Seit acht Jahren schneiden die USA und die EU Syrien von den Ölmärkten der Welt ab. Das Embargo soll der Zivilbevölkerung zu Gute kommen. Doch die leidet am stärksten darunter.
Als am 4. August dieses Jahres britische Spezialkräfte vor der Küste von Gibraltar den iranischen Öltanker "Grace 1" (später "Adrian Darya 1") kaperten, dauerte es nicht lange bis Politiker und Medien die moralische Legitimation der Aktion lieferten: "Rasches Handeln hat Assads mörderischen Regime wertvolle Ressourcen verwehrt", twitterte der britische Außenminister Jeremy Hunt.
"Das Öl sollte an den syrischen Diktator Baschar al-Assad gehen, der damit seine Kriegsmaschinerie gegen die syrische Zivilbevölkerung weiter angeheizt hätte", berichtete die Bild am Morgen danach. Und bis heute findet sich in vielen Medien-Beiträgen und Politikerstatements zum Thema ein Formulierung, wonach die Verhinderung der Öllieferung dem Wohl des syrischen Volkes diene. Aber stimmt das eigentlich?
Ziel des Öl-Embargos: "Die Gewalt beenden und den demokratischen Wandel fördern"Das Erdöl-Embargo der EU ist fast so alt wie der Konflikt in Syrien selbst. Schon im September 2011 und damit nur wenige Monate nach Beginn der Proteste verbat der Rat der Europäischen Union seinen Mitgliedsstaaten den Kauf, die Finanzierung und den Transport von sämtlichen syrischen Erdöl- und Erdgaserzeugnissen: von Benzin über Heizungsöl bis Kochgas.
Nicht nur der Export, auch die Produktion selbst wurde sanktioniert: Ersatzteile für Raffinieren, Pipelines oder Verflüssigungsanlagen dürfen seitdem nicht mehr nach Syrien geliefert werden. Europäische Unternehmen dürfen keine Wartungsverträge abschließen, Versicherungen keine Policen vergeben und Finanzdienstleister keine Transaktionen ausführen.
Die Folgen bekam das Land unmittelbar zu spüren. Innerhalb eines Jahres brach die Erdölproduktion von 345.000 Barrel auf 24.000 Barrel täglich ein. Zuvor war die EU mit 90 Prozent der Hauptabnehmer syrischen Rohöls. Erdölerzeugnisse waren für ein Drittel der syrischen Exporteinnahmen verantwortlich.
Seitdem hat der EU-Rat die Sanktionen immer wieder verlängert und ausgeweitet. Gleich blieb die Begründung: Ziel der Maßnahmen sei es "die Gewalt gegen die syrische Zivilbevölkerung zu beenden und den demokratischen Wandel im Land zu fördern". So formulierte es der Rat in seiner ersten Sanktionsanordnung im September 2011 und seitdem in ähnlichen Worten immer wieder.
Wie das EU-Öl-Embargo den Krieg in Syrien anheizteErste Hinweise, dass die Rechnung "weniger Öl = weniger Krieg" nicht aufgeht, gab es schon früh. Im November 2013 stellte das Brüsseler Think Tank "European Policy Centre" eine Untersuchung zu den Folgen der EU-Sanktionspolitik vor. Das Ergebnis der Forscher: Das EU-Öl-Embargo würde den Krieg nicht eindämmen, sondern weiter anheizen. Der Grund: Durch die Verknappung der Ressourcen steige der Anreiz für Militär und Rebellengruppen, verbliebene Erdölfelder, Raffinerien und Maschinen unter Kontrolle zu bringen. Im Schaffen des Öl- und Gashandels sei deshalb eine neue Kriegsökonomie entstanden: "Und die EU-Sanktionen helfen diesen Kriegsprofiteuren."
Später Untersuchungen kamen zu ähnlichen Ergebnissen. Zu einem Politikwandel führte allerdings keine von ihnen. Nur einmal in der achtjährigen Geschichte der EU-Syrien-Sanktionen war die Staatengemeinschaft bereit, bereits verhängte Strafmaßnahmen wieder zurückzunehmen. Doch auch diese Entscheidung verschärfte den Konflikt nur, anstatt ihn zu befrieden.
Das EU-Öl-Embargo lieferte Starthilfe für dschihadistische MilizenAls Maßnahme "zur Unterstützung der syrischen Opposition" hob der Rat der Europäischen Union im Frühjahr 2013 erst das Öl-Embargo und kurz darauf das Waffen-Export-Verbot für syrische Rebellengruppen auf. Die Folge war eine selbst für syrische Verhältnisse beispiellose Welle an Gewalt im Nordosten des Landes.
In Aussicht auf neue Einnahmequellen bekämpften syrische Rebellengruppen die syrische Armee und einander und brachten erstmals große Städte wie Deir Ezzor, al-Hasakah and Raqqa unter ihrer Kontrolle. Der große Gewinner war am Ende der Al-Qaida Ableger Jabhat al-Nusra. Deren neu eroberte Gebiete endeten oftmals später unter der Kontrolle des IS. Es war auch Europas Sanktionspolitik, die die Grundlage für vier Jahre Terrorherrschaft des IS im Nordosten Syriens legte.
Hilfsorganisationen müssen aufgrund der Sanktionen ihre Arbeit einstellenWährend dschihadistische Milizen zu den wenigen Gewinnern der EU-Sanktionspolitik gehören, leiden auch jene unter der Knappheit von Treibstoffen, die ihn am dringendsten brauchen. Wie kontraproduktiv die europäische Sanktionspolitik ist, wird am deutlichsten in den Worten von Vertretern internationaler Hilfsorganisationen. Mit dem Auftrag herauszufinden, wie sich die westliche Sanktionspolitik auf die humanitäre Arbeit im Land auswirkt, befragte ein UN-Team im Jahr 2016 monatelang einheimische Nothelfern und Mitarbeiter internationaler Organisationen.
Damit diese in von der Regierung kontrollierten Gebieten Benzin kaufen dürfen, müssen die Hilfsorganisationen zeitlich und finanziell aufwändige Genehmigungsverfahren durchlaufen, die sich über mehrere EU-Behörden erstrecken und oft Monate andauern. Beispielhaft ist der Bericht eines Vertreters einer internationalen NGO, deren Aufgabe es unter anderem war, Benzin für die Autos eines UN-Programms zu beschaffen. Das Ende eines monatelangen Antragsprozess beschreibt er wie folgt:
Letztlich verstrich die Gelegenheit für das Programm, bevor uns die Lizenz erteilt wurde. Selbst wenn die zuständigen Behörden die Lizenz genehmigt hätten, müsste der Antrag noch an alle Mitgliedstaaten und den SNC [Syrischer Nationalrat, einer der Vertreter der syrischen Opposition, Anm. d. Red.] geschickt werden. Jeder von ihnen hätte Widerspruch einlegen können.
Vertreter einer internationalen NGOAndere Hilfsorganisationen berichteten, dass sie in ihrer Not auf Diesel aus "inoffiziellen Raffinerien" zurückgreifen, von denen sich einige unter Kontrolle des "Islamischen Staates" befinden. Zusammenfassend schreiben die Verfasser des Berichts: "In Syrien aktive NGOs wiesen darauf hin, dass der tägliche Zugang zu Treibstoff, einschließlich zum Heizen, Kochen und zur Beleuchtung zu den größten Herausforderungen gehört, mit denen sie selbst und die Zivilbevölkerung konfrontiert sind."
Auch andere unabhängige Untersuchungen haben festgestellt, dass unter den EU-Maßnahmen vor allem jene leiden, derem Schutz sie eigentlich dienen sollten: die Zivilbevölkerung. Eine Untersuchung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zur "Rolle der EU im syrischen Konflikt" aus dem Jahr 2016 bescheinigte der EU-Sanktionspolitik in jeglicher Hinsicht versagt zu haben.
Zu den direkten und indirekten Folgen des Embargos zählten die Experten neben dem Erstarken bewaffneter Gruppen, einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, den Kollaps des Bildungssystems, sowie den systematischen Zusammenbruch von Wirtschaft, Infrastruktur und Institutionen. Die Annahme, "dass das Regime sein Verhalten ändern werde (…) sei nicht nur widerlegt worden". Im Gegenteil: Europas Politik habe "das gegenteilige Ergebnis" hervorgebracht und stünde selbst dem Frieden in Syrien im Weg.
Zu einer ähnlich ernüchternden Bilanz kam zuletzt auch der "UN-Sonderberichterstatter zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmaßnahmen", Idriss Jazairy. Im einem im September 2018 veröffentlichten Bericht beschreibt er die Folgen des Öl- und Wirtschaftsembargos: Preise für Benzin, Heizöl und Kochgas hätten sich drastisch erhöht. Die Möglichkeiten, Nahrung ins Land zu transportieren, seien erschwert. Die westlichen Sanktionen, schreibt Jazairy, würden "das Leid unschuldiger Zivilisten nur verschlimmern."
Seitdem dürfte sich die Situation noch einmal verschlechtert haben. Im Frühjahr dieses Jahres dominierten in syrischen Medien Schlagzeilen über eine neue Versorgungskrise. In Sozialen Medien kursierten Fotos von scheinbar endlosen Menschenschlangen, die vergeblich darauf warteten, eine Flasche Kochgas zu ergattern. Das Parlament reduzierte die ohnehin schon knappen Rationen für Benzin und Heizöl. Die syrische Regierung sehe sich "der schlimmsten" Benzin- und Gas-Krise ihrer Geschichte ausgesetzt, schrieb der Chefredakteur von The Syria Report Jihad Yazigi.
Ein Grund hierfür war auch jetzt wieder die westliche Sanktionspolitik. Neben dem Öl-Schmuggel aus Irak, Libanon und den Kurdengebieten basierte die syrische Erdölversorgung in den letzten Jahren vor allem auf einer Quelle: Lieferungen durch iranische Tanker. Nachdem Iran und seine Tankerflotte im Oktober vergangenen Jahres selbst ins Visier der US-Sanktionspolitik geraten waren (Die unglaubliche Reise eines verrückten Supertankers setzten auch die iranischen Erdöllieferungen nach Syrien aus.
Einen Monat später verschärfte die US-Regierung zudem ihre Strafmaßnahmen gegen Syrien. Mit dem erklärten Ziel, sämtliche Treibstofflieferungen an Syrien zu verhindern, drohte sie jedem Akteur mit Sanktionen, der sich an den Lieferungen beteiligte.
Die Konsequenz: Syrischen Staatsmedien zufolge gelangte zwischen Oktober 2018 und Mai 2019 kein einziger Öltanker nach Syrien. Die Versorgungssituation für die Zivilbevölkerung entspannte sich erst wieder Ende Mai. Zu verdanken hatten das die Menschen im Land nicht der westlichen Sanktionspolitik, sondern einem iranischen Tanker.
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