Prachtstraße, Kneipenmeile, Hauptschlagader des Vorderen Westens: Die Friedrich-Ebert-Straße in Kassel vereint unterschiedliche Charakterzüge und zieht die unterschiedlichsten Menschen an. Ihre gegenwärtige Erscheinung ist auch deshalb so abwechslungsreich, weil ihre Vergangenheit so vielfältig ist. Von den Protzbauten des Kaiserreichs zum Boulevard des Jahres 2015 hat sie einen grundlegenden Wandel vollzogen, einen Wandel, der stellvertretend für die Entwicklung der gesamten Stadt steht.
Carlo Jennewein, Jahrgang 1951, kennt das Quartier wie seine Westentasche und ist trotzdem überrascht, wenn er die Bilder aus seiner Jugend sieht. „Unser Laden, der steht da ja wie ein Fels in der Brandung", sagt der Enkel des Firmengründers Heinrich Müller. Bis heute ist der Name Wein-Müller ein Begriff. Nach dem Krieg zog der Laden aus der Mittelgasse in der völlig zerbombten Altstadt an die ebenfalls vom Krieg gezeichnete Friedrich-Ebert-Straße um. Im Haus mit der Nummer 80 wuchs Karl-Heinz Jennewein, den alle Carlo nennen, auf.
Direkt neben dem Weinladen und dem Haus der Eltern befand sich ein Trümmergrundstück, auf dem man im Winter Schlitten fahren konnte. „Es war eine kleine Erhöhung, mit vielleicht zehn, 20 Metern Länge. Es ging rauf und runter, zehn Mal am Tag und noch mehr."
Auch auf der anderen Straßenseite lag ein Trümmerhaufen. „Als er weggebaggert wurde, liefen die Ratten schreiend heraus. Dann wurde mit Schippen auf sie draufgeschlagen", erinnert sich Jennewein.
„Wir hatten einen riesigen Abenteuerspielplatz vor der Haustür", sagt er rückblickend. „Abenteuer pur. Da brauchte man keine Rutschen oder so etwas bauen lassen. Wir sind einfach aus dem ersten Stock gesprungen, auf die Trümmerhaufen drauf. War natürlich gefährlich. Man fand zwar keine Waffen, aber irgendwelche Metallteile waren da schon."
An die Friseurin von gegenüber, die immer mit ihrem flotten Borgward Isabella vorfuhr, erinnert er sich. An den Seniorchef des Cafés Lange, das sich damals noch einige Häuser entfernt Richtung Querallee befand. Der stellte immer den Kuchen zum Abkühlen in den Hinterhof und verscheuchte die Hühner, die sich neugierig näherten. Als kleiner Junge erlebte Jennewein noch den Betrieb in der Weinstube der Großeltern, die bis 1957 geöffnet war.
„Meine Mutter hat mir immer erzählt, dass sie diese Jahre besonders schön fand", sagt er. Der Zusammenhalt zwischen den Nachbarn sei ausgesprochen groß gewesen. Man habe viel zusammen gefeiert und gelacht. Vielleicht auch, weil keiner viel Geld hatte und alle in bescheidenen Verhältnissen lebten. Die Kohleheizung und die Toilette im Treppenhaus waren normal. Zum Spielen haben sich die Kinder nicht nur auf den Trümmergrundstücken, sondern auch auf dem Bolzplatz am Motzberg, der Motze, getroffen.
Eine Esso-Tankstelle gab es um die Ecke, das erste Geschäft von Eis-Wagner, die Kneipe „Blonde Kathrein" und die Bratwurstbude Faust. Viel Verkehr gab es damals noch nicht. „Wir konnten noch auf der Straße spielen", sagt der 64-Jährige. Auf die Straßenbahn musste man aber auch schon achten. Die rollte bereits über die frühere Hohenzollernstraße.
Wie die Hohenzollernstraße aussah, ist von unserer Zeitung ab 1946 stückweise dokumentiert worden. Dank des Archivs, zu dem auch unsere Abonnenten Zugang haben, ergibt sich ein detaillierter Blick auf die Anfangszeit des Vorderen Westens, der hier in Auszügen dargestellt wird. Die Entwicklung des Quartiers begann im Frühjahr 1870. Davor hörte Kassel am Ständeplatz auf. Dahinter lagen Richtung Westen Gärten, in denen die Kasselaner zwischen Blumen spazierten und in Gartenhäuschen beieinander saßen.
Wo sich heute das Gebäude der Landesversicherungsanstalt erhebt, spülten an einer Wasserstelle Frauen und Mädchen die Wäsche. Im Grunde aber bildete noch in den 1880er-Jahren die Städtische Kaserne an der Westendstraße den Abschluss der Stadt nach Westen.
Im Kasseler Adressbuch von 1872 erschien die Hohenzollernstraße zum ersten Mal. Sie zählte damals zwei Häuser. 1877 gab es 20 Häuser, 1887 waren es 60, 1897 schon 82. Jetzt hatte die Straße das eigentliche Stadtgebiet überschritten: Jenseits der Querallee lag Wehlheiden, das nun immer mehr mit Kassel zusammenwuchs.
Ohne die Initiative des Kasseler Industriellen Sigmund Aschrott wären die Planung und die Bebauung des Westens und damit auch der Hohenzollernstraße nicht so konsequent gewesen. Schon 1870 war der Jude Aschrott starken Anfeindungen ausgesetzt. In Leserbriefen in den Zeitungen warfen Grundstücksbesitzer, die für den Hohenzollernstraßenbau Gelände abgeben sollten, Aschrott unlautere Bereicherung und üble Spekulationen vor. Aschrott antwortete, er tue alles nur im öffentlichen Interesse. Er wolle vermeiden, dass es später in den neuen Stadtgebieten einmal Winkelecken gebe wie neben dem Kunsthaus am Ständeplatz. Seine Planungen bewirkten unter anderem, dass der Westen wirkliches Wohngebiet wurde und ohne Industrie blieb.
Es war die Zeit heftiger Bodenspekulation. Aschrott hatte bereits gewaltige Areale zusammengekauft, vorwiegend in Wehlheiden, Wahlershausen, Kirchditmold. Er erwarb hier das Recht zum Straßenbau, schuf eigene Büros für Vermessung und Verwaltung, sorgte überall aber auch für Grünanlagen: Bismarckplatz (Gelände der späteren Eisenbahndirektion), Aschrott-Park, Flora-Park, den er der Stadt später zur Errichtung der Stadthalle schenkte. Für einige neue Gotteshäuser stiftete er das Gelände. „Wo eine Kirche steht, werden auch Häuser gebaut" soll Aschrott gesagt haben.
Die Kommunalpolitik jener Jahre vertrat den Standpunkt, dass Straßen, die zur Erschließung neuen Baugeländes dienten, von den Interessenten selber angelegt werden müssten. Auch hier war Aschrott beteiligt, engagierte und finanzierte Baufirmen.
Nach Berliner und Frankfurter Vorbild überzog er zusammen mit Städteplaner Hermann Joseph das gesamte noch nicht bebaute Gebiet mit Straßen und Reitwegen nach dem Muster eines Schachbretts. An Verkehrsknotenpunkten plante er grüne Plätze, wie den Neumarkt (heute Bebelplatz), den Kaiserplatz, der sich auf der Höhe des heutigen Finanzamtes befand, oder Plätze wie den heutigen Goethestern.
Erst um die Jahrhundertwende wurde die Hohenzollernstraße in die Planung des öffentlichen Bauens mit einbezogen. 1899 entstand die Industrie- und Handelskammer zwischen Kronprinzen- und Bismarckstraße, zwei Jahre später die Landesversicherungsanstalt, 1904/05 die Oberpostdirektion (die spätere Hauptpost). Weiter nach Westen wurden Friedenskirche und Rosenkranzkirche gebaut. 1907 standen 138 Häuser an der Straße. In den Jahren bis zum Zweiten Weltkrieg wurden nur noch 29 hinzugebaut, hauptsächlich die großen Siedlungsblocks hinter der Stadthalle, die zwischen 1911 bis 1914 emporwuchs.
Nach dem ersten Weltkrieg begann ein neuer Abschnitt in der Geschichte der Hohenzollernstraße: Geschäftsleute und Gewerbetreibende schlossen sich zu gemeinsamer Werbung zusammen, um die „City-Besessenheit" der Bewohner des Westens zu beseitigen und zu zeigen, dass man in der Hohenzollernstraße genauso leistungsfähig sei wie in der Innenstadt, heißt es rückblickend in der Hessischen Allgemeinen aus dem Jahr 1988.
Damals kursierte demnach die Meinung, der bisherige Alleecharakter der Hohenzollernstraße behindere das geschäftliche Leben und Treiben. Tatsächlich waren die einst stattlichen Baumzeilen auf beiden Seiten längst verkümmert, die Bewohner setzten sich für ihre Beseitigung ein. Bald war das meiste Grün verschwunden und 1937 die Bahn frei für eine Straßenverbreiterung zwischen Westendstraße und Querallee.
Die Bomben des Zweiten Weltkrieges trafen auch die Hohenzollernstraße schwer, besonders den innenstadtnahen Teil.
Nach dem Krieg galt der Name Hohenzollern nichts mehr, und die Stadtverwaltung benannte 1947 die Hohenzollernstraße zunächst in Karl-Marx-Straße und 1949 dann in Friedrich-Ebert-Straße um. Neben dem Namen verschwand auch das Erscheinungsbild.
Kaum eine Ecke veranschaulicht die Veränderung des Quartiers so wie die Kreuzung Friedrich-Ebert-Straße / Goethestraße. Hier beginnt der Vordere Westen. Der Standort ist identisch, der Blickwinkel auch, und dennoch zeigen sich zwei ganz unterschiedliche Stadtbilder auf den Fotos von 1930 und heute.
Die Aufnahme von 1913 zeigt die Architektur, die den Stadtteil in dieser Zeit prägte: Bürgerhäuser mit Giebeln, Erkern und Türmchen. Anlässlich der Tausendjahrfeier der Stadt wurde damals säulenartiger Festschmuck vor dem Gebäude aufgebaut.
Die Armen wohnten in der engen Altstadt, das wohlhabende Bürgertum ließ sich im weiträumigen Westteil nieder. Mit pompösen Häusern erfüllte es sich den Traum von Glanz und Gloria, verzierte die Gebäude mit allerlei Zinnen, Bögen und Säulen. Man wollte es dem Adel gleich tun und zeigte, was man hatte.
Ein für diese Haltung typischer Bau stand auch an der Ecke Friedrich- Ebert-Straße / Goethestraße, damals Hohenzollernstraße und Admiral-Scheer-Straße. Ein markanter Bau, mit allerlei Ecktürmchen. Wegen seines Pomps wurde der Baublock in der Gründerzeit mit ihren vielen Immobilienspekulationen sogar als „Hypothekenfriedhof" bezeichnet.
Im Erdgeschoss war das Hotel-Restaurant „Herkules" untergebracht. Es zählte zu den beliebtesten Treffpunkten im Quartier - mit einem entsprechend gewaltigen Bierumsatz.
Das Herkules wurde 1902 auf den Grundstücken Hohenzollernstraße 77 und Kaiserstraße 2 gebaut. Während des Baus trat die Herkules-Brauerei als Eigentümer ein und baute das Haus zu Ende. Das im Erdgeschoß gelegene Restaurant verpachtete die Brauerei. Im Mai 1919 kaufte das „Herkules" der aus der Göttinger Gegend stammende Hermann Wilhelm Schröder. Zusammen mit seiner Frau führte er das Lokal zu dessen eigentlicher Blüte.
Das Bild, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen wurde, zeigt das ganze Ausmaß der Zerstörung. Nicht nur die Altstadt, auch andere Bereiche Kassels wurden stark in Mitleidenschaft gezogen. Auch hier wurde beim Wiederaufbau nicht rekonstruiert, sondern eine „neue Stadt" gebaut.
Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges herrschte ein ganz anderer Geist, ohne Pathos. Auch die Architektur gab sich nüchtern, verzichtete auf Zierrat und zeigte sich zweckbetont wie das Commerzbank-Gebäude, das an der Stelle des Protzbaus errichtet wurde. Heute fehlen vielen jedoch die alten Fassaden, vor allem an dieser Stelle. „Es war ein wunderschönes Gebäude, das man wahrscheinlich gar nicht mehr bauen könnte, weil es so kompliziert ist. Das fehlt jetzt natürlich", sagt Karl-Heinz Jennewein von Wein-Müller. „Die anderen vielleicht auch, aber das wäre entscheidend gewesen. Damit ist viel Charme verlorengegangen."
Der ganze Stadtteil änderte seinen Charakter in den Jahrzehnten nach dem Krieg stark. Es entstand die zentrale Kneipenszene in der Stadt. Den Auftakt machten Ende der siebziger Jahre Kneipen wie Schnatters Pub, Zwylle, Knösel etc. Studenten fühlten sich besonders ins politisch grüne Herz der Stadt gezogen.
Die vorerst letzte große Veränderung erlebte die Frierich-Ebert-Straße in den Jahren 2013 bis 2015. Für Anwohner und Geschäftsleute war es eine echte Geduldsprobe: Auf einer Strecke von 800 Metern wurde die Straße zur längsten Baustelle der Stadt. Mit dem Umbau sollte sie sich von einer normalen Straße in einen Boulevard mit vielen Bäumen und reichlich Platz zum Flanieren verwandeln. 14 Millionen Euro sind dafür veranschlagt, die Hälfte davon übernimmt das Land, den Rest die Stadt.
Den Umbau der Friedrich-Ebert-Straße haben viele Geschäftsleute dazu genutzt, ihre Häuser zu renovieren. Vom Café Lange bis zum Colonia-Haus gibt es dafür zahlreiche Beispiele. Das Café wurde komplett saniert und modernisiert. Die Kundschaft hat das honoriert. Bei Lange ist mittlerweile deutlich mehr Betrieb als vor dem Umbau. Kaum wiederzuerkennen ist das Colonia-Haus. Aus einem heruntergekommenen Bürogebäude mit reichlich Leerstand ist ein eleganter Bau mit Holzelementen geworden, der vom Oxfam-Laden im Erdgeschoss bis zum Penthouse genutzt wird. Nicht weit davon entfernt wurde die Pizzeria „Da Toni" ebenfalls während der Bauphase der Straße saniert und vergrößert.
Die Aktivitäten im Zusammenhang mit dem Umbau zum Boulevard strahlen Richtung Friedenskirche und Bebelplatz aus. Das markanteste Beispiel für die Entwicklung im noch nicht umgebauten Teil zwischen der Annastraße und der Querallee ist der Altbau mit der Pizzeria Pinocchio im Erdgeschoss.
Das im Jahr 1890 gebaute Haus war seit den 1970er Jahren mit Platten verkleidet. Ansehnlich war das schon lange nicht mehr. Mittlerweile wurde das Haus nach historischen Vorlagen saniert und hat seine markante Turmspitze zurückbekommen. Jetzt sieht es fast wieder so aus wie zu Zeiten von Sigmund Aschrott.
Die großen Entwicklungen des Quartiers sind mit dem Umbau zum Boulevard vorerst abgeschlossen. Neben dem modernen Gesicht bleiben Gebäude, die die alte Pracht erahnen lassen, und der gewohnte Baustil der Nachkriegszeit. „Die Gebäude vorne, Joe's Garagage und Hot Legs, die ganze Ecke ist so geblieben, sagt Karl-Heinz Jennewein. „Es hat sich nichts dran geändert. Warum auch? Das wird so bleiben. Gut so!"
Text: Thomas Siemon, Archiv, Eugen Maier Bilder: Archiv, Stadtarchiv, Stadt Kassel, Maier Video vom Colonia-Haus mit Unterstützung durch Holzbau Kühlborn und Comnet Umsetzung: Eugen Maier