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Von Mutterhand geplant

Das Spiel ist immer das gleiche. Wer wirklich wissen will, was in Sachen Gegenwart gerade die Welt bewegt, der muss auf TikTok. Auf Instagram hat man schließlich nicht die geringste Chance und auf Twitter ist man schlichtweg nur wegen der Sucht und den traurigen Tweets von mittelalten, weißen Journalisten, die gerne Politiker geworden wären, aber schon bei der Klassensprecherwahl zu feig waren, sich aufstellen zu lassen. Und Facebook? Nicht in diesem Text. Also TikTok. Und wenn man die Videoplattform in den letzten Monaten aufmerksam beobachtet hat, dann konnte man zwei beständige Trends erkennen (mindestens). Erstens, wir pathologisieren uns gegenseitig immer häufiger, halten Verhaltensweisen unseres Gegenübers also recht schnell für krankhaft. Im Zuge dessen kommen wir erstaunlich gerne auf den Narzissmus zu sprechen. Zweitens, Jennette McCurdy, bekannt aus der 2000er Nickelodeon-Fernsehserie "iCarly", hat ihre Memoiren verfasst. Die 30-Jährige war zwischen 2007 und 2012 einer der Kinderstars, Millenials und Gen Z sind quasi Seite an Seite mit ihr groß geworden. Nun, was hat das miteinander zu tun? Was sagt es über unseren Zeitgeist? Und überhaupt, reden wir über Mütter.

 Von Müttern...

"I'm Glad My Mom Died: Meine Befreiung aus einer toxischen Mutter-Tochter-Beziehung" (Fischer Taschenbuch Verlag) erschien im August letzten Jahres. Seit Kurzem gibt es nun endlich eine deutsche Übersetzung. Zwei Tage vor deren Veröffentlichung feierte Jennette McCurdy 40 Wochen auf der New-York-Times-Bestsellerliste. Auf Instagram teilte sie ein Foto, steht lachend auf einem Bett, weißes Laken, weiße Polster. Sie hält zwei violette Zahlen-Luftballone in der Hand; vier, null. Das Foto hat über eine Millionen Likes.

McCurdy zeigt sich in ihrem Debütbuch schonungslos, legt in einem nüchternen, fast gleichgültigen Tonfall ihre Vergangenheit offen. An vielen Stellen liest sich das brutal. Sie versteckt sich nicht hinter Verschleierungen oder Phrasen; ihre Sätze stürzen mit der absoluten Wucht der Ehrlichkeit auf einen herab. Sie erzählt von ihren Essstörungen und der Alkoholsucht, ihrer Zeit als Kinderdarstellerin, die toxischen Verhältnisse in der Unterhaltungsindustrie, ihrer fehlenden mentalen Gesundheit. Und sie deckt auf, warum fast alles davon irgendwie mit ihrer Mutter zusammenhängt. "Meine Mom hat ihren Sockel nicht verdient. Sie war eine Narzisstin. (...) Meine Mom hat mich missbraucht, emotional, seelisch und körperlich, und das in einer Form, die mich für alle Zeiten geprägt hat. Meine Mom hat meine Brüste und meine Vagina ‚untersucht', bis ich siebzehn Jahre alt war. Diese ‚Untersuchungen' ließen meinen Körper vor Unbehagen erstarren. Ich fühlte mich verletzt, dennoch besaß ich keine Stimme, keine Möglichkeit, das auszudrücken. Ich war darauf konditioniert, zu glauben, dass jede Grenze, die ich wollte, ein Verrat an ihr war, also blieb ich stumm, hielt den Mund. Kooperierte."

McCurdys Vergangenheit schockiert. Das liegt vor allem an der Fallhöhe zwischen unserem gesellschaftlichen Mutterbild und der realen "Mom" der Autorin. Schließlich lehrt man uns: Frauen kümmern sich, lieben selbstlos - alles ganz von Natur aus. Überall begegnet man dem Mythos der idealen Mutter, pinnt Frauen damit zwangsläufig auf eine natürliche Mutterrolle fest, macht "kümmern" und "selbstlos lieben" zu etwas biologisch Weiblichem. Schon Simone de Beauvoir widerlegte diesen Zusammenhang: "Es gibt keine ‚unnatürlichen' Mütter, weil die Mutterliebe nichts Natürliches an sich hat" ("Das andere Geschlecht"). Wenn die Erzählung der glorifizierten Mama nun aber nicht aufgeht, wenn eine Mutter nicht "selbstlos liebt", sich nicht "kümmert", sondern, im Gegenteil, Grenzen überschreitet, ausbeutet, sind wir damit heillos überfordert. Dann schaut unsere Gesellschaft lieber weg.

Nun war McCurdys Mutter eben Missbrauchstäterin, neben dem noch Narzisstin. Sie trainierte ihrer Tochter mit elf Jahren eine Essstörung an, drängte sie für Aufmerksamkeit und Geld in die Schauspielerei, brachte ihr ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen Frauen bei. Einmal gibt es da diese Mail, in der sie McCurdy gegenüber besonders untergriffig wird. "Du bist jetzt ein hässliches Monster. Ich habe deinen Brüdern von dir erzählt, und sie sagen, dass sie dich genauso verstoßen wie ich. Wir wollen nichts mehr mit dir zu tun haben. (...) PS: Schick Geld für einen neuen Kühlschrank. Unserer ist kaputt."

...Narzissmus...

Warum tun wir uns damit so schwer? Schließlich haben wir sonst kein Problem, uns gegenseitig zu pathologisieren, wir tun es ständig. Heutzutage ist der Chef kein "egoistisches Arschloch" mehr, sondern ein "psychopathischer Narzisst." Wenn wir uns gegenseitig mit Persönlichkeitsstörungen unsere emotionalen Differenzen erklären, ziehen wir den Disput auf eine vermeintlich neutrale Ebene. Nicht ich habe ein Problem mit deinem Charakter, sondern mit deiner Wahrnehmung, deiner Art zu Denken stimmt etwas grundsätzlich nicht. Damit erhebt man sich, gibt zu verstehen, dass es um mehr geht als die eigene Ablehnung. Und man verwässert Begriffe. Persönlichkeitsstörungen zwangsläufig mit einem Fehlverhalten gleichzusetzen, erschwert die Aufklärung rund um mentale Gesundheit und schürt Vorurteile, macht es den Betroffenen noch schwerer.

Zurück zur narzisstischen Mutter. In einer Welt, in der alle immer über Narzissmus reden, in der wir ihn ständig aneinander vermuten und erkennen, erzählt ihn McCurdy neu. Sie bricht mit seinen Stereotypen, beschreibt ihn ausführlich anhand ihrer Mutter. Und stellt klar, dass es um mehr geht, als sich gegenseitig Hobby-Diagnosen an den Kopf zu werfen, wenn man gerade unzufrieden ist. Sie schildert, wie ein toxisches Machtgefälle tatsächlich aussieht, was physischer und psychischer Missbrauch mit Menschen macht; entkoppelt die Mutter, die sie sich immer gewünscht hat, von der Mutter, die tatsächlich da war. Und analysiert damit unbeschönigt unsere ganze Gesellschaft über ihre eigene Lebensgeschichte.

...und dem Internet

Von vorne also: TikTok. McCurdys "I'm Glad My Mom Died" löste dort einen Hype aus. Menschen teilten Audioausschnitte aus dem Hörbuch und schnitten sie über Szenen von "iCarly", überall sah man Interviews, Zitate. Ein Video davon hat mittlerweile über acht Millionen Aufrufe, fast zwei Millionen Likes. McCurdy ist für viele schon lange nicht mehr nur eine altbekannte Schauspielerin aus Kindertagen, sondern wurde zu einer Identifikationsperson, einem "Safe Space" für Probleme und Herausforderungen, die junge Menschen beschäftigen. Erwachsen werden, mentale Gesundheit, Essstörungen, Übergriffe. Sie zeigte eine Möglichkeit, sich aus den widrigsten Umständen herauszukämpfen. Und blieb dabei aufrichtig, romantisierte nichts; machte es zu keiner Erfolgsgeschichte, sondern benannte ihre Anstrengungen mit präziser Genauigkeit. Folgerichtig brannte "BookTok." Also jene junge Community auf der TikTok-App, die sich mit Literatur auseinandersetzt. Fast jeder dort hat "I'm Glad My Mom Died" gelesen.

McCurdy hat es geschafft, einer ganzen Generation den Wert von Memoiren näher zu bringen. Und mit ihnen auch die Wichtigkeit einander Raum zu geben, sich selbst und das eigene Leben zu reflektieren, voneinander zu lernen und zuzuhören. Vielleicht muss man doch nicht immer auf TikTok, um in Sachen Gegenwart up to date zu bleiben. Vielleicht reicht auch einfach ein Blick in ein "altmodisches" Buch, am besten in das von Jennette McCurdy.

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