Eric Hegmann

Chefredakteur, Paarberater, Hamburg

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Schluss mit der Angst

Nie war es so leicht wie heute, einen neuen Partner kennenzulernen. Und trotzdem erscheint es vielen Menschen schwerer denn je, die Liebe zu finden. Rein rechnerisch muss man sich fragen: Knapp 17 Millionen Singles in Deutschland - die müssten sich doch gegenseitig finden können, oder nicht?


Immer wieder werden Studien über die vielen Joghurt-Becher im Kühlregal zitiert, wenn es um Entscheidungsschwäche geht: Zu viel Auswahl verhindert demnach die Wahl. Viele Singles fühlen sich wie ein Joghurt-Becher: Sie werden aus dem Regal genommen, gemustert, bewertet, vielleicht sogar aufgerissen und probiert - und zurück ins Regal gestellt, weil der Käufer sich unsicher ist, die richtige Wahl getroffen zu haben und lieber noch weiter nach Alternativen umschauen möchte. Und dann stehen da viele Becher mit Gebrauchsspuren und haben Angst, dass sie nun gar niemand mehr haben will.


Nun ist ein Partner kein Joghurt und eine Beziehung befriedigt ganz andere Bedürfnisse, deshalb ist der Transfer solcher Studienergebnisse schwierig. Zunächst sind 100 Sorten Joghurt ein Luxusproblem, das 90 Prozent der Bevölkerung dieses Planeten gerne hätten. Aber vor allem geht es bei der Wahl des Joghurts um eine Frage des Geschmacks und der Vorliebe, nicht um etwas Essentielles oder gar Existenzielles wie die Liebe.


  Das Bindungsverhalten steuert die Partnerwahl und die Partnersuche


Bei der Partnersuche geht es nämlich um das tiefe Bedürfnis nach Bindung zu anderen Menschen - und damit sind wir beim Bindungsverhalten. Das Bindungssystem ist eine durchaus existenzielle Prägung, die unser ganzes Leben beeinflusst. Kein Baby ist überlebensfähig ohne eine Bezugsperson - und die kann es sich nicht einmal aussuchen. Nicht jedes Elternteil ist so fürsorglich, wie es gut für das Baby wäre und immer, wenn dieses hilflose Wesen erfährt, dass seine Bedürfnisse nicht erfüllt werden, führt es einen kleinen Überlebenskampf.


Dieser Kampf wurde von dem Forscher John Bowlby ganz genau beobachtet. Wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, schreien manche Babys und machen auf sich aufmerksam, andere wiederum verstummen und ziehen sich in sich selbst zurück - während wieder andere ungerührt weiterspielen. Dieses Phänomen hat Bowlby in seiner Bindungstheorie festgehalten. Später wurde deutlich, dass sich Erwachsene sich in ihrem Wunsch nach Bindung genauso verhalten, wie sie als Babys geprägt wurden: sicher, ängstlich oder vermeidend.


Als die Bindungstheorie entwickelt wurde, führten Menschen zwei bis drei Beziehungen im Leben: die erste, prägendste mit den Eltern, dann mit dem Partner, dann vielleicht mit den Kindern, vielleicht auch einmal mit einem neuen Partner. Heute haben wir lange Single-Phasen zwischen unseren Beziehungen, in denen wir aber auch kleine Beziehungen eingehen. Alle diese Beziehungen enden mit Trennungen und jede Trennung verletzt den Selbstwert. Und der Selbstwert ist das Zentrum des Bindungsverhaltens. Ist der Selbstwert stark, ist das Bindungsverhalten sicher, ist der Selbstwert verletzt, ist das Bindungsverhalten entweder ängstlich (also um den Partner bemüht) oder vermeidend (also nur auf sich selbst verlassend).


Je mehr Beziehungen wir führen, umso mehr Trennungen erleben wir

Menschen mit verletztem Selbstwert entwickeln Schutzstrategien, um diese Verletzungen zukünftig zu vermeiden. Diese Schutzstrategien unterscheiden sich nach ihren individuellen Glaubenssätzen. Wer überzeugt ist, nicht genug zu sein, also dass man sich Liebe verdienen muss, der wird ein ängstliches Bindungsverhalten zeigen, sich um Liebe bemühen, dem Partner immer wieder zeigen wollen, wie liebenswürdig man doch sei. Wer jedoch überzeugt ist, dass nur die Kontrolle über sich selbst, also Autonomie und Selbstbestimmung, zum Ziel führt, zeigt ein vermeidendes Bindungsverhalten.

Es stehen sich hier also Verlustangst und Bindungsangst gegenüber, aber es sind die zwei Seiten der gleichen Medaille, nämlich der verletzte Selbstwert. Es ist gut erforscht, wie sehr sich genau diese Typen gegenseitig anziehen. Denn der vermeidende Typ erhält Anerkennung durch den ängstlichen Typ. Und der ängstliche Typ kann aufgehen in seinem Bedürfnis, sich zu bemühen, da sich das Gegenüber zurückziehen wird, sobald es ihm wieder zu eng wird.


Nach meiner Beobachtung nehmen Verlustangst und Bindungsangst zu und das sind die eigentlichen Gründe für das Phänomen „beziehungsunfähig“. Je mehr Trennungen und Verletzungen Menschen erleben, umso größer ihre Furcht vor neuen schlechten Erfahrungen und umso intensiver ihre Schutzstrategien. Eine Strategie ist: „Ich will beweisen, dass ich liebenswürdig bin.“ Eine andere ist: „Ich werde nie wieder jemandem vertrauen, um nicht verletzt zu werden“ – ein typischer Satz eines Menschen, der Autonomie als Schutzstrategie verwendet.


„Beziehungsunfähig“ ist die Kapitulation vor Bindungs- und Verlustangst

Wer Bindungsangst verspürt, setzt Freiheit und Autonomie der Liebe entgegen, dabei ist echte Liebe immer frei. Denn nur wer freiwillig bleibt, liebt tatsächlich. Permanente Furcht vor Untreue, das Klammern des Partners, schmerzhafter Kampf um eine längst gescheiterte Beziehung hingegen sind Ausdruck von Verlustangst. Menschen mit Verlustangst sind überzeugt, dass Liebe jede Anstrengung wert ist – auch wenn dies Selbstaufgabe bedeutet und jahrelangen Schmerz.
Fritz Riemann zeigte in seinem Werk „Die Grundformen der Angst“ auf, dass alles menschliche Streben geprägt ist von Furcht und alle Verhaltensweisen erlernt wurden, um Angst zu vermeiden. Der Chaot fürchtet den Stillstand, der Konservative die Veränderung. Wer keine Bindung eingeht, vermeidet den Schmerz der Trennung. Wer nicht vertraut, muss Enttäuschung nicht fürchten. Wer sich nicht entscheidet für einen Partner, hat zumindest nicht die falsche Wahl getroffen.

Wir leben in einer Zeit, in der Liebesbeziehungen das wichtigste Ziel im Leben vieler Menschen geworden ist. Vor 200 Jahren galt Liebe als das größte Sicherheitsrisiko einer Ehe. Heute soll uns ausgerechnet Liebe Sicherheit geben: vor Veränderungen und vor Verletzungen. Die glückliche Beziehung und die romantische Liebe sind Eins geworden. Dabei waren das Jahrtausende lang ganz unterschiedliche Dinge. Bis zum 16. Jahrhundert gab es im Deutschen kein Wort für Eifersucht.


Der perfekte Partner muss ein Alleskönner sein

Niemals zuvor waren die Ansprüche an Partner so hoch wie heute. Wofür früher ein ganzes Dorf zuständig war, muss heute ein einziger Mensch erfüllen. Freundschaft, Liebe, Leidenschaft – ein Leben lang. Es ist kein Wunder, dass diese Entscheidung so schwerfällt. Und es ist ebenso verständlich, wie schmerzhaft jede Zurückweisung geworden ist. Jedes Beziehungsaus bedeutet, dass wir uns falsch entschieden haben, gescheitert sind. Jedes missratene Date sagt, dass wir schlecht gewählt haben, gescheitert sind. Jeder Abbruch einer Dating-Phase nach drei Monaten stellt klar, dass wir aufs falsche Pferd gesetzt haben, gescheitert sind. Und jedes Scheitern verletzt unser Selbstwertgefühl und verstärkt unsere Schutzstrategien, die wir einsetzen, um die Verletzung nicht erneut erfahren zu müssen. Je höher die Erwartung, umso tiefer der Fall, wenn diese nicht erfüllt werden.


Ich nenne diesen Effekt die „Disneyfizierung der Liebe“.

Traumwelten geben Sicherheit, wenn die Wirklichkeit Angst macht. Heute sprechen wir beim Sport oder im Café nicht mehr die Person an, die uns interessiert, sondern wir suchen ihr Profil in den sozialen Medien und kontaktieren sie dort. Wir telefonieren nicht mehr, wir chatten lieber. Wir richten es uns ein in unseren Schutzstrategien, um nur keine Verletzung, Zurückweisung oder Ablehnung erleben zu müssen.


Liebe benötigt – nicht nur, aber vor allem – zwei Dinge: Mut und Vertrauen. Dies sind auch die beiden bewährten Gegenmittel gegen Verlustangst und Bindungsangst. Denn solange man in Angst verharrt, wird sich nichts ändern. Und Veränderung kommt immer aus einem selbst heraus. Andere Menschen werden sich nur für sich selbst, aber nicht für uns verändern. Das bedeutet aber auch: die Verantwortung für die Veränderung liegt nur in uns. Natürlich kann man sein Leben lang Nähe und Bindung vermeiden, um auf gar keinen Fall erneut verletzt zu werden. Aber ist das ein erfülltes Leben?


Mutig zu sein, bedeutet aber, Rückschläge in Kauf zu nehmen. Um dies zu wagen, kann ein Weg sein, Scheitern nicht mehr zu verdammen, sondern als Chance zu erleben für eine Veränderung zum Besseren. Liebe kann heilen, aber die Liebe zu einem anderen Menschen kann uns keine Sicherheit geben. Sicherheit finden wir nur in uns selbst. Die Liebe zu uns selbst stärkt unseren Selbstwert. Sie macht uns aus – wenn wir es zulassen können, dass eben nicht nur die Angst uns steuert. Dann können wir frei von Verlust- oder Bindungsangst Liebe schenken und empfangen.

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