8 Abos und 5 Abonnenten
Artikel

Es gibt immer einen Stephan

Einfach ‚als Mädchen' nicht auf ‚After-Show-Partys' gehen. Simple as that", kommentiert Stephan auf Twitter. Die Influencerin Kayla Shyx hatte zu diesem Zeitpunkt gerade ein Video auf ihrem YouTube-Kanal veröffentlicht. Der Titel: "Was wirklich bei Rammstein Afterpartys passiert." Es geht um Musiker Till Lindemann, um die Vorwürfe von sexualisierter Gewalt und einem perfiden System aus Machtmissbrauch und strukturellem Augenverschließen. Es ist nicht das erste Mal, dass wir solche Dinge diskutieren. Es ist nicht das erste Mal, dass dabei berühmte Männer im Fokus stehen. Und es ist nicht das erste Mal, dass irgendein Stephan sinngemäß meint: Irgendwie sind die Frauen doch selbst schuld.

Ein Gefälle von Macht

Sexuelle Belästigung und Grenzüberschreitungen sind kein gesellschaftliches Randphänomen, wir erleben sie dauernd; im Privaten, im Politischen, auf der medialen und kulturellen Bühne. Laut Statistik Austria hat jede dritte Frau in Österreich ab dem Alter von 15 Jahren körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erlebt, jede vierte ist von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz betroffen, jede fünfte von Stalking. Vor zwei Jahren war die Causa rund um Ex-"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt in den Medien, vor vier die Belästigungsvorwürfe gegen Medienunternehmer Wolfgang Fellner, vor sechs die Übergriffe von Filmproduzent Harvey Weinstein. Dabei ging es durch die Bank um die Ausnützung von Abhängigkeitsverhältnissen, um Macht-Konstruktionen, die sich mit patriarchalen Strukturen verschränkten und Wegsehen für alle Mitwissenden einfach machte.

Die Vorwürfe gegenüber der deutschen Band "Rammstein" hören sich ähnlich an. Sänger Till Lindemann soll weibliche Fans über ein Rekrutierungssystem für "sexuelle Handlungen" nach und während der Live-Show "gecastet" haben. Mehrere Frauen gaben an, dass ihnen unter anderem K.o.-Tropfen eingeflößt worden sein sollen, sie berichten von mutmaßlich gewaltvollem Sex, sexuellen Übergriffen, Körperverletzung. Lindemann weist die Vorwürfe energisch zurück.

Alle schuldig, außer Täter

Schon 2017, während der MeToo-Bewegung, wurde der Umgang mit "Groupies" immer wieder kritisiert. Zu stark das Machtgefälle zwischen Fan und Star. Und auch historisch alles andere als unproblematisch. Unter "Groupie" versteht man meistens weibliche Fans, die einem Star oder einer Band ihre ganze Aufmerksamkeit schenken. In den 1960er Jahren waren sie fixer Bestandteil der Popkultur und Musikszene; das "Groupie" in den meisten Fällen sexuell konnotiert.

Um 1970 tauchen dann sogenannte "Baby Groupies" auf; minderjährige Mädchen, die mit den Rock- und Popstars der Zeit in Hollywoods Nachtclubs "feierten". Unter ihnen Lori Mattix oder Sable Starr. Erstere war mit dem 28-jährigen "Led Zeppelin"-Gitarrist zusammen, als sie 13 Jahre alt war. Iggy Pop schrieb über zweitere folgende Zeilen in seinem Song "Look Away": "I slept with Sable when she was 13. Her parents were too rich to do anything. She rocked her way around L.A."

Eine übergriffige Beziehung zwischen Idol und Fan ist also nicht neu. Wie so oft tut sich unsere Gesellschaft mit der Wirklichkeit aber trotzdem schwer; das schrieb schon Margarete Stokowski in "Untenrum frei": "Es kann sehr verführerisch sein, die Realität zu ignorieren, wenn sie nervt und hässlich ist und uns fertigmacht, aber auf Dauer geht das nicht gut aus."

Und die Realität ist eben folgende: Wir haben in den letzten Jahren zu oft gesehen, dass Betroffene, die Vorwürfe öffentlich äußern, Häme, Hass und "victim blaming" ernten. Dass der erste Reflex der Menschen ist, alles vorsorglich in Frage zu stellen, so, als wären Übergriffe generell undenkbar, als wären sie in dieser Form schlichtweg zum ersten Mal passiert. Parallel dreht man die Schuldfrage um, überträgt die Verantwortung für die Situation auf die Betroffenen. "Einfach ‚als Mädchen' nicht auf ‚After-Show-Partys' gehen. Simple as that."

Gespenst der Vorverurteilung

Es gibt offenbar keinen wirklichen Konsens, dass sexualisierte Gewalt ein grundsätzliches Problem in unserer Gesellschaft ist. Sicher behaupten wir das immer wieder, bei Pressekonferenzen oder internationalen Tagen, führen unsere Diskussionen aber nicht dementsprechend. Schließlich wären die immergleichen Argumente dann nicht mehr da, die sich momentan wie eine verklemmte CD im Autoradio ständig wiederholen. Dann gäbe es keine wiedergleiche Ablehnung, keine wiedergleiche Skepsis, mit der man schon vor zwei, vier, sechs Jahren den Vorwürfen gegenüber Reichelt, Fellner und Weinstein begegnet ist und nun jenen gegenüber Lindemann begegnet. Dann würden wir uns nicht so bequem hinter dem "Gespenst der Vorverurteilung" verschanzen.

Natürlich gilt, in Österreich kennen wir dieses Wort gut, die Unschuldsvermutung. Darum geht es auch nicht. Sondern um die Art und Weise, wie wir über Übergriffe, über sexualisierte Gewalt im Gesamten, reden. Solange Betroffene nicht respektvoll behandelt werden, solange man nicht auch sie vor einer Vorverurteilung schützt, solange das Wohl des vermeintlichen Täters über dem der vermeintlich Betroffenen steht, werden sich Frauen nur als letzten Ausweg öffentlich äußern. Solange wir sexualisierte Gewalt als absolute Ausnahmeerscheinung diskutieren und jedes Mal performativ erstaunt sind, wenn sie uns begegnet, kann sich strukturell nichts verändern.

Stephan hat seinen Kommentar mittlerweile gelöscht; das Video von Kayla Shyx über vier Millionen Aufrufe. Sagen was ist. Simple as that.

Zum Original