So verschieden die 23 Stadtteile Kassels sind, so unterschiedlich ist auch ihr Ruf. Waldau mit seiner Wohnstadt gehört nicht zu den Orten, die in Touristenprospekten auftauchen. Die Architektur erscheint nicht mehr zeitgemäß. Die Integration stellt die Bewohner vor Herausforderungen - hat der Stadtteil immerhin mehr als 60% Einwohner mit Migrationshintergrund. Mit 27 Prozent Wahlbeteiligung bei der Ortsbeiratswahl zeigten die Waldauer mit das geringste Interesse an der Gestaltung der Politik in ihrem Stadtteil.
Für Kassels Identität in den Nachkriegsjahren spielte Waldau aber eine größere Rolle als manch heutige Vorzeigegegend. Vor allem das derzeitige Sorgenkind - die Wohnstadt - trug in den 1960er-Jahren dazu bei, tausenden Menschen ein würdiges Zuhause in der immer noch unter der Zerbombung leidenden Stadt zu bieten. Die Wohnstadt war ab 1963 eines der größten Bauprojekte in Kassel. Innerhalb kurzer Zeit entstanden hier 2000 Wohnungen für 7000 Menschen. Eine Wohnung in den Blocks war ein Schritt auf dem Weg in ein eigenständiges, wenn auch bescheidenes Leben.
So auch für Gerhard und Monika Dietzel. Wir treffen das Ehepaar im Stadtteiltreff Somowar in der Breslauer Straße. Eine Erdgeschosswohnung ist hier zu einem Gemeinschaftstreffpunkt umfunktioniert worden. Gerhard Werner von Arbeitskreis Waldauer Geschichte(n) hat das Treffen organisiert. Vier Zeitzeugen aus drei Familien sind gekommen. Gesprächsstoff gibt es genügend, sofort sprudeln die Erinnerungen.
Die Dietzels zogen 1967 in einen Block am Vautswiesenweg ein. An die damalige Euphorie erinnern sie sich, als hätten sie sie gestern gespürt:
Der Raum, den das Paar mit Kind zuvor bei Gerhard Dietzels Eltern bewohnte, befand sich nicht im eigentlichen Elternhaus. Dieses war an der Obersten Gasse gelegen und in der Bombennacht zerstört worden. Die Familie fand zunächst ein neues Domizil in Niederzwehren. Inklusive einem bescheidenen Zimmer für das junge Paar.
Mit dem Umzug nach Waldau verbesserte sich zwar die Wohnsituation, dies hatte aber seinen Preis. Dietzel verdiente bei der Bundeswehr 620 Mark im Monat. 219 davon gingen für die Miete drauf. Man hatte relativ wenig Geld und musste immer auf die Ausgaben schauen, um am Monatsende keine Schulden zu haben, berichten die Eheleute.
Ein Vorteil für die Dietzels war, dass sie in eins von mehreren Häusern in der Wohnstadt zogen, die für Bundeswehrangehörige reserviert waren. Diese Blocks seien bedeutend besser ausgestattet gewesen als die normalen, erinnert sich der 71-Jährige. Sieben Jahre blieb die Familie am Vautswiesenweg wohnen, zog dann für weitere Sieben Jahre an die Breslauer Straße, ebenfalls in der Wohnstadt. Nach weiteren sieben Jahren folgte dann der Umzug ins Eigentum im alten Stadtkern Waldaus.
"Das große Los gezogen" - das hatte auch Gudrun Liebergesell, als sie 1967 in einen Block an der Breslauer Straße zog. „Wir waren einfach nur glücklich, das war der pure Luxus", sagt die heute 73-Jährige. Sie wohnte bis zum Umzug in einer Altbauwohnung, in der man noch die Kohlen aus dem Keller hochschleppen und den Badeofen lange vorheizen musste. 1967 dann der Umzug nach Waldau an die Breslauer Straße. Eine Wohnung mit fließend warmem Wasser, Zentralheizung und Platz genug für die junge Familie.
Ähnlich hat das auch Elke Wilhelm (70) erlebt. Als sie mit ihrem Mann die Zusage für eine Zweizimmerwohnung bekam, wusste sie noch nicht einmal die genaue Adresse. „Es war egal, wir hätten alles genommen", sagt sie. Bei Tapeten Grisel durften sie sich ihre Wunschtapete zu einem vorgegebenen Preis aussuchen. Die Wohnungen seien unter anderem mit einem Elektroherd in der Küche und einer Anrichte ausgestattet gewesen. In der Wohnstadt Waldau bauten unter anderem die Gewobag (die heutige GWH), die gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft der Stadt Kassel GWG und die Hessische Heimstätte.
Die meisten neuen Bewohner hatten zwei Dinge gemeinsam. „Wir waren jung und verdienten nicht viel Geld", sagt Elke Wilhelm. Vielleicht sei auch deshalb der Zusammenhalt in der Waldauer Nachbarschaft besonders groß gewesen. Man half sich untereinander. Für größere Feierlichkeiten gab es meist keine Zeit, vor allem aber kein Geld. Die Möglichkeiten, die es gab, nutzte man aber auf unkonventionelle Weise, etwa an Fasching:
"Gibt's natürlich heute nicht mehr", mochten auch die angestammten Einwohner Waldaus über ihre bisherige Lebensart gedacht haben, als die ersten Blocks der Wohnstadt hochgezogen wurden. Der Stadtteil war jahrhundertelang ein Bauerndorf gewesen. Noch bei der Eingemeindung nach Kassel im Jahr 1936 wurden 70 Prozent der 6,48 Quadratkilometer großen Fläche landwirtschaftlich genutzt. Das ist heute kaum noch vorstellbar - die Wohnstadt und das Industriegebiet, das um die Jahrhundertwende erst Truppenübungsplatz, dann bis in die 1960er-Jahre hinein ein Flugplatz war, nehmen einen großen Raum im Stadtteil ein. Das Vergleichs-Bild unten verdeutlicht, wie weitreichend der Unterschied zwischen dem Dorf in den Vorkriegsjahren und der Wohnstadt ab den 1960er-Jahren ist.
Energisch hatten sich die Waldauer 1936 gegen die Eingemeindung gewehrt. Als sie dennoch kam, haben die Waldauer einzelne Vergünstigungen wie zum Beispiel das Hausschlachtrecht und die Nichteinbeziehung in die Müllabfuhr bis zum Jahr 1960 herausholen können. 1945 versuchten die Einwohner, ihre Selbständigkeit zurückzugewinnen. Sie konnten nur mit dem Hinweis auf die komplizierte Trennung des inzwischen an die Stadt angeschlossenen Strom- und Wasserleitungsnetzes beschwichtigt werden. Sogar 1955 wurde noch über die Ausgemeindung diskutiert, gab es doch viele Verbindungen nach Bergshausen, wie unsere Zeitung damals berichtete.
Diese undatierten Aufnahmen aus dem HNA-Archiv zeigen in der folgenden Fotostrecke, wie ländlich Waldau ursprünglich war.
1976 hatte sich die Zusammensetzung der Bewohner komplett verändert: Von 6797 Waldauern, die damals gezählt wurden, lebten 5642 in der neuen Stadt. Auf 450.000 Quadratmetern - einer Fläche von 45 Fußballfeldern - waren Mehrgeschosser entstanden. 70 Millionen Mark waren als Baukosten veranschlagt. Wie die Hessische Allgemeine berichtete, war Kassels Oberbürgermeister Karl Branner extra nach Kopenhagen gereist, um sich aus erster Hand über die schnelle Fertigbauweise für solche Häuser zu informieren. Die Skandinavier hatten demnach auf diesem Gebiet schon viel Erfahrung gesammelt.
Die Rechnung bei der Gewobag, einer der beteiligten Wohnungsbaugesellschaften, lautete: Die ersten 244 Wohnungen sollen dank Fertigbauweise in elf Monaten fertig werden. Für eine ähnliche Zahl an Wohnungen habe man in Helleböhn noch ganze 27 Monate gebraucht, schilderte Gewobag-Direktor Rudi Löwe 1962 in einem Artikel.
Außerdem sei auch bei der Fertigbauweise bei kurzen Fristen das Risiko der Kalkulation viel geringer als im konventionellen Bauen mit seinen längeren Fristen. Das habe dazu geführt, dass die Gesellschaft die neuen Wohnungen in Waldau mit mehr Komfort habe ausstatten können. Außerdem seien die Wohnungen größer geworden.
Alle Gewobag-Häuser wurden an ein zentrales Heizwerk angeschlossen, verfügten über fließend warmes Wasser, über eine Essnische direkt neben der Küche und getrenntes Bad und WC. Alle Fenster waren mit Doppelglas ausgestattet. Die 452 Wohnungen im ersten und zweiten Bauabschnitt umfassten 107 Zweizimmerwohnungen mit einer durchschnittlichen Größe von 64 Quadratmetern, 238 Dreizimmerwohnungen mit einer Größe von etwa 75 Quadratmetern und 107 Vierzimmerwohnungen mit einer Größe von rund 87 Quadratmetern. Sie waren öffentlich mit Darlehen des Landes Hessen und der Stadt Kassel gefördert und für Pendler, Fachkräfte der Wirtschaft sowie für Evakuierte und Menschen aus Wohnungsnotstandsfällen bestimmt.
In dieser Zeit wurde das Betonwerk im Stadtteil Nordshausen gegründet, das unter anderem die Fertigteile für Häuser in Waldau und am Brückenhof produzierte. "In die Betonwände hat man keinen Nagel reinbekomme", erinnert sich Gerhard Dietzel heute. Allerdings wurden in Waldau auch zahlreiche Häuser ganz konventionell Stein auf Stein gemauert.
Das Erscheinungsbild der Wohnstadt ist über die Jahrzehnte ähnlich geblieben. Vieles hat sich aber auch verändert. Den Bewohnern der ersten Stunde fällt einiges ein. Die Nationalität vieler Bewohner. Riesige Bäume, wo einst Rasen war. Wohnungsbaugesellschaften, die kamen und gingen. Einzelhändler, die ständig wechselten, bis am Ende kaum einer blieb. Müll auf der Straße. Aber den gebe es auch überall. Und viel mehr Autos. Bei einem Spaziergang durchs Viertel kommen viele Erinnerungen an die Zeit, als eine Dreizimmerwohnung in einem Block noch Luxus war.
Bilder: Waldauer Geschichte(n)/Otto/Franiek/Baron