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Hinter dem Schleier

Über eine halbe Milliarde Frauen führen heute weltweit ein Leben hinter dem Schleier. Vergleicht man religiöses Leben mit der Schule, ist die Verschleierung eine Zusatzaufgabe. Für die es auch Zusatzpunkte gibt. Durch das Tragen des Niqab, einer Vorstufe der Burka, sammelt Lütfiye Zusatzpunkte bei Allah. Pöbeleien und Beschimpfungen stehen für die 52-Jährige an der Tagesordnung. „Aber das zu ertragen bringt noch mehr Punkte", sagt sie. Nach Schätzungen leben in Österreich rund 100 Frauen voll verschleiert. Während Lütfiye ihren Niqab in Wien in der Öffentlichkeit tragen darf, ist das muslimischen Frauen in Belgien seit 2010 verboten. Dort wurde das Tragen von Ganzkörperschleiern vom Parlament unter Strafe gestellt, die Buße beträgt 25 Euro oder sieben Tage Gefängnis.

Viele aus traditionellen Familien stammende muslimische Frauen tragen nicht nur beim Moscheebesuch ein Kopftuch („Hijab"), sondern auch im Alltag. Nämlich dann, wenn Kontakt mit nicht-verwandten Männern möglich ist. Was natürlich jedes Mal der Fall ist, wenn die Frauen das Haus verlassen. Die Verhüllung des weiblichen Kopfes oder des Gesichts wird heute in der Regel nicht mehr als Unterdrückung, sondern - ganz im Gegenteil - als Zeichen der Selbstbestimmung empfunden. So geht es auch Sarah Momani. Die 21-Jährige hat sich vor drei Jahren dazu entschlossen, Kopftuch zu tragen. „Für mich ist das Kopftuch eine Art Befreiung. Wir leben in einer Welt, die sehr körperfixiert ist. Meine Kleidung drückt aus, wer ich bin. Wenn ich nicht jedem meinen Körper zeigen will, dann muss ich das auch nicht." Ihre Eltern waren nicht begeistert von der Idee. Zu groß war die Sorge darüber, ihre Tochter könnte gemobbt werden und später keinen Job finden. Doch mit 18 stand für sie fest: „Ich trage ab heute Kopftuch." Aus religiöser Überzeugung, die sie als Teil von sich sieht und die sie auch so leben will. „Ich mach das für mich selbst", sagt sie. Einen Niqab oder eine Burka zu tragen, ist für sie aber kein Thema. „Oft verwechseln die Menschen Kultur mit Religion", sagt sie. „Und die Burka hat einen traditionellen Hintergrund." Ähnlich sieht das auch die 24-jährige Hanim: „Schwarz war nie die Farbe des Islam. Hat unser Prophet nicht gesagt, wir sollen farbenfroh sein? Und steht im Koran nicht ‚mit der Zeit gehen'? Die Bildungslücke mit Schleier zu verdecken funktioniert halt nicht", ärgert sich die Zahnarzt-Assistentin.


Muslim zu sein heißt für Außenstehende, viele Opfer bringen zu müssen. Doch wer die Religion lebt, empfindet das anders. Alleine für die Frage „Was kommt nach dem Tod?" lohnen sich die vermeintlichen Mühen. „Wir Muslime sehen dieses Leben als eine Art Prüfung. Je nachdem, wie wir uns in diesem Leben verhalten, fällt unsere Belohnung im Jenseits aus", erklärt Sarah. Rosinen herauspicken ist da nicht drin. „Eine Frau, die sich verschleiert, verdient Ehre und Respekt." Ein muslimischer Prediger vergleicht in einem You-Tube-Video verschleierte Frauen mit Perlen: „Muscheln beschützen ihre Perlen auch, indem sie sie verdecken." Sarah, die aus Vöcklabruck kommt, wird oft dafür gelobt, wie gut sie Deutsch spricht. „Ich bin Österreicherin. Das ist mein Land und meine Heimat. Aber das heißt nicht, dass ich keine Muslime sein kann." Aber wie kommt es, dass viele Leute den Koran zum Schaden anderer auslegen? Dass Fundamentalisten verrückte „Kriege" im Namen Allahs führen und sich dabei auf die Heilige Schrift berufen? Auch darauf hat Sarah eine Antwort: „Es werden oft Verse aus dem Koran herausgenommen, die nur mit Hintergrundwissen und in einem gewissen Kontext zu verstehen sind. Noch dazu ist Arabisch eine sehr komplexe Sprache, ein Wort kann mit vielen Wörtern übersetzt werden." Der Koran verbietet ganz klar Zwang und jede Art von Gewalt. Dinge wie den elften September würde der wahre Islam niemals gutheißen, sagt sie. Und auch keine Zwangsverheiratung, die untersagt der Koran sogar ausdrücklich. „Aber es gibt leider überall auf der Welt Spinner." Oder auch Spinnerinnen wie die Frau, die sich im Zug zu Sarah setzt und sie fragt, wann sie plane, die Theologische Fakultät in die Luft zu sprengen und alle Katholiken zu töten. „Es ist natürlich traurig, so angegriffen zu werden." Doch Sarah selbst kann solche Übergriffe sogar irgendwie verstehen: „Wenn ich nur das über den Islam wissen würde, was in den Zeitungen steht, dann hätte ich wahrscheinlich auch Angst." Text: Michaela Eva Helfrich Foto: Bilderbox

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