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Die Kraft der Entspannten

Der Stress ging bei Eva Kaleja oft schon vor der Arbeit los: Meist direkt am Montagmorgen, wenn die 35-jährige Beraterin für Aus- und Weiterbildung beim Drogeriemarkt dm von Bremen aus wieder für einen Termin nach Osnabrück fahren musste. Kaum war sie auf der Autobahn, stockte der Verkehr. Erst leuchteten die Bremslichter der Autos rot vor ihr auf, dann folgte der komplette Stillstand. Nervös schossen in diesen Momenten die Gedanken durch Kalejas Kopf: „Was ist hier los? Mist, jetzt komme ich mal wieder eine Stunde zu spät zu meinem Termin und schaffe dadurch nicht mehr das, was ich mir für heute vorgenommen hatte."

Den Druck machte sich Kaleja vor allem selbst. Als Beraterin für Aus- und Weiterbildung begleitet sie seit fünf Jahren 60 dm-Märkte in ihrer Arbeitsgemeinschaft. Sie muss also selbst ihre Termine koordinieren, was nicht immer einfach ist. „Es kann schnell passieren, dass man sich mit einem zu großen Aufgabenpensum selbst versklavt", sagt die 35-Jährige. Besonders wenn der Terminkalender mal wieder extrem voll war, strapazierten unvorhersehbare Alltagssituationen ihre Nerven - bis Kaleja lernte, gelassener zu werden.

Den einen Kollegen setzt die E-Mail-Flut unter Druck, der nächste hat Probleme mit dem Chef, und wieder andere haben Angst, die gesetzten Umsatzziele nicht zu erreichen. Was Menschen belastet, ist ganz unterschiedlich. Die Folgen sind es hingegen nicht: Immer mehr fühlen sich gestresst. Und das betrifft nicht nur Arbeitnehmer, sondern bereits Studenten, wie der Report „Gesundheit Studierender" der Techniker Krankenkasse ergab: Die Hälfte der Studierenden leidet der Studie zufolge regelmäßig unter Stress, jeder Fünfte entwickelt Depressionen und Angststörungen. In Unternehmen ist die Situation nicht viel besser: 42 Prozent der Arbeitnehmer klagen über steigenden Druck, und 18 Prozent der Angestellten stoßen oft an ihre Leistungsgrenzen - zu diesen Ergebnissen kam eine Studie der Bertelsmann Stiftung.

Das Schlagwort heißt Resilienz

Um die Entwicklung zu stoppen, widmen sich inzwischen Psychologen, Ärzte und Karriereberater der Frage, wie die psychische Gesundheit von Menschen in Beruf und Studium verbessert werden kann. Das Schlagwort, das in diesem Kontext fällt, heißt Resilienz. Es meint die Fähigkeit, mit Druck und Krisen so umzugehen, dass man unbeschadet oder sogar gestärkt daraus hervorgeht. Ursprünglich stammt der Begriff aus der Werkstoffphysik und beschreibt Materialien, die wie Gummi nach einem Moment extremer Belastung wieder in ihren Ursprungszustand zurückkehren. Dann wurde in den 1970er Jahren Resilienz durch eine wegweisende Studie von Emmy Werner auch als menschliche Eigenschaft bekannt. Die Entwicklungspsychologin hat mehr als 40 Jahre lang Hunderte Kinder der Hawaii-Insel Kauai untersucht, die alle einen schwierigen Start ins Leben hatten: Ihre Eltern waren zum Teil alkoholabhängig, litten unter psychischen Erkrankungen, schlugen oder vernachlässigten ihren Nachwuchs. Trotzdem gelang es einem Drittel der Kinder, ihr Leben in geregelte Bahnen zu bringen. Diese Gruppe untersuchte Werner näher: Welche Eigenschaften oder Strategien hatten ihnen geholfen, an den widrigen Umständen nicht zu zerbrechen? Mit Fragebögen versuchte sie herauszufinden: Zeigten die Kinder Optimismus? Gab es neben den Eltern eine primäre Bezugsperson? Verfügten Sie über ein soziales Netz, das sie unterstützt? Waren diese Faktoren vorhanden, wirkten sie sich stabilisierend auf die Jungen und Mädchen aus. Und Werners Studie brachte noch eine wichtige Erkenntnis: Resilienz ist nichts Angeborenes. Sie lässt sich trainieren.

Gefühle lassen sich steuern

Nur wie? Diese Frage versuchen Forscher am Deutschen Resilienzzentrum (DRZ) an der Universität Mainz zu ergründen. „Einen wichtigen Ein uss auf die innere Belastbarkeit hat die Fähigkeit, Emotionen regulieren zu können", sagt Michèle Wessa, Professorin für Neuropsychologie am DRZ. Ihre Experimente beweisen das: Für eine Studie hat sie Probanden in einen Magnetresonanztomografen (MRT) gefahren und ihre Hirnaktivität gemessen, während sie ihnen zunächst unkommentiert Bilder von Unfällen, Schwer- verletzten und sterbenden Menschen zeigte. In einem zweiten Test bat Wessa die Probanden die Bilder so umzuinterpretieren, dass ihr Ausgang weniger negativ ist. Etwa: Gleich hilft ein Notarzt dem Verletzten. „Die Untersuchungen ergaben, dass die optimistischere Deutung hilft, die Emotionen ruhig zu halten", berichtet Wessa. „Wir können also über Bewertungen unsere Gefühle verändern. Das funktioniert sogar, wenn wir diese im Nachhinein vornehmen." Das funktioniert auch im Büroalltag: „Angenommen, ich begegne einem Kollegen auf dem Flur, und der grüßt mich nicht. Dann kann ich überlegen: Der mag mich nicht. Und prompt kochen meine Gefühle hoch", sagt Wessa. „Relativ neutral bleiben meine Emotionen dagegen, wenn ich mir einfach sage: Der hat bestimmt viel Stress. Der sieht mich nicht."

Roman P. Stiefel hat ein Umwerten der Umstände sogar aus einer schweren Krise geholfen. Der Einbruch kam unerwartet. Eigentlich ist der 43-jährige Manager einer großen Schweizer Warenhauskette jemand, dem es gut gelingt, Alltagsstress zu kompensieren: Er ist optimistisch, geht regelmäßig ins Fitnessstudio und achtet auf seine Ernährung. Sein Credo sind die berühmten Worte des römischen Dichters Juvenal: „Ein gesunder Geist lebt in einem gesunden Körper." Doch als vor einigen Jahren Stiefels damaliger Arbeitgeber in eine finanzielle Schieflage geriet, reichte all das nicht mehr, um dem Druck standzuhalten. Der Länderchef für Frankreich und die Schweiz bekam plötzlich massive Schmerzen im Nacken. „Das Schlimmste war für mich die Unklarheit", sagt Stiefel und erzählt: „Plötzlich war mein Vorgesetzter für mich nicht mehr greifbar, und im Hintergrund entschieden nun Banken und Unternehmensberater. Ich wusste nicht mehr, auf welche Absprachen ich mich noch verlassen konnte. Wie sollte ich mich jetzt positionieren? Wo standen die anderen? Das hat mir den Boden unter den Füssen weggerissen."

Resilienz wächst in schweren Zeiten

Stiefel suchte damals den Führungskräfte-Coach Jörg-Peter Schröder auf. Gemeinsam gingen sie sein berufliches Beziehungsnetz durch: Wer sind meine relevanten Bezugspersonen? Welche Chancen bietet mir die neue Situation? Was bringt mich jetzt weiter? So gewann er einen neuen, Blick auf die Umbrüche im Unternehmen. Der Manager beschloss, sich nicht länger vom Wandel überrollen zu lassen, sondern ihn mitzugestalten. „Im Rahmen der Umstrukturierung wollte ich nun einer von fünf Ländervorständen werden", erzählt Stiefel. „Dafür schrieb ich ein Papier mit meinen Ideen zur Neupositionierung des Unternehmens." So baute Stiefel Vertrauen zum neuen CEO auf und machte die Krise zu seiner Karrierechance.

Oft wächst Resilienz, wenn wir schwierige Zeiten erfolgreich meistern. Auch Stiefel ging es so. Trotzdem ließ er sich weiter vom Coach beraten. Nun ging es vor allem darum, sich selbst noch besser kennenzulernen. Denn Studien haben gezeigt: um die psychische Widerstandskraft nachhaltig zu steigern, muss man sich bewusst mit seinen Gefühlen auseinandersetzen. „Ganz viele Menschen haben damit Probleme. Sie kennen ihre eigenen Emotionen kaum", sagt Michèle Wessa vom DRZ. „Dadurch geraten sie leichter in einen negativen Kreislauf, der zu Ängsten oder Depressionen führen kann."

Schröder machte mit Stiefel zur Stärkung der Selbstwahrnehmung autogenes Training und Meditationen. „Welche Art von Achtsamkeitsübungen geeignet sind, hängt vom Typ ab", erläutert Schröder. „Wenn ein Manager sehr hippelig ist, gehen wir bewusst langsam durch die Weinberge. Hauptsache, er kommt in eine ruhige, reflektierte Haltung." Das ist die Voraussetzung für die Reise ins Ich. Auf der müssen sich Manager auch schwierigen Fragen stellen. Etwa: Was treibt mich an? Welche Bedürfnisse habe ich? Und was sind die roten Knöpfe, die andere drücken, so dass ich manchmal abgehe, wie eine Rakete? Oder: Welche Verhaltensmuster und Ängste hindern mich in einigen Situationen frei und authentisch zu handeln? „Grade für Führungskräfte ist es wichtig, sich selbst zu reflektieren, um sich selbst führen zu können. Sonst können sie auch ihre Mitarbeiter nicht gut führen", sagt Schröder.

Auch zum Chef „nein" sagen

Manager, die zu Mirriam Prieß ins Coaching gehen, hören von ihr ähnliches: „Führungskräfte müssen dialogfähig sein und damit ihre Mitarbeiter als Vorbild inspirieren", sagt die Managertrainerin und Autorin des 2015 erschienen Buchs „Resilienz. Das Geheimnis innerer Stärke". Auch Prieß sieht als Schlüssel zur Resilienz den inneren und äußeren Dialog: „Viele Menschen kämpfen gegen alles an, was sie nicht wollen, und meiden unangenehme Situationen. Dadurch verlieren sie Kraft und werden immer stressanfälliger", sagt sie. „Entscheidend ist aber, nicht gegen Ängste anzukämpfen. Je mehr Sie verdrängen, umso mehr holt es Sie früher oder später ein. Um Blockaden zu lösen, muss man sie zunächst annehmen, sich bewusst mit ihnen auseinandersetzen - dann kann man sich auch von ihnen befreien"

Das Ziel ist, auf diese Weise stets Herr der Lage zu bleiben. Egal, was passiert. Prieß nennt es Augenhöhe behalten - gegenüber den eigenen Gefühlen und Gedanken, und gegenüber den Mitmenschen. Sie ist überzeugt: Diejenigen, die sich erschöpfen, tun das meist, weil sie keine gesunden Beziehungen zu sich und zu anderen haben. Sie können sich etwa nicht selbstverständlich von ihrem Chef abgrenzen. Sie können nicht für ihre Bedürfnisse sorgen. „Ein Mitarbeiter, der dialogfähig ist, kann Störungen rechtzeitig ansprechen. Er weiß, wann er Nein zu sagen hat und wann Ja", sagt Prieß. „Er akzeptiert die Hierarchie, aber er unterwirft sich ihr nicht."

Zur Resilienz gehört, ein Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse zu entwickeln und sich auch mal abzugrenzen, bevor der Stress zu groß wird. Viele nervenaufreibende Situationen lassen sich so schon verhindern, bevor sie entstehen. Das lernte auch Eva Kaleja. Weil sie ihren Job so mag und ihn noch mindestens 20 Jahre lang ausüben möchte, überlegte sie sich eine Strategie, um dabei auch gesund zu bleiben. Um einen besseren Umgang mit dem Alltagsstress zu finden, absolvierte sie im Januar ein Seminar zur gesunden Selbstführung. „Mir ist dort bewusst geworden, dass Stress richtig krank machen kann und ansteckend ist", erzählt sie. „Wer mit anderen Menschen zusammenarbeitet, und seinen Stress nicht reguliert, kann auch den anderen Beteiligten schaden." Kaleja nahm sich vor, ab sofort besser darauf zu achten, was sie braucht und in manchen Situationen einfach gelassener zu werden. „Dinge, die ich nicht verändern kann, versuche ich jetzt als Tatsache anzunehmen und mich erst gar nicht darüber zu ärgern. Außerdem plane ich mehr Pausen ein", sagt sie. Und montagmorgens vereinbare sie inzwischen auch keine Termine mehr in Osnabrück. „Denn jetzt weiß ich: da ist die Autobahn immer voll."

Der Artikel ist zuerst erschienen in Handelsblatt Karriere

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