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Kauf mir Armut!

Wirklich "cool" sind Dinge, die arme Menschen machen, erst, wenn sie nicht mehr von armen Menschen gemacht werden. Second-Hand-Kleidung kaufen zum Beispiel. Oder die billigen Eigenmarken im Supermarkt. Heruntergekommene Bars, abgetragene Schuhe, alte Möbel. Generell arm sein, als Charaktereigenschaft, als ästhetischer Trend, als liebenswerte Schrulligkeit. Das ist nur angesagt, wenn man nicht wirklich arm ist. Das funktioniert ausschließlich, wenn hinter den überteuerten neongelben Jacken, die aussehen wie Warnwesten von Bauarbeitern, und den Mänteln, die Blaumännern verdächtig ähnlich sind, das wohlhabende Bürgertum winkt. Mittlerweile gentrifizieren wir nicht nur Gegenden, sondern sogar die Optik einer ganzen Klasse. Aber von vorne.


Kauf mir Vintage!

Schauplatz TikTok. Dort zeigen Menschen, schon immer, ihr "Outfit of the day", also die Kleidungsstücke, die sie am jeweiligen Tag tragen wollen. Und seit längerem lässt sich dabei beobachten, dass Humana und Co. wohl zu Orten mutiert sind, an denen coole und vor allem moralisch überlegene Menschen ihre Klamotten kaufen. "Ach, die Jacke, die hab' ich natürlich gethrifted", sagen sie dann. Dementsprechend findet man in den Secondhand-Shops der Wiener Innenbezirke mittlerweile primär Studierende mit einem MacBook im zweihundert Euro teuren Freitag-Rucksack oder Kunstschaffende auf der Suche nach dem nächsten "fancy" Vintage-Anorak. Nun ist die Zweitverwertung von Kleidung, egal von wem, an sich eine wünschenswerte Sache, gerade in Anbetracht von Klimakrise und den ausbeuterischen Arbeitsbedingungen in der Fast-Fashion-Industrie. Es zeigt sich nur, dass mit der zunehmend wohlhabenderen Klientel auch die Preise der dort verkauften Kleidungsstücke ansteigen. Dann werden aus den Second-Hand-Geschäfte ganz schnell kantige Vintage-Shops, die von außen aussehen wie noble Luxusboutiquen. In denen kosten die Jacken dann auch nicht mehr zehn, sondern vierzig Euro. Dadurch macht man sich einen Ort zu eigen, der eigentlich für ärmere Menschen reserviert war. Und dabei hört es nicht auf.


Kauf mir Image!

Es gibt mittlerweile ganze Kollektionen von teuren Marken, die sich dem "poverty core" oder "homeless chic" verschrieben haben. Übersetzt: Man zahlt viel Geld, um so auszusehen, als hätte man keines. Das Label "Magnolia Pearl" gehört hier dazu. Auf ihrer Website findet man löchrige Jeans, Hosen mit Flicken, ausgewaschene T-Shirts, Schuhe, die aussehen, als hätte man sie notdürftig zusammengebastelt. Für besonders Mutige gibt es dann noch eine Latzhose voller Farbflecken, die passt schön zum grauen Arbeitsmantel, ebenfalls künstlich dreckig; ein Outfit, das schreit, ich komme direkt aus der Lackierabteilung der ortsgelegenen Autofabrik. Und das alles um mehrere hundert Euro. Jetzt lässt sich natürlich einwenden: Selbst schuld, wer dermaßen viel Geld für Klamotten ausgibt, die insgesamt so aussehen, als hätten sie alles andere als viel Geld gekostet.

Die Obszönität der Problematik liegt freilich darin, dass sich gutverdienende Menschen immer öfter Merkmale von Armutsbetroffenen und der Arbeiterklasse aneignen, allein zum Zweck, ein gewisses Image, eine gewisse "street credibility" zu transportieren. Dahinter steckt jedoch nicht der gleiche Schmerz, stecken nicht die gleichen Traumata, die Menschen erleben, wenn das Geld wirklich nicht mehr für ein Paar Schuhe reicht, wenn man statt einem neuen T-Shirt eben nur das verschlissene vom großen Bruder bekommt und den Riss in der Jeans notdürftig stopfen muss, weil eine neue nicht drinnen ist. Man erfährt nicht die gleiche gesellschaftliche Ächtung, wie es arme Menschen tun, wenn man selbst im geflickten, ausgebeulten Blazer mit zerrissener Jogginghose um je 650 Euro in der Altbau-Eigentumswohnung vor sich hin sinniert.

Armut ist keine Ästhetik, kein Trend, dem man sich für einige Monate anschließen kann, um dann kurzum wieder mit der protzigen Hermès-Tasche herumzulaufen. Für viele ist es harte Realität, die sich nicht einfach an- und ausziehen lässt. Entsprechend verhöhnend ist es, wenn Marken sie einfach zum Überstülpen verkaufen.


Kauf mir Klasse!

Freilich macht es Sinn, dass sich das wohlhabende Bürgertum in Zeiten von Inflation und Teuerung in Bescheidenheit und Understatement zurückzieht. Am roten Teppich in Hollywood sieht man immer seltener prunkvolle Diamanten und goldenen Schmuck. Schauspielerin Selena Gomez tauchte so beispielsweise ohne große Kette bei den Golden Globe Awards auf. Meine Güte, nicht einmal Prinzessin Kate trug ein richtiges Diadem bei der Krönung von König Charles. Man will vermitteln: Wir verstehen euch, auch wir machen Abstriche. Vorbei ist der bunte, angeberische Y2K-Style, bei dem man mit sichtbaren Luxusmarken und dere Logos nur so um sich geworfen hat. Die Bedürfnislosigkeit hält Einzug. Zurückhaltende Mode ist wieder da, lange, einfärbige Kleider, bloß nicht zu extravagant, lieber still und minimalistisch. Das passt auch in die "Rocksaumtheorie" von Ökonom George W. Taylor. Der Amerikaner stellte fest, dass, zeitlich etwas verzögert, bei ökonomischem Aufschwung Frauenröcke immer kürzer werden, geht es der Wirtschaft hingegen schlecht, werden sie wieder länger. Der Rocksaum und der New Yorker Aktienindex stehen also in einem direkteren Zusammenhang, als man annehmen würde.

Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux schreibt in ihrem Buch "Die Jahre" folgendes: "Die Gesellschaft bekam einen neuen Namen, sie hieß jetzt ‚Konsum-Gesellschaft'. (. . .) Die Zeichen der Zeit standen auf Geldausgeben, und so schaffte man sich unermüdlich Gebrauchsgegenstände und Luxusgüter an. Man kaufte eine Kühl- und Gefrierschrank-Kombination, einen Renault 5, (. . .) man erwarb einen Farbfernseher. Bunt war die Welt viel schöner (. . .). Die Werbung zeigte, wie man zu leben, sich zu verhalten, und seine Wohnung einzurichten hatte, sie war die Kulturanimateurin der Nation." Nun existiert die Konsumgesellschaft nach wie vor, sie präsentiert sich heute aber anders. Wer Maßlosigkeit ungeniert zur Schau stellt, muss mit starken Gegenreaktionen rechnen. Man konsumiert daher lieber verdeckt, hinter gekünstelter Nachhaltigkeit und inszenierter Bescheidenheit; übernimmt dabei die Eigenschaften derer, die nicht im Überfluss leben, die arm sind, die hart arbeiten. Die Arbeiterklasse als reine Ästhetik. Und diese Ästhetik kann sich zufälligerweise nur jemand leisten, der nicht zur Arbeiterklasse gehört.

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