Fabienne Hurst

Journalistin und Filmemacherin, Hamburg

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Reportage

Die dunkle Seite

Georg Kramer war ein erfolgreicher Manager. Seine Beziehungen zu Frauen aber endeten stets im Desaster und damit, dass er sie bedrängte, ihnen hinterherspionierte. Wo fängt Stalking an, wo hört es auf? Von einem Mann, der sich selbst verstehen will

Von Fabienne Hurst

Die Panik komme mit der Dunkelheit, sagt Georg Kramer. Beim ersten Mal sei er wie im Rausch gewesen. Er saß allein auf seinem Sofa, im Fernsehen lief gerade die Tagesschau. Da überkam ihn der Drang, nachgucken zu müssen, ob sie noch lebt. Ob sie zuhause ist. Ob sie allein ist. Er setzte sich in seinen Wagen und raste einmal quer durch Deutschland. Vollgas auf der Autobahn, dann in die Stadt, über rote Ampeln, beinahe rammte er zwei parkende Autos. Am Vorgarten seiner Ex-Freundin hielt er zum ersten Mal richtig an. Er sah, dass bei ihr Licht brannte und war für den Bruchteil einer Sekunde beruhigt. Dann fuhr er die 600 Kilometer wieder nachhause.

Kramer, Ende 40, knapp zwei Meter groß, ist ein Mann mit freundlichen Augen und festem Händedruck. Er trägt ein elegantes Hemd und teure Schuhe, als käme er zu einem Geschäftsessen. Eigentlich heißt er anders. Der Manager befürchtet, dass die Kollegen aus der Chefetage ihn erkennen könnten. Es wäre ihm unendlich peinlich.

Jedes Mal, wenn er die Klingel des Altbaus in Berlin Steglitz drückt, schaut er sich misstrauisch um. Wenn ihm jemand im Treppenhaus begegnet, geht er einen Stock weiter. Niemand soll sehen, wie er durch die Tür tritt mit der Aufschrift: „Stop Stalking – wieder selbstbestimmt leben“.
Dahinter: Eine lichtdurchflutete Wohnung, in hellen Farben eingerichtete Räume. Großformatige Naturbilder an den Wänden, Pralinen auf einem Tischchen, dazu Kaffee mit extraviel Milchschaum. Ein Zuhause wie im Katalog, die Beratungsstelle soll nicht wie eine Praxis aussehen.

Ein halbes Jahr ist es her, dass Kramer seine letzte Sitzung hier abgeschlossen hat. Er schickte danach Blumen, eine Dankeskarte. Bei dem Treffen heute soll es um einen Rückblick gehen, darum, wie es ihm seither ergangen ist. Er raucht auf dem Balkon noch schnell eine Zigarette, tritt nervös von einem Fuß auf den anderen. Es gebe viel zu berichten, sagt er. Viel zu beichten.

Kramer hat es weit gebracht in seinem Leben. Guter Schüler, noch besserer Student, Diplom mit Auszeichnung. Er arbeitete sich hoch bis in die Vorstandsetagen renommierter Firmen. Glücklich war er nicht. Immer wieder scheiterten Beziehungen zu emotional „extravaganten“ Frauen. So nennt er sie. Es seien viele schwierige Fernbeziehungen darunter gewesen. „Auch verkorkste Hasslieben“, sagt er, „nichts Gesundes.“

Sein erster Zusammenbruch kam, als eine lange Beziehung in die Brüche ging. In Kramers Kopf war plötzlich alles wirr, er konnte seine Gefühle nicht ordnen, wusste nicht wohin mit seiner Verzweiflung. Tagsüber hatte er sich unter Kontrolle, aber sobald es dunkel wurde, kam die Angst. Nach zwei Wochen fuhr er zum ersten Mal die 600 Kilometer zu ihrem Haus. „Meine innere Panik war allein durch die räumliche Nähe zu meiner Ex-Freundin beruhigt“, sagt er. Er machte immer weiter.

Kramer setzte sich in den Garten, schaute durchs Fenster, streichelte die Katze. Wenn sie oder ihr neuer Freund aus der Tür traten, versteckte er sich. Langsam wurde er sich selbst unheimlich. Sein Kopf sagte ihm: Du bist verrückt, was willst du hier? Sein Gefühl sagte ihm: Hier bist du in ihrer Nähe, hier brauchst du keine Angst zu haben.

Bei einem der nächtlichen Besuche riefen besorgte Nachbarn die Polizei. Als die Beamten Kramer vor dem Haus der Ex-Freundin festnahmen, fragte einer, ob er Drogen genommen habe. Keine Drogen, sagte Kramer, er habe nur Angst. Angst, Angst, Angst.

Die Frau erstattete Anzeige, doch die Ermittlungen wegen Nachstellung wurden bald eingestellt, ein „minder schwerer Fall“. Schließlich habe Kramer nie körperliche Gewalt angedroht. Auch nicht tausende SMS geschickt oder Drohbriefe. Ein Stalker, also jemand, der anderen nachstellt, war er trotzdem. Kramer war schockiert von sich selbst: Wie hatte er, der sonst so erfolgreich war, so tief fallen können? Er konnte kaum noch schlafen, war bei Firmenmeetings nicht bei der Sache. Und die Leute im Tennisclub, den auch seine Ex-Freundin besuchte, begannen über ihn zu reden. Sie wussten Bescheid. Selbst gute Bekannte wandten sich von ihm ab.

Kramer beschloss, sein Leben zu ändern: „Ich wollte nicht zum sozialen Außenseiter werden, vor allem aber nicht der Frau Angst machen, die ich mal geliebt habe.“ Er kündigte seinen Job, zog in eine andere Stadt, in die Nähe guter Freunde. Er lernte eine neue Frau kennen, eine Lehrerin, verliebte sich Hals über Kopf, stürzte sich wieder in eine Beziehung zwischen extremer Liebe und extremem Hass. An einem Tag habe sie ihm überschwängliche Liebesgeständnisse gemacht, am nächsten blickte sie ihm eiskalt in die Augen und sagte: „Du bist ein Nichts.“ Er blieb trotzdem bei ihr, suchte die Schuld bei sich.

Dann machte sie Schluss. Kramer hielt durch, eine Woche, zwei Wochen. Doch eines Abends, als er gerade mit Freunden kochte, war das Gefühl plötzlich wieder da: Ich muss zu ihr. Er ließ Nudeln und Sauce auf dem Herd stehen, um fünf Minuten später vor der Tür der Lehrerin zu sitzen, verkleidet mit Hut und Sonnenbrille. Er hatte wieder die Kontrolle verloren. So ging es fast jede zweite Nacht, mehrere Wochen lang.

Er kam wieder in die Klinik, offiziell krankgeschrieben wegen Burnout. Vor lauter Angst, wieder mit dem Nachstellen anzufangen, lieferte er sich selbst in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie ein, doch dort schickte man ihn nach wenigen Tagen wieder weg: „Sie sind nicht gefährlich, Sie gehören nicht hierher.“ Wieder zuhause setzte sich Kramer an den Computer, googelte die Worte „Stalking“ und „Hilfe“. Er landete auf der Webseite der Beratungsstelle. Das ist eineinhalb Jahre her.

Jetzt sitzt er wieder hier, im Berliner Altbau. Ein Tisch, drei Stühle. Ihm gegenüber: Wolf Ortiz-Müller und seine Kollegin Olga Siepelmeyer. Der schlanke Mann mit der Strickjacke und dem Ohrring ist Psychotherapeut, die Frau in der rot-weiß gepunkteten Bluse ausgebildete Pädagogin. Sie haben Kramer damals gemeinsam beraten. Manchmal schlug sich Siepelmeyer auf Kramers Seite, die Seite des Täters, und Ortiz-Müller sprang dem Opfer bei. Good Cop, bad Cop. Dieses Konzept soll die Opferempathie fördern.

Im „Reflecting Team“ diskutierten sie vor seinen Augen, welche seiner Handlungen wohl welche Konsequenzen hätten. Für die Berater ist Stalking ein fehlgeleiteter Versuch, innere Not zu bewältigen. Stalker sollen deshalb Verhaltensweisen lernen, mit dieser Not umzugehen, ohne einem anderen Menschen und sich selbst zu schaden. Um das zu vermitteln, schlüpften beide in die Rolle wohlwollender Ersatz-Eltern.

Dieses sogenannte „Reparenting“ wird oft eingesetzt bei der Behandlung von psychischen Konflikten, die in mangelnder Empathie der Eltern ihren Ursprung finden. Kramers Innenleben wurde bei dieser Methode aufgeteilt: In den „kindlichen, verlassenen Georg“, der zwanghaft die Nähe zu den Frauen sucht, die ihn mal geliebt haben. Und in den „strafenden Elternteil“, der mit mathematischer Akribie seine Probleme lösen will und den Stalker in sich verachtet. Um diesen Konflikt aufzulösen, müsse ein „wohlwollender erwachsener Georg“ gefördert werden, der die Not des Kleinen ernst nimmt. Das sollte dazu führen, die emotionale Ebene Kramers zu erreichen, denn auf dieser Ebene fehlt ihm die Kontrolle.

Anfangs habe sich diese elterliche Fürsorge seltsam angefühlt, sagt Kramer. Aber es schien zu funktionieren, es beruhigte ihn. Alle zwei Wochen, ein halbes Jahr lang, öffnete er sich ein wenig mehr. Er hatte das Gefühl, einen Ausweg gefunden zu haben. Damals.

Kramer legt die Hände auf den Tisch und beginnt zu erzählen, es sei viel passiert im letzten halben Jahr. Er hatte sich neu verliebt, war mit einer sehr netten Frau zusammengekommen. Nach wenigen Monaten sagte er zu ihr: Ich liebe dich. Sie fühlte sich überrumpelt, erwiderte nichts. Er fühlte sich zurückgewiesen. Die Beziehung zerbrach vor wenigen Tagen an seinen Selbstzweifeln. Es war wie beim letzten Mal. Wie beim vorletzten Mal. Nach dem Schlussmachen, hat er sich noch am selben Abend ins Auto gesetzt und war an den Häusern seiner drei Ex-Freundinnen vorbeigefahren. Nur vorbeigefahren. Das sei doch noch kein Stalking, oder? Die Berater blicken sich besorgt an.

Kramer hat eine Powerpoint-Point-Folie mitgebracht. Ein kreisförmiges Schema aus Pfeilen, Rechtecken und analytischen Begriffen. Er hat die Folie selbst gemacht, es ist sein Versuch, sein Leben mit Managementtechniken zu erfassen: Selbstzweifel -> Verlustangst -> Sorge vor Zurückweisung -> Trennung. Im letzten Rechteck, das den Kreis schließt, stehen die Worte: „Letzter Kampf um die Partnerin (Stalking).“

„Au weia“, entfährt es Ortiz-Müller. Noch hat sich bei Kramer der Teufelskreis nicht wieder geschlossen, er stalkt im Moment nicht. Ortiz-Müller klingt dennoch enttäuscht, als hätte er erwartet, Kramer würde ihm von seinem neuen, ausgeglichenen Leben erzählen. Bei ihm hatte er so große Hoffnungen gehabt. Stattdessen: Alarmglocken. „Wir setzen ein“, sagt er, halb zu Kramer, halb zu seiner Kollegin. „Das wird jetzt Stalking- Prävention.“ Er klingt wie ein Notarzt.

Kramer hat vor, noch einmal mit seiner Ex-Freundin zu reden. Er fragt die Berater, ob sie das für sinnvoll halten. Die Pädagogin findet die Idee nicht schlecht, er müsste ja nichts vom Stalking erzählen, aber vielleicht könne er seine psychischen Probleme erklären. Ortiz-Müller hat Zweifel. Hier in der Beratungsstelle sei ein geschützter Raum, hier könne Kramer authentisch sein. Vor seiner Ex-Freundin sei das nicht gesichert.

Es gibt kein Rezept, das die Berater nach der Diagnose „stalkinggefährdet“ ausstellen können. Aber sie wissen, welches Grundproblem Kramer als erstes anpacken muss: das geringe Selbstwertgefühl.

Siepelmeyer: „Wie erbringen Sie die gesunde Aggression, die Beziehung auch wirklich beenden zu wollen?“
Kramer: „In dem ich mir vor Augen führe, dass auch meine Ex-Freundin viel falsch gemacht hat.“
Siepelmeyer: „Und wie schätzen Sie die Chancen ein, dass es Ihnen gelingt?“
Kramer: „50 Prozent.“
Stille.
Ortiz-Müller: „Gut, dass Sie hergekommen sind.“

Ortiz-Müller mag den Mann, der da vor ihm sitzt, er leidet mit ihm. Dieses Mitgefühl für seine Klienten aufzubringen, sei nicht immer einfach für ihn, sagt der Psychologe. Bei manchen denke er auch: Was für ein Kotzbrocken! Dann müsse er sich richtig zusammenreißen. Rund 120 Stalker werden von Ortiz-Müller und Siepelmeyer im Jahr beraten, ein Drittel davon sind Frauen. Sie werden von der Polizei dorthin empfohlen oder von Staats- und Amtsanwälten geschickt, kommen im Zuge einer Bewährungsauflage oder auf Anraten ihres Verteidigers. Einige erscheinen freiwillig, so wie Kramer.

Ortiz-Müller gründete die Beratungsstelle 2008. Polizisten erzählten ihm damals, wie machtlos sie sich fühlten, wenn Stalking-Opfer zu ihnen kommen. Laut §238 StGB, dem Nachstellungsparagrafen, ist Stalking erst strafbar, wenn die Lebensgestaltung des Opfers nachweislich „schwer beeinträchtigt“ ist. Heißt: Erst wenn die Opfer aufgrund des Stalkings den Wohnort wechseln müssen, ihren Job verlieren oder körperlich verletzt werden, bringt die Staatsanwaltschaft den Täter vor ein Strafgericht. Von jährlich rund 25 000 Anzeigen kommt es auch deshalb nur zu etwa 400 Verurteilungen. In den langen Monaten zwischen Anzeige und Verurteilung lässt die Justiz Opfer und Täter allein. Diese Lücke will Ortiz-Müller mit seinen insgesamt vier Kollegen seine Beratung schließen.

Am Anfang der Beratung unterzeichnen die Klienten eine Kooperationsvereinbarung. Sie verpflichten sich, das Stalking künftig zu lassen. Wenn sie es doch wieder tun, müssen sie das zu Beginn der nächsten Sitzung unbedingt ansprechen. „Wir können niemandem helfen, der hinter unserem Rücken weiterstalkt“, sagt Ortiz-Müller. Anderseits sei es unrealistisch, dass jemand sein jahrelanges Verhalten plötzlich abstellt. Das Ende des Stalkings ist das Ziel der Beratung, nicht die Voraussetzung für ein offenes Ohr.

Jahrhundertlang war Stalking ein Kavaliersdelikt, erst seit 2007 ist es in Deutschland eine Straftat. Das sei gut so, sagt Ortiz-Müller, aber es reiche eben nicht aus, mit Handschellen gegen den Liebeswahn anzukämpfen. Er ist davon überzeugt: Opfer wollten nicht primär, dass der Täter bestraft wird, sondern vor allem dass er mit dem Stalking aufhört. Doch Opfer- und Täterberatung in ganz Deutschland zu etablieren sei schwierig, es fehlten Bundesmittel. Neben einem ähnlichen Angebot in Bremen ist das durch Zuwendungen vom Berliner Senat geförderte „Stop Stalking“ noch weitgehend einzigartig in Deutschland.

Nach zwei Stunden ist die Sitzung zu Ende. Die Beratungstermine dienen Kramer als Anker: Wenn er sich schlecht fühlt, weiß er, dass ihm bald geholfen wird. Für die Berater sind diese Treffen auch ein Kontrollinstrument: Solange sie regelmäßig von Kramer eingeweiht werden, können sie das Risiko, dass er eine Straftat begeht, einschätzen. Täterhilfe als Opferschutz.

Kramer macht ein Kreuzchen in seinen Kalender, in zwei Wochen ist der nächste Termin. Vierzehn Tage, die vielleicht über sein Leben entscheiden werden. Mit einer Vorstrafe wäre die Karriere dahin. Noch mehr Angst hat er aber davor, wieder durchzudrehen. Wieder Klinik. Wieder Angstattacken. Er hat Angst vor der Angst.

„Woher kommt diese Angst?“, hatte Kramer in einer der ersten Sitzungen gefragt. „Ich habe die Vorstellung einer ganz frühen Störung“, antwortete Ortiz-Müller. „Ein Baby, das eine existenzielle Verzweiflung erfahren hat, das ständig jemanden braucht, der sagt: Du bist nicht allein.“ Kramer nickte damals, als habe er das so erwartet. Schon seine Eltern haben sich nicht geliebt, er selbst war ein Unfall. So wurde es ihm gesagt, so hat er es sein Leben lang zu spüren bekommen. „Vielleicht habe ich daher einen Knacks.“

Manchmal ist die Angst weg. Wenn es gut läuft für Wochen, letzten Herbst etwa, als er verliebt war. Manchmal nur für ein paar Stunden: zum Beispiel immer dann, wenn er in der Beratungsstelle sitzt. Doch jetzt tritt er wieder nach draußen, ins Treppenhaus, auf die Straße. In wenigen Stunden wird es dunkel.