Kontrollen ja, Gewalt nein: Das Wochenende nach den Ausschreitungen bleibt in Stuttgart friedlich. Aber es wird klar, dass ein Riss durch die Stadt geht.
Der Stuttgarter Schlossgarten, eine Woche nach der Randale. Ältere Herren plaudern auf einer Bank. Eine Gruppe Studierender isst Pizza. Zwei Frauen in Yoga-Klamotten haben ihre Thermoskannen dabei. Es ist ein warmer Freitagabend, gerade zieht ein Gewitter ab. Über den Park verteilt stehen kleine Gruppen von Jugendlichen, lachen, trinken und hören Musik.
Und doch trügt das Idyll. Die Polizei hat 500 Beamte in die Stuttgarter Innenstadt geschickt. Bis in die Nacht hinein kontrollieren sie Jugendliche und nehmen Personalien auf. Ein Polizeisprecher sagt, man habe einzelne Personen genau im Blick. Stuttgarts Ordnungsbürgermeister Martin Schairer betont, man wolle "einschreiten, bevor etwas passiert". Auf keinen Fall soll sich die Gewalt vom vergangenen Wochenende wiederholen.
Hunderte Jugendliche, meist männlich und alkoholisiert, hatten sich in der Nacht zum vergangenen Sonntag Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. Ihren Anfang nahm die Randale im Schlossgarten, rund um den Eckensee. Die Jugendlichen plünderten Läden, demolierten Polizeiautos, schmissen Schaufensterscheiben ein. Erst in den frühen Morgenstunden gelang es der Polizei, die Lage in den Griff zu bekommen. Bis heute wurden 26 Tatverdächtige festgenommen, der älteste 33 Jahre, der jüngste 16 Jahre alt.
Es war ein Gewaltausbruch, der deutschlandweit Erstaunen hervorrief: Wie konnte es so weit kommen? Und warum gerade in Stuttgart, einer Stadt, die bislang als Beispiel für deeskalierende Polizeiarbeit und Integration galt?
"Es driftet etwas auseinander"Serkan Bicen sagt, auch ihn habe das Ausmaß der Gewalt schockiert. Und doch kam für ihn die Eskalation des vergangenen Wochenendes nicht so überraschend wie für viele andere.
Bicen, 32 Jahre alt, ist Streetworker. Seit Jahren arbeitet er im Stuttgarter Stadtteil Stammheim mit Jugendlichen aus schwierigen Verhältnissen. Auch er ist an diesem Abend in der Innenstadt unterwegs, um da zu sein, falls es zu neuen Konflikten kommt. Bicen sagt, dass ihm die Lage in Stuttgart schon länger Sorgen bereite: "Gesellschaftlich driftet etwas auseinander."
Glaubt man Bicen, so hat die Gewalt des vergangenen Wochenendes auch einen Riss offenbart, der sich durch die Stadt zieht. Auf der einen Seite die Jugendlichen vom Eckensee, die dort feiern wollen, weil sie nicht genug Geld haben, um in Bars und Clubs zu gehen. Auf der anderen Seite eine Stadtgesellschaft, die die Jugendlichen zum Großteil nur als Problem begreift, das möglichst bald verschwinden müsse. "Respektlos", so empfindet Bicen das Verhalten vor allem der Polizei gegenüber den Jugendlichen.
Schon länger berichteten diese ihm, dass die Polizei sie unter Druck setze. "Das sind normale junge Leute, die da nur sitzen und feiern, und dann stürmt eine Hundertschaft Polizisten auf die zu und will die Ausweise sehen", sagt er. Oft laute die schroffe Anweisung der Beamten dann, nach Hause zu gehen. Bicen glaubt, dass sich auf diese Weise ein Frust angestaut habe, der sich bei einer Polizeikontrolle am vergangenen Wochenende in Gewalt entladen habe.
"Wir haben in Stuttgart ein Problem, miteinander zu kommunizieren", sagt Bicen. Er kann lange darüber sprechen, was in der Stadt schiefläuft. Und er sagt, dass es jetzt darauf ankomme, dass sich beide Seiten zuhören und wieder näherkommen. Es gebe gute Ansätze, wie etwa den Jugendrat, Flüchtlingsprogramme und viele Angebote zur Integration. Doch das ändere nichts daran, dass sich viele der jungen Menschen im Stich gelassen fühlten. "Ich kritisiere das Auftreten von Ordnungshütern, die vielen Kontrollen und dass sich konservative Kräfte in unserer Stadt gestört fühlen."
Hört man sich an diesem Wochenende unter den Jugendlichen im Schlossgarten um, findet man kaum jemanden, der die Gewalt gutheißt. Viele sagen, sie seien nicht dabei gewesen. Andere haben die Randale mitbekommen, beteuern aber, nicht mitgemacht zu haben.
Ein Jugendlicher namens Michu zeigt ein Video aus der Nacht der Krawalle. Es zeigt eine Gruppe von Polizisten, die vor einer immer größer werdenden Menge zurückweicht. "Very bad", sagt er, zuckt mit den Achseln und dreht sich wieder seinen Freunden zu.
Nico, 23 Jahre alt, behängt mit mehreren Silberketten, sagt, er könne es verstehen, wenn mancher Jugendliche ausflippe, wenn er jedes Mal wieder von der Polizei aufgegriffen und zum Heimgehen aufgefordert werde. Er selbst sei außerdem schon im Gefängnis gewesen: "Hab halt Scheiße gebaut, Drogen, eine Verfolgungsjagd mit der Polizei."
Drei 16-jährige Mädchen aus Winnenden finden den Schlossgarten "einfach fresh". Ihre Mutter habe sie heute gewarnt, sagt Jolina, wenn Stress mit der Polizei aufkäme, solle sie einfach schnell wegrennen.
Tatsächlich gibt es schon länger Konflikte zwischen den Jugendlichen im Schlossgarten und der Polizei. Erst im vergangenen Herbst wurde ein 18-Jähriger mit einem Messerstich verletzt. Anschließend kam es zu Auseinandersetzungen der Jugendlichen mit Polizeibeamten. Vor vier Wochen kam es zu einem weiteren Zwischenfall. In der Nacht vom 30. auf den 31. Mai saßen etwa 500 Menschen auf dem Platz und missachteten die Corona-Auflagen. Als die Polizei gegen Mitternacht einschritt, bewarfen Menschen die Beamten mit Steinen und Flaschen.
Aus Sicht der Polizei stellt sich die Lage fundamental anders da als für den Streetworker Bicen. Die Stuttgarter Innenstadt, so heißt es, habe sich zunehmend in eine Partymeile verwandelt. Immer wieder komme es zu Straftaten. "Drogen, Alkohol, Beleidigungen, Respektlosigkeit" – so fasst Ralf Kusterer, der Sprecher der Polizeigewerkschaft Baden-Württemberg, die Lage im Schlosspark zusammen. Die Beamten machten sich oft "zum Affen", weil sie am Ende nichts ausrichten könnten.
Bereits 2016 hatte die Polizei zusammen mit der Bundespolizei für die Stuttgarter Innenstadt ein Sicherheitskonzept erarbeitet. Das Papier sah eine Sondereinheit von 100 Beamten vor. Sie sollte rund um den Schlossplatz Präsenz zeigen und Konflikte früh eindämmen. Es war der Versuch einer Strategie der Prävention – einer Strategie, die seit den Krawallen der vergangenen Woche gescheitert ist. Nun hat die Polizei eine Sonderermittlungsgruppe "Eckensee" eingerichtet, die mittlerweile 100 Beamte umfasst.
Auch die Politik setzt auf Härte und Verbote. Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) kündigte an, mit "aller Härte" gegen Randalierer vorzugehen. Bundesinnenminister Horst Seehofer sagte: "Strafen sind immer das beste Mittel an Prävention, um so was in Zukunft zu vermeiden." Und Ministerpräsident Winfried Kretschmann forderte ein Alkoholverbot für öffentliche Plätze.
Wer kümmert sich um die Abgehängten?
Doch diejenigen, die mit den Jugendlichen täglich arbeiten, halten die neue Strategie der Härte für einen Fehler. "Das wird die Situation nur verschlimmern", sagt Martin Kapler, der in Stuttgart mehrere Jugendhäuser leitet. Die Jugendlichen bräuchten eher mehr Plätze in der Stadt, an denen sich sie sich – natürlich gewaltfrei – ausleben dürften. Wenn die Politik jetzt nur mit Strenge und Härte antworte, könne bei den jungen Leuten der Eindruck entstehen, das Leben in der Stadt finde nun endgültig ohne sie statt. Kapler sagt, viele der Jugendlichen, um die es gehe, hätten zu Hause nicht einmal ein eigenes Zimmer. "Wo sollen sie denn hin?"
Auch Gari Pavkovic, seit 2001 Integrationsbeauftragter der Stadt Stuttgart, kennt die Szene am Schlossgarten. Er sagt: "Es gibt dort eine Gruppe junger Menschen, die wir zuletzt nicht erreicht haben." Fast jeder zweite Jugendliche hat in Stuttgart einen Migrationshintergrund – der Anteil liegt weit höher als in Berlin oder Hamburg. Bisher hat die Stadt die dadurch entstehenden Probleme relativ gut gemeistert. Das Bündnis für Integration, das der frühere Oberbürgermeister Wolfgang Schuster nach der Jahrtausendwende auf den Weg gebracht hatte, gilt als vorbildhaft. Selbst die Vereinten Nationen loben den Stuttgarter "Gemeinschaftsgeist".
Nun aber, sagt Pavkovic, stehe Stuttgart vor einem Problem, das alle Großstädte betreffe. "Abstand halten in Zeiten von Corona ist gut", sagt Pavkovic. "Aber wie wollen wir künftig Kontakt halten zu Gruppen, die ohnehin abgehängt sind?" Selbst wenn der Großteil der Integration gut gelingt, gibt es eine wachsende Gruppe, die vergleichsweise chancenlos Anschluss an die Gesellschaft sucht. Das sei kein Problem, das Stuttgart allein habe, sagt Pavkovic. Vielmehr stehe dieses Phänomen, beschleunigt durch die Veränderungen in der Corona-Krise, allen deutschen Großstädten bevor. Die Gewalt von Stuttgart, sagt Pavkovic, sei deshalb ein Signal an das ganze Land, die Verlierer in Zeiten der Pandemie nicht aus dem Auge zu verlieren.
Burak Özüak sieht das ähnlich. Özüak arbeitet als gewaltpräventiver Trainer in Schulen und Justizvollzugsanstalten. Er kennt die Gruppe jener, die schon zu Schulzeiten als hoffnungslose Fälle gelten. Viele Lehrer würden diese Schülerinnen und Schüler zu früh aufgeben, sagt Özüak, in der Annahme, dass diese sowieso keinen Abschluss machen werden. Am vergangenen Wochenende hätten viele dieser Jugendlichen in Stuttgart versucht, den Spieß umzudrehen. Sie hätten die Rolle des Underdogs und Störenfrieds bewusst angenommen und fatalerweise zu etwas Coolem verklärt: "Nach dem Motto: Schaut her, wir sind auch da und wir gehen nicht weg, auch wenn ihr uns an den Rand drängt."
Eine Milliarde für die Opernsanierung
Ein Aufstand der Underdogs gegen das Establishment? Unübersehbar ist, dass der Stuttgarter Schlossplatz auch der Ort ist, an dem das gehobene Stuttgarter Bürgertum unmittelbar auf das Stuttgart der Auszubildenden, Asylbewerber und Ex-Häftlinge trifft. Oberhalb des Schlossparks liegt das Landtagsgebäude von Baden-Württemberg. Auf der Terrasse sind die Tische weiß gedeckt, auf der Karte stehen Oktopusragout und Kalbsleber. Daneben thront der Littmann-Bau, Spielstätte der preisgekrönten Stuttgarter Oper. Von hier oben sind es nur wenige Hundert Meter bis zu jenen, die weiter unten im Gras sitzen und feiern.
Seit zwölf Jahren debattiert die Stuttgarter Stadtgesellschaft darüber, ob der Littmann-Bau und damit die Stuttgarter Oper saniert werden soll. Die Kosten belaufen sich auf geschätzt eine Milliarde Euro – das wäre deutlich mehr als Hamburg für den Bau der Elbphilarmonie ausgegeben hat. Fast eine halbe Million Menschen besuchen die Vorstellungen der Württembergischen Staatstheater jedes Jahr. Zum Publikum zählen eher nicht diejenigen, die weiter unten im Schlossgarten sitzen. "Oper – okay, aber wer geht da hin?", fragt auch der Streetworker Serkan Bicen.
Einst gab die Stadt auch für ihn und die jungen Menschen im Schlossgarten Geld. Die Stadt hatte ein Streetworker-Projekt gestartet, das bundesweit Beachtung fand. Streetworker mischten sich unter die Partyleute, es gab eine enge Zusammenarbeit von Polizei, mobiler Jugendarbeit und Drogenberatungsstellen in der Innenstadt. Ende 2013 wurde das Projekt aus Kostengründen eingestellt. 195.000 Euro hätte eine Verlängerung um vier Jahre gekostet. Seither sind die Streetworker wieder in ihren jeweiligen Stadtvierteln im Einsatz und weniger dort, wo alle zusammenkommen: in der Innenstadt.
Serkan Bicen hält die jetzige Politik der Kontrollen und Härte für einen Fehler. Und er appelliert an die Stadtgesellschaft, die Jugendlichen nicht als Problem zu betrachten, sondern sie stärker einzubinden. Statt weiterer Polizisten brauche es jetzt vor allem mehr Dialog. "Wir sind doch eine Konsensgesellschaft", sagt er.