In der EU lagen die Nerven blank. "Die Lage erinnert mich an 1968", sagte Ratspräsident Donald Tusk auf dem Höhepunkt der Griechenlandkrise im Juli. "Es gibt in Europa eine weit verbreitete Unzufriedenheit, die schnell in eine revolutionäre Stimmung umschlagen kann", warnte der Pole, der die EU-Gipfel vorbereitet. Sechs Wochen später schlägt Tusk wieder Alarm. Diesmal geht es nicht um Griechenland, sondern um die Flüchtlingskrise. Die Bewältigung der Zuwanderung aus dem Balkan und dem Nahen Osten habe "höchste Priorität", sagt Tusk nun. Die EU-Staaten müssten sich solidarisch zeigen und 100 000 Migranten aufnehmen. 100 000? Bei ihrem letzten Gipfeltreffen Ende Juni hatten die 28 Staats- und Regierungschefs gerade einmal 40 000 akzeptiert, auf freiwilliger Basis. Doch seither hat sich die Flüchtlingskrise weiter zugespitzt. Allein Deutschland rechnet in diesem Jahr mit 800 000 Hilfesuchenden. Einen solchen Ansturm hat das grösste EU-Land seit dem Ende des 2. Weltkriegs nicht mehr erlebt. Für faire Lastenteilung müsse System neu gestaltet werden Auch andere EU-Länder melden Rekorde. Griechenland und Italien, über die die meisten Menschen nach Europa strömen, kommen nicht mehr mit dem Zählen nach. Besonders schlimm ist die Lage in Ungarn, wo in diesem Jahr bereits mehr als 150 000 Asylanträge registriert wurden. Regierungschef Viktor Orban liess einen Grenzzaun bauen, als Nächstes will er sogar das Militär gegen die ungeliebte "Völkerwanderung" einsetzen. Mit den EU-Standards für eine menschenwürdige Asylpolitik sind die Zustände kaum zu vereinbaren. Doch der Rechtspopulist tut so, als sei das nicht sein Fehler, sondern auf die grosszügige deutsche Asylpolitik zurückzuführen. "Das Problem ist kein europäisches, es ist ein deutsches Problem. Alle wollen nach Deutschland", sagte er bei einem Blitzbesuch in Brüssel. In der Tat: Vor allem Syrer zieht es ins neue gelobte Land, nachdem Kanzlerin Angela Merkel angekündigt hatte, diese nicht mehr in Nachbarländer abzuschieben. Doch Deutschland ist nicht länger bereit, allein Hilfe zu leisten. "Ganz Europa ist entsprechend der Wirtschaftskraft und Grösse des jeweiligen Landes gefordert", sagt Merkel. Für eine "faire Lastenteilung" müsse das "gesamte System neu gestaltet" werden. Anders als bei der Griechenlandkrise wird sich das nicht mit einem deutschen Veto bewerkstelligen lassen. Vielmehr muss Berlin eine Mehrheit in der EU finden. Dabei setzt Merkel auf Kommissionschef Juncker, der am kommenden Mittwoch neue, noch ehrgeizigere Ziele für eine gemeinsame Flüchtlingspolitik vorschlagen will. Statt 100 000 wie Tusk will Juncker die Umverteilung von insgesamt 160 000 Migranten fordern. Wer nicht mitzieht, soll zahlen.Doch bisher zeichnet sich keine Mehrheit für die neuen Ziele ab. Nicht nur die Vizegrad-Gruppe (Ungarn, Polen, Tschechien Slowakei) stellt sich quer. Auch die Baltischen Staaten und Grossbritannien lehnen eine verpflichtende Quote ab. Sie wollen nur freiwillig helfen - und sich "ihre" Flüchtlinge selbst aussuchen. Demgegenüber unterstützen Deutschland und Frankreich die Pläne Junckers. Auch Italien und Griechenland sind dafür. Italien hat schon vor zwei Jahren, nach der ersten grossen Bootskatastrophe mit Hunderten ertrunkenen Flüchtlingen vor Lampedusa, um Solidarität gebettelt. Damals lehnte selbst Deutschland noch jede Änderung der EU-Regeln ab. Die sogenannte Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass Asylbewerber zunächst in dem EU-Land aufgenommen werden, in dem sie ankommen. Für Deutschland war das bequem - die Mittellage in Europa schirmte es ab. Doch nun sind die Dämme gebrochen, Dublin ist Makulatur. Streng genommen, müsste sich die EU daher um eine Reform der überholten Asylregeln kümmern. Auch die Reisefreiheit im Schengen-Raum gehört auf den Prüfstand: Sie wurde nicht für eine Ausnahmesituation wie diese konzipiert. Wie bei der Griechenlandkrise hat Europa zu lange gezaudert Stattdessen ist ein Grundsatzstreit über Solidarität und Souveränität entbrannt. Dabei stehen sich nicht nur West- und Osteuropäer gegenüber - die einen verteidigen Reisefreiheit und Asylrecht, die anderen pochen auf Selbstbestimmung und sichere Grenzen. Auch die EU selbst verstrickt sich in Widersprüche. Einerseits baut sie die "Festung Europa" aus - sogar mit Kriegsschiffen vor Libyen, die Schlepper abschrecken sollen. Andererseits sah die Kommission wochenlang tatenlos zu, wie immer mehr Menschen unkontrolliert nach Mitteleuropa wanderten. Brüssel schwankt zwischen Abschottung und Solidarität, Abschreckung und Hilfe. Genau wie in der Griechenlandkrise ist die Lage durch Zögern und Zaudern immer schlimmer geworden, heute scheint sie fast unbeherrschbar. Sechs Wochen nach Tusks Warnung steht die EU vor der nächsten Zerreissprobe. Diesmal geht es allerdings nicht mehr um ein Land - sondern um alle 28.