreen Thiel (18) träumt von einer Welt, in der sich niemand mehr gezwungen fühlt, psychische Probleme zu verstecken: Als Bundestags-Direktkandidatin der FDP Berlin-Lichtenberg kämpft sie dafür, dass mentale Gesundheit in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik kein Tabuthema mehr ist.

"Probier's doch. Du musst doch nur dasitzen." Diese Antwort bekam Noreen Thiel von ihrer ehemaligen Lehrerin, als sie sich zu Schulzeiten morgens krankmelden wollte. Dabei plagte sie nicht etwa ein Schnupfen oder eine leichte Erkältung. "Es war das erste Mal, dass ich gesagt habe: 'Ich habe eine depressive Episode, ich kann nicht'", sagt Thiel. Es sei ihr so schlecht gegangen, dass sie nicht einmal das Bett habe verlassen können.

"Es kann nicht sein, dass man in einem so weit entwickelten Land diffamiert, abgestempelt und abgetan wird, nur weil man psychisch krank ist"

Das fehlende Verständnis der Lehrerin verwundert Thiel noch heute. Schließlich sind psychische Erkrankungen alles andere als selten! Das verdeutlicht eine Studie der EU-Kommission und der WHO: Im Jahr 2016 litt etwa jeder Sechste in der Europäischen Union (17,3 Prozent) unter mentalen Problemen. Der Anteil in Deutschland war mit 18 Prozent überdurchschnittlich hoch. Im Corona-Jahr 2020 reichte die EU nach, dass Stress-Symptome, Angstzustände und Depressionen nachweislich zugenommen hätten.

Thiel hat es geschafft: Mittlerweile gehe es ihr sehr gut, sagt sie. Sie brauche keine Behandlung mehr. Die befremdlichen Reaktionen auf ihre Krankheit, wie die ihrer Lehrerin, haben sie geprägt. Doch aus derlei Erfahrungen schöpft sie auch Kraft: "Ich möchte als Politikerin dafür kämpfen, dass es andere Betroffene leichter haben - und sich vor allem leichter Hilfe suchen können." Es könne nicht sein, "dass man in einem so weit entwickelten Land diffamiert, abgestempelt und abgetan wird, nur weil man psychisch krank ist."

Dieses Anliegen ist eines ihrer Wahlkampfthemen - neben Digitalisierung, Bildung und Aufstiegschancen. Mit diesen tritt sie für die FDP im Berliner Stadtteil Lichtenberg als Direktkandidatin für den Bundestag an.

Nach Kritik an ihrer Kandidatur bildete sich eine "Twitter-Brandmauer"

Sich mit 18 Jahren um einen Sitz im Parlament zu bewerben, ist außergewöhnlich. Doch ihre Partei ist überzeugt von ihr: So musste sie sich nicht einmal um die Kandidatur bewerben. Sie wurde ihr angetragen. Eine Woche später hielt sie bereits eine Antrittsrede - und wurde zur Kandidatin gewählt.

"Ich arbeite tatsächlich einfach sehr gerne", erwidert Thiel auf die Frage, wie sie das geschafft hat. Am Morgen vor dem GQ-Gespräch war sie in der Uni, danach arbeiten und abends Gast bei einer Diskussionsveranstaltung: ein "eher ruhiger Tag" für ihre Verhältnisse. Schon als Schülerin engagierte sie sich bei den Jungen Liberalen (JuLis), steckte jede freie Minute in die Parteiarbeit. Nach ihrem Abitur zog Thiel von Cottbus nach Berlin. Dort studiert sie Marketingkommunikation an einer Privatuniversität - und ist trotz ihres Alters nicht mehr aus der Berliner Politikszene wegzudenken.

Das liegt nicht nur daran, dass sie zwei Jobs bei der FDP im Bundestag hat: im Social-Media-Bereich und im Büro eines Abgeordneten. In den sozialen Medien hat sie sich einen Namen gemacht. "Gerade über Twitter habe ich meinen Weg der Kommunikation gefunden", sagt sie. Hier setzt sie Themen, die ihr wichtig sind. Sie stößt Debatten an, bekommt Rücken-, aber auch heftigen Gegenwind.

"Meine positivste Erfahrung als junge Politikerin im Netz war die Aufstellung als Direktkandidatin", sagt die Politikerin. Auch wenn viele pauschal gegen die Kandidatur gewesen seien, weil sie Thiel zu jung oder unerfahren fanden, stellt sie fest: "Es gab viel mehr Menschen, die mich unterstützt und verteidigt haben - aus den verschiedensten politischen Richtungen." Eine solche "Twitter-Brandmauer" wünsche sich Thiel auch in anderen Situationen.

So will Thiel das Tabu um psychische Krankheiten loswerden

Trotz all der Veränderung in Thiels Leben: Ihr Herzensthema ist noch immer die mentale Gesundheit. Sie weiß: Nicht nur in der Schule müssen Menschen mit psychischen Erkrankungen gegen Widerstände ankämpfen. "Das gleiche Problem gibt es im Job oder anderen gesellschaftlichen Bereichen. Ich wünsche mir dahingehend einen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel!" Das Problem sei, dass viele Menschen einfach zu wenig über psychische Krankheiten wüssten und deshalb nicht genügend Verständnis aufbringen könnten.

Hier möchte Thiel ihre Position als Politikerin nutzen - und hat einige Ideen: So wünscht sie sich unter anderem, dass der Staat Firmen dabei unterstützt, entsprechende Schulungen für alle Mitarbeiter durchzuführen. So könne jeder "Anzeichen einer Depression oder einer anderen psychischen Erkrankung erkennen" - bei sich selbst und anderen. Vielen falle es schwer, selbst nach Hilfe zu fragen - oder sie würden nicht ernst genommen. So sei es noch immer nicht normal, sich wegen einer depressiven Episode krankzumelden: "Jeder hat einmal negative Erfahrungen damit gemacht", meint Thiel.

Ein weiteres Ziel: "Ich fordere eine bundesweite politische Aufklärungskampagne für mentale Gesundheit, ähnlich wie es eine zur Organspende gab." Außerdem sei es wichtig, dass betroffene Menschen des öffentlichen Lebens darüber sprechen, dass sie psychisch erkrankt sind.

Und auch an der Psychologie-Ausbildung würde sie einiges ändern: Der verlangte Abi-Durchschnitt zum Antritt des Studiums sei zu hoch. Das befeuere den Mangel an Therapeuten. Außerdem müsse es mehr Praxisteile im Studium geben. Außerdem sei der Verteilungsschlüssel, der festlegt, wie viele Psychologen gebraucht werden, veraltet.

Politisiert wurde Thiel durch die Schule - und Billie Eilish

Mentale Gesundheit war jedoch nicht das Thema, das Thiel erstmals politisiert hat. Mit 14 Jahren begann sie, sich ausführlich mit dem Bildungs- und Schulsystem auseinanderzusetzen. Ihre Hauptkritik: Der Stand der Digitalisierung an den Schulen. Rückblickend sagt Thiel: "Das digitalste an meiner Schulzeit waren die Pausen. In denen habe ich mein Smartphone ausgepackt." Zudem sollten Talente besser gefördert, Schülern beim Aufstieg geholfen werden.

Das sei auch der Grund gewesen, weshalb sie sich für die FDP entschieden habe. Die Partei habe diese Themen besonders vorangetrieben. Sie sei schon immer ein Mensch gewesen, "der sich sehr nach Freiheit und Selbstbestimmung gesehnt hat." Diese Werte verkörpere auch die FDP. Die Menschen in ihrer Partei würden die freie Entfaltung junger Menschen unterstützen - und damit auch Thiel. Besonders freut sie: "Das Thema Mentale Gesundheit ist dank der Jungen Liberalen nun auch Teil des Bundeswahlprogramms der FDP."

Später sorgte zudem eine ganz bestimmte Person dafür, dass Thiel sich politisch engagieren wollte: US-Sängerin Billie Eilish. "Sie hat gerade das Thema mentale Gesundheit als politische Stimme meiner Generation oft angesprochen und mich damit sehr begeistert", sagt Thiel.

"Ich sehe die Chance, dass der Wunsch vieler Menschen nach einer besseren Mental-Health-Politik lauter wird"

Mit Blick auf die Wahl im September sagt Thiel: "Natürlich sind meine Chancen als Direktkandidatin der FDP nicht sonderlich hoch." Aber sie kündigt bereits an, dass man noch einiges von ihr hören wird: "Falls sich - vielleicht auf anderem Wege - irgendwann die Möglichkeit ergibt, dass ich tatsächlich in den Bundestag einziehen kann, würde ich sofort 'Ja' sagen." Nach dem Wahlkampf wolle sie vor allem eines: einmal richtig ausschlafen. Denn momentan arbeite sie selbst nachts.

Und wie geht es mit ihrem Herzensthema, der mentalen Gesundheit, weiter? "Trotz der Pandemie hat das Thema in der Politik noch nicht an Fahrt gewonnen", beobachtet Thiel. Vielen Menschen gehe es schlechter. Das würden viele jedoch nicht auf mögliche Erkrankungen zurückführen: "Es heißt dann: 'Ich brauche keine psychologische Hilfe, sondern einfach nur einen Job.'" Selbst wenn der Auslöser einer psychische Erkrankungen beseitigt sei, würde die Krankheit oft bestehen bleiben. Auch das sei ein Grund, warum Thiel gerade jetzt verstärkt auf das Thema aufmerksam macht.

"Ich sehe die Chance, dass der Wunsch vieler Menschen nach einer besseren Mental-Health-Politik lauter wird", erklärt Thiel. Diesen Wunsch teilt sie und wird sich weiterhin dafür einsetzen, dass er in Erfüllung geht - in der Hoffnung, dass ihr politisches Engagement dazu beitragen wird.

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