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Sein Wille geschehe

Er wirft den Rucksack über die Schulter, löscht das Licht, zieht die Tür ins Schloss. Steigt die Treppen hinab, vier Stockwerke, tritt auf die Straße. Kälte schlägt ihm ins Gesicht, Nässe. Er geht los. Wohin? Los. Zweimal links, den Weg hinter dem Haus entlang, dann immer weiter, durch die Straßen, durch die Stadt. Das Dunkel schluckt ihn, in den Pfützen schimmern die Lichter. Er hält Abstand zu Hunden, Abstand zu Menschen. Wieso stoppt ihn niemand, wieso spürt niemand etwas? Nie spürt jemand etwas, die Menschen spüren nichts, und wenn doch, dann glauben sie es selbst nicht, obwohl es wahr ist. Das Wahre verschmähen sie. Das Wahre verschmähte sie.

Er geht, geht, geht. Fünfeinhalb Kilometer, eine Stunde. Da: ein Platz, eine Kirche, eine Wiese. Der Himmel schwarz, die Wolken weiß. Er tritt aufs feuchte Gras. Die Mitte der Wiese, silbernes Licht. Der richtige Ort? Der richtigste Ort. Er kippt den Rucksack aus, dann geht er weiter, und nur der Mond hat ihn gesehen.

Es ist der Abend des 25. Januar 1994, ein Dienstag, und Oberkommissar Christian Schulz sitzt in einem Gebäude mit hohen Decken und breiten Treppen in Charlottenburg: Keithstraße 30, Landeskriminalamt Berlin, Abteilung 1, Delikte am Menschen. Schulz arbeitet in der 3. Mordkommission. Er hat Rufbereitschaft.

Um 20.30 Uhr überquert ein junger Mann den Grazer Platz in Schöneberg. Es steht dort eine Kirche. Der Mann nimmt den Weg über die Wiese, in der Mitte bleibt er stehen. Auf dem Rasen liegt ein Handtuch, das erkennt er. Was daneben liegt, erkennt er nicht. Er beugt sich hinab und gibt Licht mit einem Feuerzeug. Kurz darauf klingelt bei Schulz das Telefon.

Die Mordermittler haben den Grazer Platz längst erreicht, als um kurz nach 22 Uhr auch die Gerichtsmedizinerin eintrifft. Später wird sie in ihrem Fundortbericht vermerken: „Es handelt sich um einen frischen Kopf.“ Rund um die Augen ertastet sie „eine geringe Restwärme“. Es ist der Kopf einer Frau, der dort auf der Wiese im Mondlicht liegt, braune halblange Haare, ein paar Strähnen fallen über die rechte Gesichtshälfte. Der Tod liegt nicht lange zurück.

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erschienen in stern Crime Nr. 30