„Warum klaut der Westen unsere traditionelle chinesische Kultur und verkauft sie an uns zurück?“, echauffierte sich Zeng Xianglong, ein Psychologie-Professor der Beijing Normal University Mitte des Jahres in einem Interview. Sein wütender Kommentar galt der Achtsamkeit, englisch „Mindfulness“, einer auf den gegenwärtigen Moment ausgerichteten Meditationspraxis. Diese erlebt auch in China einen Boom. In wohlhabenden Metropolen wie Shanghai oder Shenzhen sind Mindfulness-Studios in den vergangenen drei Jahren aus dem Boden geschossen. Hunderte Achtsamkeits-Apps locken mit geführten Meditationen, Videos oder Musikstücken, die entspannen, Angstzustände lindern oder beim Einschlafen helfen sollen. Sogar große chinesische Konzerne wie Huawei oder Didi Chuxing bieten ihren Mitarbeitern mittlerweile Atemübungen zur Stressreduktion an. Das Kalkül des aus dem Silicon-Valley übernommenen Trends: Wer inneren Frieden fühlt, arbeitet effizienter.
Professor Zeng hat zugleich jedoch recht: Der aktuelle Trend kommt zwar aus dem Westen. Doch China ist neben Indien das Mutterland der Mindfulness. Im chinesischen Chan-Buddhismus wird Achtsamkeitsmeditation seit Jahrhunderten praktiziert. Die Kommunisten sahen in der individualistischen Innenschau zunächst vor allem einen Aberglauben. Während der Kulturrevolution wurden Praktizierende dann offen attackiert und buddhistische Tempel zerstört.
Die westlich-moderne, vom religiösen Kontext weitgehend bereinigte Achtsamkeitsmeditation geht nun zum Teil auf den amerikanischen Wissenschaftler Jon Kabat Zinn zurück. Als der Professor für Molekularbiologie im Jahr 2011 zum ersten Mal nach China reiste, pries er die positiven Reaktionen der größtenteils säkular aufgewachsenen Chinesen mit den Worten: „Es ist, als hätte sich ein karmischer Kreislauf geschlossen.“
China: Mit der Mindfulness-App gegen Existenzängste
Traditionelle Achtsamkeitsübungen wie Tai Qi, Qi Gong oder Kalligraphie gelten unter jungen Chinesinnen und Chinesen heute vor allem als Zeitvertreib für Rentner. Um ihrem stressigen Alltag zu entkommen, greifen die Jüngeren lieber zu einer Mindfulness-App – und sei es auch nur in Form einer zehnminütigen Kopfhörer-Meditation in der U-Bahn. „Das Fehlen einer religiösen Komponente trägt in China eher noch zur Popularität der Achtsamkeit bei„, sagt Dalida Turkovic, die in der Nähe des Pekinger Lama-Tempels das Beijing Mindfulness Centre betreibt. Die als Business-Coach ausgebildete Mindfulness-Lehrerin kam 1993 nach China. Nachdem ihr Heimatland Jugoslawien auseinandergefallen war, litt sie jahrelang an Depressionen. Über traditionelle chinesische Kampfkunst landete sie schließlich bei der Achtsamkeitsmeditation, die ihr aus der schlimmsten Krise herausgeholfen habe. „Im Gegensatz zu traditionellen Lehren wie Qi Gong stärkt die westliche Art der Mindfulness das psychologische Selbstbewusstsein“, erklärt die 52-Jährige.
Für viele Chinesen ist Mindfulness heute vor allem auch ein Lifestyle. Der Markt chinesischer Mindfulness-Apps ist dementsprechend hart umkämpft. Platzhirsche wie Headspace oder Calm im Westen haben sich in China noch nicht herauskristallisiert. In chinesischer Sprache verfügbare Plattformen wie Tide (潮汐) oder das 2016 gegründete Now Meditation (Now冥想) ähneln inhaltlich westlichen Anbietern. Allerdings gibt es bei ihnen gegen Aufpreis noch Workshops und Vertiefungskurse in der hauseigenen Mindfulness Academy dazu.
Auf den Ausbruch von Covid-19 regierten fast alle Start-ups mit speziellen Entspannungsübungen, die die schlimmsten Existenzängste mindern sollten. „In dieser unsicheren Zeit haben viele Chinesen Sinnkrisen bekommen„, sagt Dalida Turkovic vom Beijing Mindfulness Center. Auch die Lockdowns haben zur Verunsicherung beigetragen. „Viele glauben nicht, dass sich bis zur Olympiade daran etwas ändert. Eine gute Gelegenheit, um sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.“
Psychische Probleme noch immer ein Tabu
Die Corona-Pandemie hat auch in China ein Schlaglicht auf das Thema „Mental Health“ geworfen. Die Weltgesundheitsorganisation schätzt, dass in der Volksrepublik rund 54 Millionen Menschen an Depressionen, 41 Millionen unter Angstzuständen und 300 Millionen an Schlaflosigkeit leiden. Dabei spielt natürlich auch der wirtschaftliche Druck eine Rolle. Sechs Tage die Woche von 9 bis 21 Uhr zu arbeiten ist für viele Chinesen, gerade in der Tech-Branche, zur Norm geworden (China.Table berichtete). Viel Zeit zur Problembewältigung und Sinnsuche bleibt da nicht. Dass Hou Xi, einer der Mitgründer der in Chengdu ansässigen Meditations-App Ease, früher als Banker für Goldman Sachs tätig war, spricht Bände.
In der chinesischen Gesellschaft sind psychische Probleme oft noch stigmatisiert. Laut der World Mental Health Survey, einer globalen Umfrage der Weltgesundheitsorganisation, suchen 87 Prozent der betroffenen Chinesen keinen Arzt auf, wenn sie mit psychischen Problemen zu kämpfen haben. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 48 Prozent. Anpassungsstörungen oder leichte bis mittelschwere Depressionen werden in China meist gar nicht als Krankheit eingestuft und bleiben dementsprechend unbehandelt. In ihrem Buch „Mental Health in China“ (Polity Press, Cambridge, 2018) argumentiert die Anthropologin Jie Yang, dass die Tabus um psychische Erkrankungen auf das kollektivistische konfuzianische Erbe, aber auch auf die Mao-Zeit zurückgehen, in der Psychologie als „bourgeoise Pseudowissenschaft“ verteufelt wurde.
Online-Plattformen wie Know Yourself (知我探索), Jiandan Xinli (简单心理) oder Yi Xinli (壹心理) versuchen mit einer Mischung aus Wellness, Psychotherapie und spiritueller Sinnsuche diese Lücke im chinesischen Gesundheitssystem zu schließen. Auf „Know Yourself“ veröffentlichte Artikel zu Themen wie „Selbstvertrauen aufbauen“, „Self-Care,“ oder „Karrieredruck“ werden im Schnitt mehrere hunderttausend Mal gelesen. Zusätzlich vermittelt das Shanghaier Start-up zertifizierte Video-Therapeuten an seine User. Allein auf WeChat folgen Know Yourself mittlerweile rund 2,8 Millionen Menschen.
Psychologische Selbsthilfe durchaus erwünscht
Die Chinesen nennen den Trend zur psychologischen Selbsthilfe Xinling Jitang (心灵鸡汤): „Hühnersuppe für die Seele“, angelehnt an den auch in China äußerst populären US-Selbsthilferatgeber „Chicken Soup For The Soul“. Auf Chinas Buchmarkt machen Selbsthilfetitel heute schätzungsweise ein Drittel aus.
Peking begrüßt die Eigeninitiative der Bürger, da es in China noch immer an psychologischen Fachkräften mangelt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) errechnete bei der letzten Erhebung im Jahr 2017, dass auf 100.000 Chinesen weniger als neun Psychiater kommen. In ihrer Initiative „Healthy China 2030“ empfahl die chinesische Regierung Meditation deshalb ausdrücklich als Methode, um mit dem Lockdown-Stress umzugehen.
Natürlich gibt es auch einen ökonomischen Faktor: China will sein Wirtschaftswachstum mehr und mehr im Dienstleistungssektor erzeugen. Wellness-Angebote spielen dabei eine immer größere Rolle. Alleine der Umsatz im chinesischen Yoga-Markt wurde im vergangenen Jahr auf 46,8 Milliarden Yuan geschätzt, rund 6,5 Milliarden Euro. Das in Shanghai ansässige Mindfulness-Zentrum „Creative Shelter“ entwickelt gar schalldichte Meditationskammern, die wie die in China allgegenwärtigen Massage-Sessel eines Tages in jedem Einkaufszentrum stehen sollen. „Spirituelle Fürsorge kann auch wirtschaftliche Vorteile bringen“, erklärt der staatliche Fernsehsender CCTV2.
Behörden haben Angst vor „spirituellem Opium“
Gleichzeitig dürfte die Partei genau darüber wachen, wie sich die Wellness-und Mental-Health-Bewegung weiterentwickelt. In Chinas Geschichte lief spirituell gefärbte Körperertüchtigung gerne einmal auf offene Rebellion hinaus, etwa als die sogenannten Boxer am Ende der Qing-Dynastie gegen Ausländer aufbegehrten oder die Roten Turbane im 14. Jahrhundert die Mongolenherrschaft stürzten. Der jüngste Fall einer spirituellen Massenbewegung ereignete sich in den 90er-Jahren. Damals wollten die meditierenden Jünger der Falun Gong die spirituellen Bedürfnisse der vielen Chinesen befriedigen, die während der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen nach Halt suchten.
Zunächst wurde Falun Gong von der Regierung unterstützt. Als die Mitgliederzahl jedoch 70 Millionen überschritt – mehr als die Kommunistische Partei zu jener Zeit hatte – wurde die Bewegung von Staatschef Jiang Zemin als „spirituelles Opium“ und „Gefahr für die soziale Stabilität“ verboten. Ihre Mitglieder wurden in der Folge rigoros verfolgt. Was „Innerer Frieden“ ist, und wie man ihn aufrechterhält, bestimmt die Partei eben ganz allein. Fabian Peltsch
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