Deckenhohe Bücherregale, die zum Bleiben einladen, ein Billiardtisch und eine überschaubere Speisekarte, die dafür eine breitgefächerte Auswahl an Kaffee- und Teesorten, Speisen und Desserts bietet: Fast wirkt das Melbourner „The Terminal" wie ein herkömmliches Café. Wäre da nicht die Sache mit den Toten. Das Terminal liegt zwischen der Welt der Lebenden und Verstorbenen. Letztere dürfen dort bis zu 24 Stunden verweilen, bevor sie endgültig ins Ungewisse weiterziehen müssen.
Bleiben sie länger, wandert jede überschrittene Stunde auf den Zeitdeckel des Terminal. Eigentlich ist es Maddys Aufgabe, für das pünktliche Verschwinden ihrer Gäste zu sorgen. Sie ist Eigentümerin des Terminal, Barista und angehende Praktizierende der Nekromantie (Totenbeschwörung). Dabei zur Seite steht ihr Chay, ehemaliger Eigentümer des Lokals, begnadeter Alchemist und Maddys Mentor. Da beide keine geborenen Rausschmeißer*innen sind, bestimmt der Ausgleich der Zeitschulden ihren Alltag.
In knapp vier bis sechs Stunden bietet Necrobarista einen zweitägigen Einblick in Maddys und Chays Leben. Hinter dem Aufhänger wartet eine Geschichte um die Angst vor Tod und Verlust, der sich Entwickler Route 59 Games feinfühlig annähert. Necrobarista hinterlässt seine Spieler*innen mit der Botschaft, dass loszulassen und zu trauern niemandem leicht fällt, beides aber essentiell ist, um zu heilen. Selbst eine Person wie Maddy, die auf professioneller Basis Verstorbene betreut, steht nicht über der Ungewissheit und dem Schmerz permanenter Trennung. Sie versucht sogar, sich via der Nekromantie davon abzuschirmen. Dass es nicht mehr als eine Pflasterlösung ist, ist ihr bewusst - zugeben möchte sie es jedoch nicht.
Außerhalb von Tod und Verlust als Rahmenmotive betritt Necrobarista ähnliche thematische Pfade wie viele Spiele junger Indie-Entwickler*innen der letzten Jahre. Statt abstrakte Konzepte in den Mittelpunkt ihrer Handlung zu stellen, behandeln Indie-Spiele zunehmend die Probleme der Lebensrealitäten ihrer Schöpfer*innen.
So spricht Necrobarista auch über Existenzangst, Ich-Krisen, Kapitalismuskritik oder die Wichtigkeit offener emotionaler Unterstützung. Maddy beklagt sich beispielsweise über Miet- und Lebensmittelkosten. Das 13-jährige Wunderkind Ashley, die Maddy und Chay zu ihren Zieheltern bestimmt hat, befürchtet, nie genug sein zu können und zweifelt an ihren Fähigkeiten.
Diese Selbstinjektion blitzt auch in den leichtherzigen Momenten auf. Route 59 zelebriert mit Necrobarista die Popkultur und bombardiert ihre Spieler*innen mit Nischenwissen: Beiläufige Zitate aus Star Wars Episode IV, große Wörter aus der Literaturtheorie wie „Katabasis" oder die Geschichte von Icarus als Nebensatz, um fast-tödlichen Espressokonsum rechtzufertigen. Für das Charakter-Desgin standen, so Lead Artist Ngoc Vu, Anime wie die Monogatari-Serie oder Madoka Magicka Vorbild. Ähnliche Einflüsse zeigen sich im Soundtrack, der vom Anime-Komponisten Kevin Penkin geschrieben wurde. Und wer fließend Englisch spricht, sollte Necrobarista im O-Ton genießen. Route 59 ist ein australisches Team und lässt ihre Charaktere im landestypischen Slang sprechen.
Necrobarista schmeißt etablierte Bestandteile des Visual-Novel-Genre beidhändig aus dem Fenster, etwa Rätsel oder verschiedene Dialogoptionen. Spieler*innen müssen lediglich via Knopfdruck Textboxen weiterscrollen - quasi das spielgewordene Äquivalent zum Seiten umblättern. Zwischen Kapiteln bietet Necrobarista an, das Terminal zu erkunden. Während dieser Abschnitte können Spieler*innen zusätzliches Hintergrundwissen über die Gäste des Cafés freischalten. Auf der Gameplay-Ebene ist wenig Missverständliches, wenig Überforderndes, weswegen Necrobarista gerade für unerfahrene Spieler*innen attraktiv ist.
Die einzige Schwäche Necrobaristas ist gravierend genug, das gesamte Spiel herunterzuziehen: Streckenweise wirkt es unfertig, vor allem je weiter die Handlung voranschreitet.
Die Eröffnungssequenz, im Stil eines Anime-Intros gehalten, zeigt einen Charakter, der nicht im Spiel vorkommt. Nebencharaktere verlassen die Bühne schneller, als sie sie betreten. Noch schwerer wiegt die löchrige Geschichte. Necrobarista vergisst, Spieler*innen grundlegende Informationen mitzuteilen. Wie Maddy ihren Weg ins Terminal gefunden hat oder warum Chay seit fast zwei Jahrhunderten lebt, wird nie explizit formuliert. Selbst die Hintergründe für den Klimax der Handlung spricht Necrobarista nur sporadisch an.
Route 59 kündigte vor kurzem kostenfreie Updates an. Sie sollen den noch unbekannten Charakter hinzufügen und die Geschichte um zusätzliche Kapitel erweitern. Bis dahin wirkt Necrobarista aber in seinen schwächsten Momenten wie das erste Projekt eines zerstreuten Dr. Frankensteins: Eine lose Kombination von Einzelteilen, die irgendwie zusammenhält und stetig droht, auseinanderzufallen. Mehr Entwicklungszeit hätte vielleicht geholfen, diese Wogen zu glätten. Denn unter ihnen liegt ein bildschönes Spiel, das alles, wofür es sich Zeit nimmt, mit Bravour serviert.