Im Fall von Hatun Sürücü wurden neben dem Bruder, der die Schüsse abgegeben hat, zwei weitere Brüder der Tatbeteiligung verdächtigt. Ist die Involvierung mehrerer Familienmitglieder typisch für Ehrenmorde? Es ist zumindest so, dass selbst wenn es einen Einzeltäter gibt, dieser die Tat ausübt, weil bestimmte kollektive Ehrnormen dahinterstehen. Es gibt zum Beispiel Fälle, in denen die Ursprungsfamilie in der Türkei lebt, die Tat also gar nicht begehen konnte, und der Ehemann sich daher selbst dazu berufen fühlt, die Ehre wiederherzustellen. In den meisten der von uns untersuchten Fälle war es so, dass der Täter sich durch Kommentare wie „Du musst unsere/deine Ehre wiederherstellen!" oder „Hast du keine Ehre?" unter Druck gesetzt gefühlt hat. Dieser Druck, der von Familie und Freunden gegenüber dem Täter auf Basis eines kollektiven Ehrhintergrunds aufgebaut wird, ist ein großer Unterschied zu klassischen Partnertötungen, die auf individuellen Entscheidungen basieren.
Julia Kasselt ist Juristin und hat am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg über... Foto: PromoFür Ihre Studie „Ehrenmorde in Deutschland" haben Sie erstmals versucht, das Phänomen in Zahlen zu fassen. Wie viele solcher Taten gibt es in Deutschland? Für den Zeitraum 1996 bis 2005, den wir ausgewertet haben, haben wir 78 Fälle von versuchten oder vollendeten Ehrenmorden im engeren oder weiteren Sinne gefunden. Wenn man sich überlegt, wie viele Tötungsdelikte jährlich in Deutschland passieren, ist das eine vergleichsweise geringe Zahl. Allein 2018 gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik 901 vollendete oder versuchte Morde in Deutschland. Ehrenmorde sind also ein seltenes Phänomen, das durch die Medienberichterstattung sehr verzerrt dargestellt wird.
[In unseren Leute-Newslettern berichten wir wöchentlich aus den zwölf Berliner Bezirken. Die Newsletter können Sie hier kostenlos bestellen:leute.tagesspiegel.de]In letzter Zeit wird häufig vom „Femizid" gesprochen. Ist das eine bessere Alternative zu Begriffen wie „Ehrenmord" und „Beziehungstat"? Der Begriff Femizid bezeichnet Tötungen von Frauen aufgrund ihres Geschlechts und ist für einen Großteil der Ehrenmorde und Beziehungstaten sicherlich treffend. Allerdings passt er nicht für die Fälle, in denen Männer zu Opfern werden.
[Lesen Sie auch Hatun Sürücüs Vermächtnis: Vor 15 Jahren wurde Hatun Sürücü ermordet - weil sie frei leben wollte. Manches hat sich seither verändert. Gewalt gegen Mädchen gibt es noch immer.]Kann man daraus den Rückschluss ziehen, dass Ehrenmorde ein islamisches Phänomen sind? Nein, dieser Rückschluss wäre falsch. Es ist schon so, dass die meisten Täter in Deutschland Muslime sind. Es gab in unserer Stichprobe aber auch christliche Täter, die ebenfalls aus Ländern kamen, in denen diese Ehrkultur weitverbreitet ist. Die Ehrkultur selbst ist nichts Religiöses, das ist ein altes stammesgesellschaftliches Phänomen, das schon viel länger existiert als zum Beispiel der Islam. Das entstand zu einer Zeit, als es noch keine Staaten gab und die Familie und Familienehre noch gegen andere Familien und Stämme verteidigt werden musste. Es ist ganz klar ein kulturelles und kein religiöses Phänomen. Es ist auch nicht so, dass sich die Täter auf die Religion berufen.